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Naturkatastrophen
Naturkatastrophen,
 
Sammelbezeichnung für alle extremen Naturereignisse, die nicht nur zu großen Schäden in der Natur, sondern v. a. an vom Menschen geschaffenen Bauwerken und Infrastrukturen sowie zu zahlreichen Todesopfern, Verletzten und Obdachlosen führen (»Naturkatastrophen sind Kulturkatastrophen«). Als »groß« werden solche Katastrophenereignisse gewertet, die die Selbsthilfefähigkeit der betroffenen Region übersteigen und deshalb überregionale oder internationale Hilfe erforderlich machen. Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn die Zahl der Toten in die Hunderte oder Tausende, die der Obdachlosen in die Zehn- und Hunderttausende und die Gesamtschäden in die Hunderte Mio. oder Mrd. US-$ gehen. Bei Fortsetzung der steilen Trendkurve der letzten Jahrzehnte muss schon zum Ende der 1990er-Jahre mit durchschnittlichen jährlichen Gesamtschäden von weit über 100 Mrd. US-$ gerechnet werden. Aber auch einzelne Naturkatastrophen wie das Erdbeben von Kōbe 1995 können diese Größenordnung erreichen. Weltweit wurden 1996 insgesamt rund 600 Naturkatastrophen mit einem volkswirtschaftlichen Schaden von zusammen 61 Mrd. US-$ erfasst. Im Gegensatz zu technischen Katastrophen werden Naturkatastrophen von natürlichen Extremereignissen ausgelöst; auf menschlichen Einfluss gehen z. B. Erdbebenauslösung durch Bergbau und Stauseen, Dürrekatastrophen infolge von Überweidung und Hochwasser infolge von wasserbaulichen und landwirtschaftlichen Eingriffen zurück.
 
Nach ihrer Entstehungsursache kann man folgende Arten von Naturkatastrophen unterscheiden: 1) meteorologische Naturkatastrophen, hervorgerufen durch Stürme (tropischer Wirbelsturm, Wintersturm, Tornado, Gewittersturm, Sandsturm), Niederschläge (Starkregen, Eisregen, Glatteis, Hagel, Schneesturm, Lawine), Nebel und Smog, Dürren, Hitze- oder Kältewellen, Blitzschlag, Wald-, Busch- oder Steppenbrände; 2) hydrologische Naturkatastrophen durch Überschwemmungen, Sturzfluten, Hochwasser, Grundwasseranstieg, Muren, Rückstau in Gerinnen, Eisstau in Flüssen, Gletscherwasserausbrüche (isländischer Jökullhaup), Gletschervorstöße oder Gletschereisabbrüche; 3) geologische Naturkatastrophen infolge von Erdbeben (Bodenerschütterung, Bodenverflüssigung, Verwerfung), Vulkanausbrüchen (Lavastrom, Ascheausbruch, Glutwolke, Schlammstrom, Gasausbruch, Caldera-Einsturz), Erdrutsch, Erdabsenkung oder Bergsturz; 4) astronomische Naturkatastrophen (Meteoriten- oder Kometeneinschlag); 5) biologische Naturkatastrophen durch Seuchen, Schädlingsbefall, Heuschreckenschwärme.
 
In den letzten Jahrzehnten wird eine starke Zunahme der Häufigkeit und Schwere von Naturkatastrophen beobachtet. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen, für die hauptsächlich der Mensch verantwortlich ist: die weltweite Bevölkerungszunahme (v. a. in der Dritten Welt), der mit steigendem Lebensstandard wachsende Sachwert, die Konzentration von Bevölkerung und Sachwerten in Großstadträumen, die Besiedlung und Industrialisierung stark naturgefährdeter Regionen, die Schadensanfälligkeit moderner Gesellschaften und Technologien sowie die Änderung der Umweltbedingungen. Vor allem in Ländern der Dritten Welt treten Naturkatastrophen häufiger in Erscheinung und verursachen immer größere Schäden, denn hier werden infolge des rapiden Bevölkerungswachstums zunehmend auch katastrophengefährdete Küsten- (z. B. in Bangladesh) und Berggebiete (z. B. im Himalaja und in den Anden) besiedelt; Vorsorge- und Schutzmaßnahmen - sofern es sie überhaupt gibt - können mit diesen Entwicklungen nicht Schritt halten. In den Industrieländern werden inzwischen katastrophenanfällige Standorte auch wirtschaftlich genutzt (z. B. Tourismuszentren in Florida, Kernkraftwerke und Staudämme an Erdbebenverwerfungen in Kalifornien, Offshoreplattformen in der Nordsee und im Golf von Mexiko, Besiedlung von Überschwemmungsflächen, Bebauung steiler Hänge). Hier wächst zudem die Schadensauswirkung durch wirtschaftliche Vernetzung. Verschiedene große Naturkatastrophen der letzten Jahre (z. B. Hurrikan »Andrew« in Florida 1992, Erdbeben in Kōbe 1995) zeigen, dass die von ihnen ausgehenden Schäden heute Größenordnungen von 100-1 000 Mrd. DM erreichen können. Das Eintreten derartiger Extremereignisse (»Worst-Case«-Szenarien) kann zum wirtschaftlichen Zusammenbruch ganzer Regionen und Länder führen, unter Umständen sogar weltweite Auswirkungen z. B. im Banken- und Versicherungssektor nach sich ziehen. So geraten Entwicklungsländer oft schon bei geringeren Schäden in große wirtschaftliche
 
Schwierigkeiten.
 
Für eine Zunahme von Zahl und Stärke der Naturkatastrophen selbst gibt es eine Reihe von Indizien, die allerdings wegen der großen natürlichen Schwankungsbreite nur selten statistisch gesichert sind. Eine besondere Rolle spielt die Frage, ob die vermutete deutliche Klimaänderung bereits in Witterungserscheinungen zum Ausdruck kommt und ob oder inwieweit sie vom Menschen verursacht ist. Als Folge der Erwärmung der Atmosphäre durch den zusätzlichen (anthropogenen) Treibhauseffekt können voraussichtlich in bestimmten Regionen der Erde künftig generell mehr Überschwemmungen und Sturzfluten, Hagelschläge und Unwetter, tropische Wirbelstürme und Winterstürme, Sturmfluten und Bergstürze, Hitzewellen und Dürren auftreten. Andere Regionen würden dagegen durch die Erwärmung begünstigt. Der weitere Abbau der stratosphärischen Ozonschicht (Ozonloch) wird zu erheblichen Schädigungen der Biosphäre (v. a. in hohen Breiten) führen. Als Folge des langfristigen Meeresspiegelanstiegs (seit Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 10 cm) fühlen sich zahlreiche Länder existenziell bedroht. Sie haben sich deshalb zur »Vereinigung kleiner Inselstaaten« (englisch Abkürzung AOSIS) zusammengeschlossen und fordern mit Nachdruck globale Gegenmaßnahmen.
 
Die dramatische Zunahme der Auswirkungen von Naturkatastrophen kann nur dann mit Erfolg begrenzt werden, wenn weltweit Vorsorge- und Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Dazu gehören: Vorhersage- und Warndienste (z. B. Sturm- und Überschwemmungswarnung, ständige instrumentelle Überwachung von Vulkanen), Katastrophenhilfe (z. B. Evakuierung, Suchtrupps, Notversorgung und -unterbringung, rascher Wiederaufbau), Bauvorschriften (z. B. für erdbebensichere Konstruktion) und Bauüberwachung, Landnutzungsbeschränkungen (z. B. in Überschwemmungsgebieten), Schutzbauten (z. B. Schutzräume, Deiche und Dämme, Renaturierung von Flussläufen), Aufklärung und Ausbildung der Bevölkerung, Katastrophenmanagement (z. B. nationale und internationale Koordination, Bevorratung von Hilfsgütern), Forschung (z. B. Untersuchungen zur Katastrophenanfälligkeit von Bauwerken, Infrastruktur und Gesellschaft; Hagelbekämpfung; Erdbebenvorhersage), Versicherung (vertraglicher Schutz gegen finanzielle Schäden, in bestimmten Fällen staatliche Zwangsversicherungsprogramme).
 
Besondere Hoffnung für einen verbesserten Schutz der gefährdeten Bevölkerung wird mit der Weiterentwicklung der Vorhersage- und Warnmethoden verknüpft. Tatsächlich haben sich die Möglichkeiten einer genaueren zeitlichen und örtlichen Vorhersage z. B. von tropischen Wirbelstürmen, Überschwemmungen, Vulkanausbrüchen und Heuschreckenzügen in den letzten Jahrzehnten soweit verbessert, dass geeignete Vorsorge-, Schadensverhütungs- und Evakuierungsmaßnahmen in der Regel rechtzeitig eingeleitet werden können. Jedoch gibt es nach wie vor eine Reihe von Gefahren (z. B. Erdbeben, Unwetter) und Regionen (z. B. Bangladesh), für die noch entscheidende Verbesserungen nötig sind, um die Bevölkerung effektiv schützen zu können. Auch Sachschäden lassen sich in der Regel durch rechtzeitige Warnungen erheblich verringern, wenngleich hier von verschärften Bau- und Landnutzungsvorschriften langfristig mehr Erfolg zu erwarten ist. Wegen des weltweiten Zunahmetrends, aber auch wegen der besonders großen Naturkatastrophenprobleme in der Dritten Welt hat die UNO die 1990er-Jahre zur »Internationalen Dekade für die Vorbeugung von Naturkatastrophen« (englisch International Decade for Natural Disaster Reduction, Abkürzung IDNDR) erklärt. Die Industrieländer sind aufgefordert, geeignete wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Hilfsprojekte mit Partnerländern durchzuführen und darüber hinaus die Naturkatastrophenproblematik im eigenen Land zu erforschen. Ziel ist es, das starke Anwachsen der Naturkatastrophenschäden bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts unter Kontrolle zu bekommen. So lassen sich auch Überschwemmungskatastrophen wie 1993 und 1995 an Rhein und Mosel oder wie 1997 an der Oder (mit volkswirtschaftlichen Schäden von vielen Mrd. DM) künftig nur verhindern, wenn neben den notwendigen Dammsanierungen den Flüssen wieder mehr Überflutungsfläche (Retentionsraum) gegeben wird und eine weitere Besiedelung oder Industrialisierung von bekannten Überschwemmungszonen verhindert oder nur unter strengen Auflagen zugelassen wird.
 
Literatur:
 
G. Schneider: N. (1980);
 R. Geipel: Naturrisiken. Katastrophenbewältigung im sozialen Umfeld (1992);
 D. M. Raup: Ausgestorben. Zufall oder Vorsehung? (a. d. Amerikan., 1992);
 N. Eldredge: Wendezeiten des Lebens. Katastrophen in Erdgesch. u. Evolution (a. d. Engl., 1994);
 K. Jacob: Entfesselte Gewalten. Stürme, Erdbeben u. andere N. (Basel 1995);
 H. u. G. Lamping: N. Spielt die Natur verrückt? (1995);
 E. Seibold: Entfesselte Erde. Vom Umgang mit N. (1995);
 
Weltkarte der Naturgefahren, hg. v. der Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (31998);
 
Naturkatastrophen. Das Lexikon zu ihren Ursachen und Folgen, hg. v. Meyers Lexikonredaktion in Zusammenarbeit mit der FOCUS-Magazin-Verlags-GmbH, (1999).
 
Zeitschrift: Natural hazards. An international journal of hazards research and preventation (Dordrecht 1988 ff.).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Naturkatastrophen: Bedrohung und Medienereignis
 
Naturkatastrophen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Erdrutsche
 
Naturkatastrophen: Dürre, Stürme, Hochwasser
 
Klimaänderung: Folgen und Auswirkungen
 

Universal-Lexikon. 2012.