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Dreyfusaffäre
I
Dreyfusaffäre
 
Als 1892 die Hintergründe des Bankrotts der Panamakanal-Gesellschaft aufgedeckt wurden, geriet in Frankreich die Regierung der Dritten Republik in eine schwere Krise, in der nationalistische und antisemitische Kreise im Lande verstärkt Zulauf fanden. Die Dreyfusaffäre spaltete die französische Gesellschaft.
 
Ende September 1894 wurde der Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, von Geburt Elsässer und jüdischer Abstammung, wegen angeblichen Landesverrats vor ein Kriegsgericht gestellt. Der Prozess löste eine Welle des Antisemitismus aus. In dem Vergehen des Offiziers, der militärische Informationen an die deutsche Botschaft verraten haben sollte, sah man den Beweis für eine Verschwörung des Judentums gegen die nationalen Interessen Frankreichs. Dreyfus wurde zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt, degradiert und aus der Armee ausgestoßen.
 
Obwohl im Sommer 1896 der französische Geheimdienst einwandfrei aufzeigen konnte, dass nicht Dreyfus, sondern ein Major Esterházy mit der deutschen Botschaft Verbindung gehabt hatte, verhinderte der französische Generalstab eine Revision des Urteils oder zumindest eine Neuansetzung des Prozesses, die zur Freisprechung Dreyfus' hätte führen müssen. Man stellte das Ansehen der Armee über das Schicksal eines einzelnen, noch dazu jüdischen Offiziers. Neue Fälschungen sollten die Schuld Dreyfus' erhärten, Esterházy wurde freigesprochen.
 
Zwei Tage nach diesem Urteil erschien in der Zeitung »L'Aurore« am 13. Januar 1898 ein offener Brief des Schriftstellers Emile Zola, »J'accuse« (»Ich klage an«). Er deckte die Hintergründe des Dreyfusprozesses auf und spaltete so die Nation in zwei sich bekämpfende Lager, die Nationalisten und die »Dreyfusards«. Es kam zu Demonstrationen und Straßenschlachten. Als weitere Einzelheiten über die Dokumentenfälschungen bekannt wurden, konnte die Regierung der Revision des Verfahrens nicht mehr ausweichen. Aber erneut verweigerte das Kriegsgericht in einem Verfahren im Sommer 1899 Dreyfus den Freispruch, verurteilte es ihn vielmehr »angesichts mildernder Umstände« zu zehn Jahren Festungshaft. Dreyfus wurde jedoch kurz danach durch den Präsidenten der Republik begnadigt. Erst 1906 hob ein Kassationshof das Urteil endgültig auf, und Dreyfus wurde voll rehabilitiert. Im Zuge der Affäre formierten sich Parteien, die das alte Honoratiorensystem ersetzten, sowie ein Block der Sozialisten, der die bisherige republikanische Mehrheit ablöste.
II
Dreyfus|affäre
 
[französisch drɛ'fys-], die tief greifende innenpolitische Erschütterung in Frankreich, die aus dem militärgerichtlichen Verfahren gegen den französischen Artilleriehauptmann jüdischer Abstammung Alfred Dreyfus (* 1859, ✝ 1935) im letzten Jahrzehnt des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand.
 
Dreyfus wurde im Dezember 1894 von einem Militärgericht in einem regelwidrigen Verfahren des Landesverrats zugunsten des Deutschen Reiches für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel (bei Cayenne, Französisch-Guayana) verurteilt. Das wichtigste Beweismittel der Anklage war ein angeblich von Dreyfus, tatsächlich von dem Major Marie Charles Ferdinand Walsin Esterházy (* 1847, ✝ 1923) stammender Brief mit einer Liste (»bordereau«), der im Papierkorb des deutschen Militärattachés in Paris gefunden worden war und der die Übergabe geheimer Papiere ankündigte. Die Hintergründe des Prozesses sind u. a. in starken antisemitischen Strömungen zu sehen.
 
Die ersten Zweifel an der Schuld Dreyfus' wurden vom Generalstab unterdrückt, der aus Prestigegründen die Revision des Prozesses zu verhindern suchte; jedoch wurde die Revision schließlich durch die erregte öffentliche Meinung erzwungen, die auf die Enthüllungen des elsässischen Senators Auguste Scheurer-Kestner (* 1833, ✝ 1899) und É. Zolas (mit dem offenen Brief J'accuse an den Präsidenten der Republik, veröffentlicht in G. B. Clemenceaus Zeitung »L'Aurore«) zurückging (Gründung der Liga für Menschenrechte). Als ein neues, Dreyfus belastendes Schriftstück sich als Fälschung erwies, hob der Kassationshof das Urteil auf. Die Revisionsverhandlung vor dem Kriegsgericht in Rennes endete mit erneuter Verurteilung, freilich unter Zubilligung »mildernder Umstände«, zu 10 Jahren Gefängnis (9. 9. 1899. Um den Prozess zu beenden, wurde Dreyfus vom Präsidenten der Republik, E. Loubet, begnadigt. Die uneingeschränkte Rehabilitierung erreichte Dreyfus im Juli 1906, als der Kassationshof das Urteil von Rennes aufhob. Dreyfus wurde zum Major befördert und mit dem Orden der Ehrenlegion ausgezeichnet. Die französische Armee erkannte seine vollständige Unschuld erst 1995 an.
 
Seit die Beweise gegen Dreyfus sich als konstruiert und gefälscht herausstellten, wurde die Dreyfusaffäre immer mehr zur politischen Streitfrage zwischen der militaristischen und traditionalistischen Rechten, die sich, klerikal, antisemitisch und zunehmend nationalistisch eingestellt, u. a. in P. Déroulèdes »Ligue des patriotes« und in der Action française organisierte, und der antimilitaristisch und laizistisch orientierten republikanisch-demokratischen Linken. Die schwere Staatskrise endete unter der Ministerpräsidentschaft von P. Waldeck-Rousseau mit dem Sieg des »Bloc républicain« der Linken (Radikale und Sozialisten) und führte in den Jahren 1899-1909 zur Trennung von Staat und Kirche in Frankreich.
 
Literatur:
 
S. Thalheimer: Macht u. Gerechtigkeit. Ein Beitr. zur Gesch. des Falles Dreyfus (1958);
 M. Thomas: L'affaire sans Dreyfus (Paris 1961);
 
Dreyfusards. Souvenirs de Mathieu Dreyfus, hg. v. R. Gautier (ebd. 1965);
 L. Lipschutz: Essai de bibliographie thématique et analytique de l'affaire Dreyfus (ebd. 1970);
 P. Miquel: L'affaire Dreyfus (ebd. 61979);
 J.-Dreyfusaffäre Bredin: L'affaire (Neuausg. ebd. 1993);
 
La France de l'affaire Dreyfus, hg. v. P. Birnbaum (ebd. 1994).

Universal-Lexikon. 2012.