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Geschichtsphilosophie
Ge|schịchts|phi|lo|so|phie 〈f. 19deutende u. wertende Betrachtung der Geschichte, Lehre vom Sinn der Geschichte

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Ge|schịchts|phi|lo|so|phie, die:
philosophische Deutung der Geschichte (1) auf ihren Sinn hin.

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Geschichtsphilosophie,
 
der Teil der Philosophie, der es mit den »allgemeinen Gesetzlichkeiten« und dem »Sinn der Geschichte« sowie mit der logischen Eigenart des geschichtswissenschaftlichen Denkens zu tun hat. Der Begriff »Geschichtsphilosophie« wurde von Voltaire eingeführt.
 
 Christentum
 
Das Christentum der ersten Jahrhunderte bis zu Konstantin dem Großen fand im Glauben an Jesus Christus (als die »Mitte der Geschichte«) und in der Vorbereitung auf seine baldige Wiederkehr (Parusie) den Sinn der Geschichte und konnte damit auf deren immanente Sinndeutung verzichten (Heilsgeschichte). Augustinus begreift in seinem Hauptwerk (»De civitate Dei«, 413-426) die Geschichte als die Spannung zwischen dem göttlichen (»civitas coelestis«) und dem widergöttlichen »Staat« (»civitas diaboli«), ausgetragen in den geschichtlichen Strukturen der Welt. Im Jüngsten Gericht nach dem Ende des Römischen Reichs als des letzten der vom Propheten Daniel geschauten vier Weltreiche werde Gott die Geschichte vollenden und die »civitas Dei«, seinen »Staat«, endgültig aufrichten. Die römisch-deutschen Kaiser (Karolinger, Ottonen, Salier) verstanden ihr Reich als »Sacrum Imperium«; dies drückte den Anspruch aus, das Gottesreich im Diesseits zu vertreten. Seit Gregor VII. forderten die Päpste für sich die Repräsentanz der Civitas Dei. Der Investiturstreit beeinflusste die christliche Geschichtsphilosophie nicht nur in der Zweischwerterlehre, sondern auch in den Werken des Rupert von Deutz, Hugo von Sankt Victor, der Hildegard von Bingen und des Otto von Freising. Die Annahme einer stufenförmigen Entwicklung in der christlichen Geschichtsphilosophie fand noch einmal einen Höhepunkt in den Ideen des Joachim von Fiore von der Aufeinanderfolge eines petrinischen, paulinischen und johanneischen Reiches auf der Erde.
 
 Renaissance und Reformation
 
Die ersten wesentlichen Grundlagen für eine Geschichtsphilosophie brachten die Vorstellungen Wilhelms von Ockham und des Nominalismus. Die Trennung von Glauben und Wissen wirkte sich in der Geschichtsphilosophie der Renaissance und des Humanismus aus; für sie war die Geschichte ein ununterbrochener Prozess von Ursachen und Wirkungen. Für die Reformatoren diente die Weltgeschichte zur Entfaltung des Gottesreichs, bei der der Christ mitzuwirken habe. Daraus ergab sich für den Kalvinismus die Universalität und Toleranz seines Geschichtsbilds, sein Verständnis für individuelle Besonderheiten und in ihrer Folge ein besonders in den USA wirksamer Glaube an die Veränderlichkeit der Welt und die Fähigkeit des Menschen, die Geschichte zu korrigieren. Auch M. Luther sah in der Geschichte Gottes Werk. Der Mensch sei zu begrenzt in seinen Fähigkeiten, um im Ablauf der Geschichte Gottes Willen, seine Gesetze oder etwa sein zukünftiges Handeln erkennen zu können.
 
 Aufklärung und Idealismus
 
Im 17./18. Jahrhundert entwarf G. B. Vico eine weltliche Geschichtsphilosophie. Er stellte eine Abfolge von Geistesepochen auf, die von allen Völkern und in allen Bereichen der Kultur gesetzmäßig durchlaufen wird. Die völlige Verweltlichung der Geschichtsphilosophie brachte die Aufklärung. Die Vernunft mache der Anlage nach das Wesen des Menschen aus und entfalte sich fortschreitend in der Gesamtgeschichte der menschlichen Gattung. Weltgeschichte wurde zum Prozess steten Fortschritts von der Dumpfheit zur vernunftgeleiteten Kultur, von der Barbarei zur Aufklärung. Diesem Aufbauschema folgten alle Geschichtsschreiber der Zeit (Voltaire, D. Hume, E. Gibbon, die Göttinger Historiker); noch I. Kants und J. G. Fichtes Geschichtsphilosophie war von ihm beherrscht.
 
Neuhumanismus und idealistische Philosophie gaben neue Antriebe. An die Stelle des Fortschrittsgedankens trat die Idee, dass aus der Schöpferkraft der Menschheit immer neue Lebensformen und Kulturen geboren werden. J. G. Herder sah das Ziel geschichtlicher Entwicklung in der Verwirklichung des Humanitätsideals, das zu immer reicherer Ausprägung menschlicher Schöpferkraft hinführe. Die idealistische Philosophie ließ diese Formen der Humanität mit innerer Notwendigkeit aufeinander folgen oder auseinander hervorgehen: der Alte Orient als die Kindheit des Menschengeschlechts oder die Morgendämmerung, die griechisch-römische Antike als seine Jugend oder sein hoher Morgen, das christliche Abendland als seine Reife oder sein Mittag. Der Höhepunkt der idealistischen Geschichtsphilosophie wird durch G. W. F. Hegel bezeichnet. Die Weltgeschichte sei »der Fortschritt des Geistes im Bewusstsein der Freiheit«; die weltgeschichtlichen Völker, die jeweils in ihrem Zeitalter ihre eigenständige Kulturwelt aufbauen, seien die Stufen, in denen sich dieser Fortschritt dialektisch vollziehe.
 
 Von Marx bis zur Gegenwart
 
Die hervorstechendste Fortführung der hegelschen Ansätze war die Lehre von K. Marx, die die Dialektik ins Materielle umwendete. Die Deutung der Geschichte als eine Geschichte von Klassenkämpfen führte Marx, nachdem er darin das eigentliche Antriebsmittel der Geschichte erkannt zu haben glaubte, zur Endzeitvision, der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft, die er aus der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats hervorgehen sah. Wie bei den idealistischen Philosophen mündet auch bei Marx die Geschichte in die Geschichtslosigkeit eines angenommenen Endzustandes der Menschheit. Mit Hegel und Marx endeten die Versuche, in einem geschlossenen philosophischen System eine umfassende Geschichts- und Seinsdeutung zu geben.
 
Im 19. Jahrhundert ist von vielen die Entwicklung der Technik und der Zivilisation zum hauptsächlichen Antrieb der geschichtlichen Bewegung und zum Maßstab des geschichtlichen Fortschritts erklärt worden. Besonders die frühere französische und englische Soziologie war in diesem Sinne immer zugleich Geschichtsphilosophie (A. Comte, H. Spencer).
 
Alle diese Richtungen erheben die Forderung, entweder für den Ablauf der einzelnen Kulturen oder für die Geschichte der Menschheit als Ganzes »Gesetze« oder wenigstens Gesetzmäßigkeiten zu finden; erst dadurch werde die Geschichtsphilosophie »zur Wissenschaft erhoben« (H. T. Buckle). Gegen diese Denkweise betonen die Historiker die Einmaligkeit und den Freiheitsgehalt der Geschichte, die eine Übertragung des naturwissenschaftlichen Gesetzbegriffes unmöglich machen. Die Geschichtsphilosophie habe ihre Aufgabe in einer philosophischen Deutung des Gesamtverlaufs der Weltgeschichte oder in einer allgemeinen Strukturlehre der geschichtlichen Welt. Probleme einer solchen Sicht behandelte J. Burckhardt in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«. Andere gingen diese Themen in der Form und unter dem Titel einer »Historik« an (J. G. Droysen). Die Kritik S. Kierkegaards und F. Nietzsches an Hegel und seiner Geschichtsauslegung führte bei beiden zu einer Besinnung auf den Menschen, der sich durch seine Individualität den gedachten Systemen entziehe.
 
Nach 1900 wurde die Geschichtsphilosophie meist als Lehre von den Formen des geschichtswissenschaftlichen Denkens betrieben (H. Rickert). W. Dilthey hat dieses Vorhaben zu einer Theorie der Geisteswissenschaften überhaupt erweitert. Dabei verfolgte er den gedanklichen und den geistesgeschichtlichen Prozess, in dem sich der »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften« vollzogen habe und dauernd vollziehe. M. Weber gilt als erster Universalhistoriker, der eine scharfe Trennung von objektiver wissenschaftlicher Forschung und nur beschränkt gültigen persönlichen Ansichten konsequent durchführte und die Unzulänglichkeit jeder Dogmatisierung erkannte.
 
Kulturgeschichtliche Aspekte der Geschichtsphilosophie stellten u. a. E. Troeltsch, K. Breysig, K. Lamprecht in den Vordergrund. Die Einheitsformeln der früheren Systeme, z. B. die Fortschrittsidee, wurden verworfen und die Weltgeschichte als Wirkungszusammenhang aufgefasst, der sich aus einer Mehrzahl selbstständig erwachsender Kulturen zusammensetzt. Neuere geschichtliche Forschungen, besonders die vollständigere Aufdeckung der alten Kulturen, aber auch die veränderte Weltlage haben dazu geführt, die wesentlich vom abendländischen Standpunkt aus gesehene Geschichtsauffassung aufzugeben und an ihrer Stelle ein »pluralistisches« Geschichtsbild zu entwickeln. Ein profilierter Vertreter dieser Geschichtsphilosophie ist O. Spengler. Als das wichtigste Problem erhebt sich daraus die Frage, welche Abhängigkeiten, Querverbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen den Einzelkulturen aufweisbar sind und wieweit dennoch von einer Einheit der Weltgeschichte gesprochen werden kann (A. J. Toynbee, H. Freyer u. a.). Die gegenwärtige Geschichtsphilosophie ist, im Unterschied zu den »klassischen Systemen«, auf eine enge Verbindung mit der Geschichtswissenschaft angewiesen und damit selbst zu einer empirischen Forschungsaufgabe geworden. Gegenwärtig wird immer wieder von einer Posthistoire, einer nachhistorischen Zeit gesprochen. Der Konsens, dass es eine Geschichte gibt, und diese in die moderne okzidentale Welt mündet, besteht nicht mehr. Vieles spricht für die Erkenntnis, dass es nicht die Geschichte, sondern eine Vielfalt von Geschichten gibt. Das ist insbesondere für die Mikrohistorie grundlegend. Überdies hat die Geschichte sich als vielschichtiger erwiesen als sie Hegel, L. Ranke oder Marx erschien. In dieser Hinsicht ist Webers - aber auch F. Braudels - Frage nach dem spezifischen Charakter der okzidentalen Welt nicht überholt. Dank der Arbeiten von J. Le Goff, Braudel, E. P. Thompson und R. Koselleck ist einsehbar geworden, wie zeit- und kulturbedingt unser Begriff einer linearen, fortschreitenden Zeit ist, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Möglichkeit eines streng wissenschaftlichen Denkens, das auch Weber noch voraussetzte, überhaupt problematisiert. Für das hermeneutische Verfahren wurde von H. G. Gadamer und P. Ricoeur die Möglichkeit des Verstehens infrage gestellt. Für sie kann kein Text so verstanden werden, wie er gemeint war. Er wird immer aus der Perspektive des Lesers verstanden werden. Ein Text hat keine geschlossene Bedeutung, sondern enthält tiefe Widersprüche. Darum haben R. Barthes, A. White und J. Derrida den qualitativen Unterschied zwischen Geschichte als Wissenschaft und als Fiktion infrage gestellt. Aber auch die an den empirischen und analytischen Sozialwissenschaften orientierte Geschichtsschreibung ist sich jetzt bewusst. dass ihre Vorstellungen vergangener und gegenwärtiger Gesellschaften auf Konstruktionen beruhen. Gegenwärtig gibt es kein Paradigma der Geschichtsforschung mehr wie an den Universitäten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, sondern eine Vielfalt von Forschungsstrategien. Es gibt keine Historik (wie die von Droysen und Dilthey konzipierten), die Prinzipien der wissenschaftlichen Forschung für unsere Zeit verbindlich artikuliert. Das Subjekt in der Geschichtsschreibung tritt wieder stärker hervor, und Historiker haben begonnen, die Menschen nicht nur innerhalb sozialer, kultureller und sprachlicher Strukturen zu sehen, die menschliche Verhaltensweisen bestimmen, sondern auch die Frage zu stellen, wie Menschen an der Formierung und dem Wandel dieser Strukturen mitgewirkt haben.
 
Literatur:
 
W. Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Krit. Unters. zum Ursprung u. zum futurist. Denken der Neuzeit (1969);
 A. Schaff: Gesch. u. Wahrheit (a. d. Poln., Wien 1970);
 H. M. Baumgartner: Kontinuität u. Gesch. Zur Kritik u. Metakritik der histor. Vernunft (1972);
 W. Stegmüller: Probleme u. Resultate der Wissenschaftstheorie u. analyt. Philosophie, Bd. 1 (21983);
 K. Löwith: Weltgesch. u. Heilsgeschehen. Die theolog. Voraussetzungen der G. (a. d. Engl., 81990);
 R. Schaeffler: Einführung in die G. (41991);
 G. G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jh. Ein krit. Überblick im internat. Vergleich (21996).

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Ge|schịchts|phi|lo|so|phie, die: philosophische Deutung der ↑Geschichte (1) auf ihren Sinn hin.

Universal-Lexikon. 2012.