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Arbeiterbewegung
Ạr|bei|ter|be|we|gung 〈f. 20organisierter Zusammenschluss der Industriearbeiter seit etwa Ende des 19. Jh.

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Ạr|bei|ter|be|we|gung, die <o. Pl.> (Politik):
(im 19. Jh. sich entwickelnde) gegen die besitzenden Klassen u. deren politische Vertreter gerichtete, auf Verbesserung der ökonomischen, sozialen u. politischen Verhältnisse abzielende Bewegung der abhängigen Lohnarbeiter.

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I
Arbeiterbewegung,
 
seit den 1840er-Jahren Bezeichnung für die v. a. in Parteien und Gewerkschaften, aber auch in Genossenschaften und Vereinen organisierten Bestrebungen der abhängigen Lohnarbeiter, besonders der Industriearbeiterschaft, zur Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen sowie zu ihrer sozialen und politischen Emanzipation.
 
Richtete sich die Arbeiterbewegung zunächst auf die Beseitigung einzelner sozialer Missstände, so entwickelten sich schon früh Forderungen nach Umgestaltung der auf freier Nutzung des Kapitals (Kapitalismus) beruhenden Wirtschafts- und Sozialordnung v. a. in den Staaten Europas und Nordamerikas. Während die Arbeiterbewegung in den angelsächsischen Ländern mehr eine an konkreten Forderungen orientierte pragmatische Linie entwickelte, gründete sich die Arbeiterbewegung nach 1848 in den kontinentaleuropäischen Staaten in starkem Maße auf ideologisch-weltanschaulich bestimmte Programme (v. a. den Sozialismus, seit Ende des 19. Jahrhunderts ideologisch geleitet im Widerstreit von Marxismus und Revisionismus, politisch getragen besonders von der Sozialdemokratie und später der kommunistischen Bewegung; aber auch den Syndikalismus, in enger Verbindung mit dem Anarchismus: Anarchosyndikalismus); auch die christliche Soziallehre und die Gewerkschaften erlangten starken Einfluss.
 
Geschichte:
 
Der wachsende Verelendungsprozess (»Pauperismus«; über die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängigen Lohnarbeiter um 1850(Arbeiter) der im Zuge der industriellen Revolution in Industrie und Gewerbe entstehenden Industriearbeiterschaft und die damit verbundene Verschärfung der sozialen Spannungen führten seit Beginn des 19. Jahrhunderts zu Protestaktionen, v. a. in Großbritannien (»Maschinenstürmerei«), zu Aufständen (so die der Lyoner Seidenweber 1831, der schlesische Weber 1844) und zu Zusammenschlüssen der Arbeiter, zunächst in enger Verbindung mit dem radikalen Flügel des Liberalismus, v. a. in den angelsächsischen Ländern (Chartismus). Unter den deutschen Emigranten bildete sich während des Vormärz in London aus dem »Bund der Gerechten« um W. Weitling der Bund der Kommunisten (1847). Mit dem für ihn verfassten Kommunistischen Manifest gaben K. Marx und F. Engels 1848 der sich bildenden Arbeiterbewegung erstmals ein Ziel, zugleich ein Programm mit weit tragender Bedeutung (Kommunismus). Nach dem Scheitern der europäischen Revolution von 1848 löste sich die Arbeiterbewegung - besonders auf dem europäischen Kontinent - engültig aus der Zusammenarbeit mit den radikalliberalen Kräften. In den verschiedenen Ausprägungen wie Reformismus, Marxismus und Syndikalismus entwickelte sich die sozialistische Arbeiterbewegung fortan zur prägenden Kraft; die revolutionären Sozialisten (Marxisten) strebten danach, auf der Grundlage eines möglichst umfassenden, ideologisch fundierten Gesellschaftskonzepts und der Lehre vom »Klassenkampf« mithilfe einer starken Partei den Staatsapparat zu erobern und die Gesellschaft umzugestalten. Die soziale Lage der Arbeiter rief in der Arbeiterbewegung ein auf Revolution oder Reform gerichtetes Solidaritätsbewusstsein hervor. In den Teilen der Arbeiterbewegung, in denen der Marxismus einen formenden Einfluss gewann, entwickelte sich dieses Solidaritätsbewusstsein zu einem »Klassenbewusstsein« (Klasse). Unter dem Einfluss von Marx und Engels kam es 1864 in London zur Gründung der »Internationalen Arbeiter-Assoziation« (IAA; Erste Internationale).
 
Ab etwa 1850 entstanden weitere Wurzeln und Strömungen der Arbeiterbewegung. Zuerst in Deutschland entwickelten in der Industrie beschäftigte Handwerksgesellen eigene Selbsthilfeorganisationsformen (u. a. 1848/49 die »Arbeiterverbrüderung«); 1863 gründete F. Lassalle in Leipzig den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« (ADAV). In Eisenach entstand unter Führung von A.Bebel und W. Liebknecht 1869 die »Sozialdemokratische Arbeiterpartei« (SDAP); ADAV und SDAP vereinigten sich 1875 zur »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands« (seit 1890 SPD). Parallel dazu entwickelte sich 1868 eine deutsche Gewerkschaftsbewegung, teils auf marxistisch-sozialistischer, teils auf liberal-christlicher Basis; auf der Grundlage der besonders von H. Schulze-Delitzsch vertretenen Gedanken der Selbsthilfe entstanden 1869 in Deutschland die »Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine« (liberale Arbeiterbewegung). In Ablehnung des Klassenkampfgedankens (als unvereinbar mit der christlichen Ethik) entwickelte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine reformistisch orientierte christliche Arbeiterbewegung; abgesehen von der Schweiz und den Niederlanden zog diese v. a. katholische Arbeiter und Angestellte an sich. In Frankreich entstand sie - entgegen den Vorstellungen der katholischen Kirche über korporative Zusammenschlüsse von Unternehmern und Belegschaften - erst seit den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts unter Führung von J. Zirnheld (ab 1919 in der »Confédération Française des Travailleurs Chrétiens«, Abkürzung CFTC, organisiert). In der katholischen Arbeiterbewegung Deutschlands (analog zu den Kolpingvereinen, u. a. der interkonfessionell konzipierte, 1899/1900 gegründete »Gesamtverband christlicher Gewerkschaften Deutschlands« unter A.Stegerwald; nach 1918 im christlichen »Deutschen Gewerkschaftsbund« aufgegangen) kam es um die Frage »konfessionelle oder interkonfessionelle christliche Gewerkschaften?« zum Gewerkschaftsstreit, der erst durch die päpstliche Enzyklika »Quadragesimo anno« (1931) zugunsten der Interkonfessionalität beigelegt wurde.
 
Die deutsche Sozialdemokratie (SPD) wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Aufbau und Programmatik richtungweisend für die sozialistischen Arbeiterparteien in Österreich-Ungarn, Polen, Skandinavien (einschließlich Finnland), den Niederlanden und Belgien, sowie die führende Partei der Zweiten Internationale (1889 gegründet; bestimmte den Ersten Mai zum Kampf- und Feiertag der Arbeiterbewegung). Die sozialistischen Parteien der Zweiten Internationale wandelten sich mehrheitlich von einer proletarischen Klassenpartei in der praktischen Politik zur demokratischen Volkspartei (Kampf um das allgemeine Wahlrecht). V. a. in den romanischen Ländern Frankreich, Spanien und Italien entwickelte sich die revolutionäre Gewerkschaftsbewegung (Syndikalismus) zum Träger des Kampfes gegen die bestehende Gesellschaftsordnung (»Propaganda der Tat«: Streiks, »direkte Aktionen« wie Werksbesetzungen u. ä.). Dagegen wurde die Arbeiterbewegung in Großbritannien und den Ländern des Commonwealth (z. B. Australien, Neuseeland; Trade Unions, Labour Party, Gildensozialismus) sowie auch in den USA (A.Jackson; individualistisches Standesethos der »Knights of Labor«; »American Federation of Labor«/AFL; gegründet 1886, S. Gompers, »Congress of Industrial Organizations«/CIO; gegründet 1935; J. Lewis, ab 1955 AFL/CIO) - im Unterschied zur kontinentaleuropäischen Arbeiterbewegung durch eine stärker pragmatische sowie reformist Orientierung und damit durch einen geringen Einfluss ideologischer Theoreme auf die Arbeiterschaft und ihre Organisationen geprägt.
 
Der Erste Weltkrieg führte zur Auflösung der internationalen und nationalen Einheit der sozialistischen Arbeiterbewegung; nach 1918/20 kam es unter dem Einfluss W. I. Lenins und der Bolschewiki zu einer zum Teil strengen Teilung in Kommunisten und Sozialisten beziehungsweise Sozialdemokraten. Wo die Marxsche Lehre sich nicht etablieren konnte oder an Ausstrahlung im Verlauf des 20. Jahrhunderts einbüßte, förderte das Solidaritätsbewusstsein mehr den Gedanken der berufsständischen Interessenvertretung innerhalb der gegebenen Gesellschaftsordnung. Je stärker die Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert in den parlamentarischen Demokratien wesentliche Forderungen durchsetzen konnte, desto mehr verlor sie besonders nach 1945 ihre unmittelbare politische Brisanz; dabei wurde der Gegensatz zwischen sozialistischer beziehungsweise sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiterbewegung vom Ost-West-Konflikt geprägt und bald auch überlagert. Die kommunistischen Staaten und Parteien deuteten im gleichen Zeitraum Ursprung und Ziel der Arbeiterbewegung im Zeichen des Marxismus-Leninismus und sahen ausschließlich sich als deren Vollstrecker und Vollender. In den 1970er-Jahren entstanden mit der Auflösung der »alten« sozialen Milieus und der Herausbildung neuer sozialer Schichten neue soziale Bewegungen; die klassische Arbeiterbewegung verlor, bedingt auch durch das deutlich sinkende Gewicht der Industriearbeiterschaft innerhalb der erwerbstätigen Bevölkerung und in den Arbeiterparteien, in den 1970/80er-Jahren ihre eigentliche Existenzgrundlage. Die SPD z. B. begann sich als »soziales Bündnis« (W. Brandt; 1981) zu definieren. Ende des 20. Jahrhunderts sind Arbeiterparteien und Gewerkschaften, wegen der Erfüllung vieler Forderungen der traditionellen Arbeiterbewegung im modernen Sozialstaat, überwiegend fest in das jeweilige wirtschaftliche, soziale und politische System integriert. Das Scheitern des »Staatssozialismus« sowie der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 1989/91, die Auflösung der ehemals herrschenden kommunistischen Parteien beziehungsweise ihre Wandlung in sozialistische beziehungsweise sozialdemokratische Parteien sowie die Neugründung von Parteien leiteten eine theoretische Neuorientierung ein. Befreit von Legitimierungs- und Abgrenzungszwängen gegenüber den gescheiterten kollektivistischen Gesellschaftssystemen sind Gewerkschaften und Linksparteien angehalten, einen neuen Kampf zu führen für humane und soziale Bedingungen im sich vollziehenden umfassenden gesellschaftlichen Wandel im Übergang zum 21. Jahrhundert mit seinen unvermeidbaren neuen Strukturerzeugungen und sozialen Veränderungen, z. B. bei der aktiven Mitgestaltung des »Sozialraums Europa« oder der »Verminderung von Ungleichheit der Lebenschancen« (H. Grebing).
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Evangelische Arbeitnehmerbewegung · Genossenschaften · Gildensozialismus · Internationale · Katholische Arbeitnehmer-Bewegung · Labour Party · Menschewiki · Revolution · Trade Unions
 
Literatur:
 
W. Schieder: Anfänge der dt. A. (1963);
 D. Fricke:Die dt. A. 1896-1914(1976);
 J. Braunthal: Gesch. der Internationale, 3 Bde.(2-31978);
 W. Hofmann: Ideengesch. der sozialen Bewegung des 19. u. 20. Jh. (61979);
 W. Renzsch: Handwerker u. Lohnarbeiter in der frühen A. (1980);
 
Schweizer. A., hg. v. der Arbeitsgruppe für Gesch. der A. (Zürich 31980);
 
Europ. Arbeiterbewegungen im 19. Jh., hg. v. J. Kocka (1983);
 
Gesch. der Arbeiter u. der A. in Dtl. seit dem Ende des 18. Jh., hg. v. G. A. Ritter, auf 12 Bde. ber. (1-21985 ff.);
 W. Abendroth: Sozialgesch. der europ. A. (151986);
 W. Abendroth: Einf. in die Gesch. der A. (21988);
 
Lern- u. Arbeitsbuch dt. A., hg. v. Thomas Meyer u. a., 4 Bde. (21988);
 A. Klönne: Die dt. A. (Neuausg. 1989);
 
Der Aufstieg der dt. A., hg. v. G. A. Ritter (1990);
 
Linksparteien u. Gewerkschaften in Europa. Die Zukunft einer Partnerschaft, hg. v. H. Grebing u. Thomas Meyer (1992);
 H. Grebing: A. Sozialer Protest u. kollektive Interessenvertretung bis 1914 (31993);
 H. Grebing: Die dt. A. zw. Revolution, Reform u. Etatismus (1993);
 
Von der A. zum modernen Sozialstaat, hg. v. J. Kocka u. a. (1994);
 G. A. Ritter: Arbeiter, A. u. soziale Ideen in Dtl. (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Arbeiterbewegung: Anfänge der Arbeiterbewegung
 
Parteien: Anfänge der Arbeiterparteien
 
Gewerkschaften: Gewerkschaftsbewegungen vor 1914
 
Unternehmer: Unternehmertum im 19. Jahrhundert
 
II
Arbeiterbewegung
 
Die in der industriellen Revolution entstehende Klasse der lohnabhängigen Industriearbeiter sah sich in der Anfangsphase der gewaltige gesellschaftliche Veränderun gen verursachenden Industrialisierung völlig rechtlos den Fabrikherren und den neuen Produktionsverhältnissen ausgeliefert und in eine unmenschliche soziale Situation abgedrängt. Dennoch war die Entwicklung organisierter Interessenvertretungen der Arbeiter, die sich darum bemühen konnten, die wirtschaftliche und soziale Not abzumildern, nicht möglich, da Zusammenschlüsse von Arbeitern gesetzlich verboten waren, seit es in der Frühzeit der Industrialisierung Ausschreitungen arbeitsloser Handwerksgesellen gegen die ersten Maschinen gegeben hatte (»Maschinenstürmer«).
 
England war in der Entwicklung des Industrialisierungsprozesses den anderen europäischen Ländern um einige Jahrzehnte voraus, hier waren aber auch die krassesten Auswüchse des kapitalistischen Systems zu beobachten. Nachdem 1829 das Koalitionsverbot für Arbeiter aufgehoben worden war, entstand dort eine organisierte Arbeiterbewegung, die sich 1839 offiziell zu Wort meldete und in der People's Charter mit eigenen Vorstellungen zur Wahlrechtsreform politische Mitbestimmung verlangte. Diese Bewegung der Chartisten verlor jedoch nach 1848 ihre Massenbasis und löste sich auf.
 
Die erste Arbeiterorganisation, die sozialrevolutionäre Ziele verfolgte, war der 1847 in London von politischen Emigranten gegründete »Bund der Kommunisten«, in dessen Auftrag die deutschen Revolutionäre Karl Marx und Friedrich Engels ein Programm entwarfen, das als Kommunistisches Manifest bekannt wurde.
 
Erst nach der Jahrhundertmitte kam es im Zusammenhang mit dem erwachenden Klassenbewusstsein der Arbeiter zur Bildung von Arbeiterorganisationen unterschiedlicher Zielrichtungen. Interessenvertretungen gleicher Berufs- und Ausbildungsgruppen entstanden, Arbeiterbildungsvereine und Unterstützungskassen, aus denen sich allmählich - und noch immer durch staatliche Verbote behindert - Gewerkschaften und die ersten Arbeiterparteien entwickelten.

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Ạr|bei|ter|be|we|gung, die <o. Pl.> (Politik): (im 19. Jh. sich entwickelnde) gegen die besitzenden Klassen u. deren politische Vertreter gerichtete, auf Verbesserung der ökonomischen, sozialen u. politischen Verhältnisse abzielende Bewegung der abhängigen Lohnarbeiter: das Ursprungsland der modernen A. ist England.

Universal-Lexikon. 2012.