die katholisch-theologische Reflexion der gesellschaftlichen Normen und Strukturen. Ziel der katholischen Soziallehre ist es, ausgehend von der christlichen Anthropologie, Orientierungs- und Handlungsnormen für die Gestaltung von Welt und Gesellschaft als menschliche Gemeinschaft vorzugeben. Grundlegend für die katholische Soziallehre ist die Verpflichtung auf die naturrechtlichen Prinzipien der Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Das Personalitätsprinzip sieht den Menschen, begründet in seiner Gottebenbildlichkeit und Gleichheit (1. Mose 1, 27; Römerbrief 10, 12), als Träger einer von Gott verliehenen Individualität (»Person«), deren Würde unantastbar ist. Er bildet die Mitte und das Ziel der gesellschaftlichen Ordnungen und ist daraufhin angelegt, sich in freiem, vor Gott verantwortetem Handeln zu seinem und zum Wohl der Gemeinschaft zu entfalten. Die beiden daraus abgeleiteten Prinzipien beschreiben die Pflicht des Menschen zum umfassenden Füreinandereinstehen (Solidaritätsprinzip) und zur Eigenverantwortlichkeit für sich und die ihm im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen Zugeordneten (z. B. Familie; Arbeitnehmer), soweit diese in seinem Vermögen liegt (Subsidiaritätsprinzip), wobei die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, die Sozialpflichtigkeit allen Eigentums (insbesondere des Produktiveigentums) und der Rechtsanspruch eines jeden Menschen auf ein für ihn und seine Familie hinreichendes Eigentum bindend sind. Umstritten ist, inwieweit die katholische Soziallehre gesellschaftliche Strukturen verändern oder bewahren soll.
Die katholische Soziallehre hat sich im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umbrüche und Konflikte im Kontext von Industrialisierung, sozialer Frage und Arbeiterbewegung entwickelt. Der Mainzer Bischof W. E. von Ketteler verband den Appell an die individuelle Gesinnungsethik mit Vorschlägen für eine sozialpolitische Reform. A. Kolping sah in Gesellenvereinen und einer berufsständischen Ordnung ein geeignetes Mittel der Selbsthilfe. Die Amtskirche machte sich diese Auffassungen nach längerem Zögern in mehreren päpstlichen Sozialenzykliken zu Eigen, die sich mit der Arbeiterfrage (»Rerum novarum«, 1891), den sozialen Verhältnissen (»Quadragesimo anno«, 1931; »Mater et magistra«, 1961) und der Entwicklung der Völker (»Populorum progressio«; 1967) befassten. Wegweisend war die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils »Gaudium et spes«. Papst Johannes Paul II. veröffentlichte bisher drei Sozialenzykliken: »Laborem exercens« anlässlich des 90-jährigen Jubiläums der Enzyklika »Rerum novarum« (1981), »Sollicitudo rei socialis« (Die soziale Sorge der Kirche; 1987) und »Centesimus annus« (Das hundertste Jahr. Über die katholische Soziallehre; 1991).
In Deutschland wurde die katholische Soziallehre über Jahrzehnte durch die wissenschaftlichen Arbeiten O. von Nell-Breunings geprägt. Vor dem Hintergrund des wirtschaftlichen Strukturwandels, wachsender Arbeitslosigkeit, der Abnahme traditioneller sozialer Bindungen und damit verbunden einer befürchteten zunehmenden Entsolidarisierung weiter Teile der Gesellschaft rückten in den 1990er-Jahren die Themen Zukunft der Arbeitsgesellschaft, Perspektiven wirtschaftlicher Erneuerung, ökologische Verantwortung, Mitverantwortung für die weltwirtschaftliche Entwicklung, Reform und Konsolidierung des Sozialstaates, Stärkung von Ehe und Familie und Armut und Verarmung in der Wohlstandsgesellschaft ins Zentrum der Diskussion in Deutschland. Sie bilden auch die Ausgangsbasis des gemeinsamen kirchlichen »Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland«, den die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der EKD im Februar 1997 vorlegten.
W. Dreier: Sozialethik (1983);
Texte zur k. S., hg. vom Bundesverband der kath. Arbeitnehmer-Bewegung Dtl.s (61985);
J. A. Stüttler: Adolph Kolping u. »Rerum novarum«. Kolpings Wirken u. Werk u. 100 Jahre kirchl. Sozialbotschaft im Vergleich (1991);
W. Ockenfels: Kleine k. S. Eine Einf. (41992).
Universal-Lexikon. 2012.