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Neukantianismus
Neu|kan|ti|a|nịs|mus 〈m.; -; unz.; Philos.〉 Erneuerung der Philosophie Kants Ende des 19. Jh.

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Neu|kan|ti|a|nis|mus, der; -:
(in der 2. Hälfte des 19. u. am Anfang des 20. Jh.s.) an Kant anknüpfende, gegen den Materialismus gerichtete philosophische Richtung.

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Neukantianịsmus,
 
einflussreichste philosophische Richtung in Deutschland etwa 1865-1910, anfänglich Gegenbewegung zum populärmaterialistisch geprägten Zeitgeist (u. a. G. Büchner, E. Haeckel), mit dem Hauptanliegen der Rückbesinnung auf I. Kant und dessen kritische Erkenntnistheorie als Grundlage wissenschaftlichen Philosophierens.
 
Philosophiegeschichtlich eingeleitet wurde der Neukantianismus, von dem seit etwa 1875 die Rede ist, u. a. durch die Veröffentlichungen O. Liebmanns (»Kant und die Epigonen«, 1865) und F. A. Langes (»Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart«, 1866, 2 Bände), die in der Schopenhauernachfolge einer jungen Schule von Kantianern angehörten. Deren primär erkenntniskritische Geisteshaltung ist von einem vorrangigen Interesse am Formalen bestimmt: Es geht - im Sinne Kants - v. a. um die Beantwortung der Frage nach der Reichweite des menschlichen Erkenntnisvermögens und die Möglichkeiten formal richtigen Denkens, was v. a. die Methode der Philosophie und ihren Anspruch als exakte Wissenschaft betrifft. Damit setzt sich der Neukantianismus zugleich von Positivismus und Empirismus ab, denen es mehr auf die Inhalte des Wissens ankam, weshalb die Anhänger des frühen Neukantianismus auch dem philosophischen Idealismus näher stehen.
 
Entwicklungsgeschichtlich lässt sich der Neukantianismus in drei Zeitphasen gliedern: In der Anfangsphase (bis etwa 1875) stehen v. a. Versuche im Vordergrund, sinnesphysiologische Erkenntnisse (von H. von Helmholtz und G. T. Fechner) in subjektiv-idealistische Fragestellungen einzuarbeiten. Kants theoretische Philosophie setzt hier den Maßstab der kritischen Methode, wenn es darum geht, die Bedeutung der Sinnesphysiologie für die inhaltliche Erklärung des Erfahrungsbegriffs geltend zu machen. Die zweite Phase (etwa 1875-95) ist die Zeit, in der sich die eigentlichen Schulen des Neukantianismus herausbildeten. Ihr Hauptanliegen war es, nicht nur einzelne Elemente von Kants transzendentalphilosophischen Hauptwerk (»Kritik der reinen Vernunft«, 1781, 2. veränderte Auflage 1787) neu zu rezipieren, sondern die Methode der kritischen Philosophie als Ganzes auch für die Erklärung wissenschaftstheoretischer Probleme (unter besonderer Berücksichtigung naturwissenschaftlicher Belange) zu deuten und nutzbar zu machen. Dies gilt auch für jene Richtung des Neukantianismus, die mit der transzendentalphilosophischen Begründung einer Theorie der Geisteswissenschaften befasst war. Die dritte Phase (etwa 1895-1910) zeichnet sich dadurch aus, dass die einzelnen Vertreter des Neukantianismus dazu übergingen, eigene Systeme zu entwickeln, was zur Auflösung des Neukantianismus als Schule führte. Bis dahin wurde der Neukantianismus nach außen in Gestalt der Marburger und der Heidelberger Schule repräsentiert, deren Vertreter noch heute als die bedeutenden Denker des Neukantianismus gelten: Bei der Marburger Schule mit H. Cohen, P. Natorp, E. Cassirer, N. Hartmann, K. Vorländer u. a. herrscht die Rezeption von Kants theoretischer Philosophie, v. a. die Anwendung der transzendentalen Logik (Analytik der Begriffe beziehungsweise Grundsätze) auf Fragen der Wissenschaftstheorie, der Methodenlehre der Naturwissenschaften und der Mathematik, vor. Ausgangspunkt ist hier das mathematisch exakte Erkenntnisideal Kants, allerdings bei weitgehender Aufgabe von anschaulichen Erkenntnisinhalten und metaphysischen Fragen. Der Umfang der Philosophie wird fast gänzlich auf den Bereich der Erkenntnistheorie eingeschränkt. Selbst bei ethischen und ästhetischen Fragen (Cohen, »Ethik des reinen Willens«, 1902) scheinen Form und Funktion des Denkens den spezifisch moralphilosophischen Gehalt zu verdrängen und die Ethik zur »Logik der Geisteswissenschaften« umzubilden.
 
Die Heidelberger Schule (Südwestdeutsche Schule, Badische Schule) mit W. Windelband, H. Rickert, E. Lask, B. Bauch, J. Cohn, R. Kroner u. a. widmete sich v. a. den eher individualistisch, lebensphilosophisch wie kulturhistorisch eingestellten Geisteswissenschaften, wobei es ihr - auf dem Boden des kantischen Kritizismus - im engeren Sinn um Fragen der »Wertphilosophie« ging: Im Mittelpunkt steht das philosophische Anliegen, die gestaltende Kraft ideeller Werte anzuerkennen, und zwar in ihrer lebensbestimmenden Bedeutung für das Individuum wie für die Gesellschaft.
 
Literatur:
 
H.-L. Ollig: Der N. (1979);
 
Erkenntnistheorie u. Logik im N., hg. v. W. Flach u. a. (1980);
 R. Heinz: Psychoanalyse u. Kantianismus (1981);
 
N. Texte der Marburger u. Südwestdt. Schule, ihrer Vorläufer u. Kritiker, hg. v. H.-L. Ollig (1982);
 
Materialien zur N.-Diskussion, hg. v. H.-L. Ollig: (1987);
 E. Cassirer: Symbol, Technik, Sprache. Aufs. aus den Jahren 1927-1933 (1985);
 K. C. Köhnke: Entstehung u. Aufstieg des N. (1986);
 H.-D. Häusser: Transzendentale Reflexion u. Erkenntnisgegenstand (1989);
 
N. Kulturtheorie, Pädagogik u. Philosophie, hg. v. J. Oelkers u. a. (1989);
 
N. Perspektiven u. Probleme, hg. v. E. Orth u. a. (1994).

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Neu|kan|ti|a|nis|mus, der; -: (in der 2. Hälfte des 19. u. am Anfang des 20. Jh.s.) an Kant anknüpfende, gegen den Materialismus gerichtete philosophische Richtung.

Universal-Lexikon. 2012.