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Relativitätstheorie: Was ist Zeit und Raum?
Relativitätstheorie: Was ist Zeit und Raum?
 
Kaum eine wissenschaftliche Theorie ruft bis heute so viel Widerspruch hervor wie Albert Einsteins Relativitätstheorie. Schließlich macht sie geradezu paradoxe Aussagen, die dem gesunden Menschenverstand völlig zuwiderlaufen: Die Zeit vergeht nicht mehr überall gleich schnell, der Raum ist gekrümmt, und wer sich schneller bewegt, altert langsamer. Auch über 90 Jahre, nachdem Einstein seine Theorie formulierte, scheinen solche Vorstellungen mit unserem normalen Weltbild kaum vereinbar.
 
 Vom Fluss der Zeit. ..
 
Was Raum und Zeit betrifft, so halten wir es für gewöhnlich immer noch mit Isaac Newton, der beide als unverrückbare Grundgrößen der Physik definierte. So schrieb er in seinem Hauptwerk, den »Philosophiae naturalis principia mathematica«, 1687: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.« Diese Definition prägte die Naturwissenschaft über zwei Jahrhunderte lang. Dabei beruht sie, genauer betrachtet, eigentlich auf einem Zirkelschluss. Denn wie könnte man das gleichförmige Fließen der absoluten Zeit anders überprüfen, als eben mit der absoluten Zeit selbst? Und wie könnte ihr Fluss in diesem Fall nicht gleichförmig erscheinen?
 
Erst Einstein wagte es, zu Anfang des 20. Jahrhunderts Newtons scheinbar so einleuchtende Vorstellung einer absoluten Zeit infrage zu stellen - und gründlich umzustürzen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegung war ein Experiment von Albert Michelson und Edward Morley, die 1887 versucht hatten, die Geschwindigkeit des Lichts zu messen. Da sich die Erde um die Sonne bewegt und auch die Sonne im Universum nicht unverrückbar fest steht, nahm man an, dass die Geschwindigkeit des Lichts von der Erde aus gesehen unterschiedlich sein muss, je nachdem, ob man sie in Richtung der Erdbahn misst, in entgegengesetzter Richtung oder senkrecht dazu. Doch zu ihrer Verblüffung stellten Michelson und Morley fest, dass die Lichtgeschwindigkeit in alle Richtungen gleich groß war.
 
Mit unseren üblichen Vorstellungen passt das nicht zusammen. Nehmen wir beispielsweise an, jemand wollte die Geschwindigkeit eines Balls messen, der in einem Zug geworfen wird. Das Ergebnis dieser Messung hängt davon ab, ob der Beobachter selbst mit dem Zug mitfährt, ruhig auf dem Bahndamm steht oder sich eventuell in entgegengesetzter Richtung von dem Zug wegbewegt. Beim Wechsel von einem »Bezugssystem« zu einem anderen, so drückt man dies in der Sprache der Physik aus, ändert sich die jeweils gemessene Geschwindigkeit. Würde man aber dasselbe Experiment mit Licht ausführen, so würde man, wie es das Michelson-Morley-Experiment nahe legte, in allen Fällen dieselbe Geschwindigkeit messen. Ein kaum zu glaubendes Ergebnis.
 
Während sich seine Zeitgenossen noch mühten, den verstörenden Befund im Rahmen der newtonschen Physik zu erklären, schlug der wenig bekannte Albert Einstein 1905 eine ebenso einfache wie radikale Lösung vor: Das Rätsel der konstanten Lichtgeschwindigkeit ließ sich dann lösen, wenn man von der scheinbar selbstverständlichen Vorstellung einer absoluten Zeit Abschied nimmt. Denn wenn sich beim Übergang von einem Bezugssystem zum anderen die Lichtgeschwindigkeit nicht ändert - wie Michelson und Morleys bewiesen hatten -, dann muss sich etwas anderes ändern: die Zeit. In seiner Arbeit »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« formulierte Einstein erstmals die Grundgedanken seiner speziellen Relativitätstheorie: Eine Zeitangabe gilt immer nur relativ zu einem bestimmten Bezugssystem, die Vorstellung einer absoluten Zeit ist eine Illusion.
 
Mit ausgeklügelten »Gedankenexperimenten« versuchte Einstein, sich selbst und seinen Zeitgenossen dies klarzumachen: Man stelle sich beispielsweise vor, man würde bei einem Gewitter zwei Blitzeinschläge beobachten. Befindet man sich genau zwischen den beiden Einschlagstellen, so erreicht einen das Licht beider Ereignisse zur selben Zeit, also würde man sagen, die Blitze schlugen gleichzeitig ein. Ein anderer Betrachter dagegen, der sich mit hoher Geschwindigkeit auf eine der beiden Einschlagsstellen zubewegte, würde das Licht dieses Blitzes früher wahrnehmen - in seinem Bezugssystem sind die Ereignisse nicht gleichzeitig. Der Unterschied ist umso größer, je schneller sich dieser Betrachter bewegt. Könnte er gar die Geschwindigkeit des Lichts erreichen, so würde ihn das Licht des zweiten Blitzes nie erreichen. Im Licht steht gewissermaßen die Zeit still.
 
Allerdings ist die Lichtgeschwindigkeit mit 299 792 Kilometern pro Sekunde so hoch, dass wir uns solcher Effekte im Alltag nie bewusst werden. Schalten wir eine Lampe ein, so scheint uns ihr Licht augenblicklich zu erreichen. Nur mit ausgetüftelten Apparaturen lässt sich nachweisen, dass auch das Licht eine begrenzte Geschwindigkeit besitzt. Entsprechend klein ist auch der Effekt der »Zeitdehnung«, den Einsteins Theorie vorhersagt. Erst im Zeitalter der Düsenjets und der Atomuhren konnte gezeigt werden, dass eine mit Überschallgeschwindigkeit bewegte Uhr und eine Uhr auf der Erde tatsächlich unterschiedlich schnell laufen.
 
 ... und der Krümmung des Raums
 
In seiner allgemeinen Relativitätstheorie, deren endgültige Formulierung von 1915 stammt, unterzog Albert Einstein auch die newtonsche Gravitationstheorie und unsere Vorstellung vom Raum einer gründlichen Revision. Galt vorher der Raum gleichsam als unveränderliche Bühne, auf der sich die verschiedenen physikalischen Kräfte entfalten, so bezog Einstein den Raum selbst in das Geschehen mit ein. Die gegenseitige Anziehung von Objekten, beispielsweise der Sonne und der Planeten, deutete Einstein als Deformation oder »Krümmung« des Raums und sagte unter anderem voraus, dass Lichtstrahlen auf ihrem Weg durch das All gebogen werden. Anlässlich einer Sonnenfinsternis 1919 konnte Arthur Eddington diese Lichtablenkung tatsächlich beobachten.
 
Heute ist Einsteins Theorie durch eine ganze Reihe eindrücklicher Beispiele bestätigt. Allerdings lässt sie sich nur in wenigen Situationen nachweisen, etwa dann, wenn annähernd Geschwindigkeiten im Bereich der Lichtgeschwindigkeit auftreten: in den modernen Teilchenbeschleunigern oder in der kosmischen Höhenstrahlung. Dort konnte man beobachten, dass Elementarteilchen, die normalerweise schnell zerfallen, aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit länger leben als im Ruhezustand. Für diese Teilchen scheint sich, von der Erde aus betrachtet, die Zeit zu dehnen. Auch eine andere Voraussage Einsteins fand mittlerweile ihre Bestätigung: Laut der Relativitätstheorie sollten zwei sich umkreisende Massen Gravitationswellen aussenden. Über 50 Jahre später konnten Joseph Taylor und Russel Hulse diesen Effekt an einem Doppelsternsystem im Sternbild Adler nachweisen. Sie erhielten dafür 1993 den Nobelpreis - ein später Triumph auch für Einstein. Die Voraussagen der Relativitätstheorie erwiesen sich dabei als so exakt, dass sie inzwischen als die am besten bestätigte Theorie gilt.
 
 Die Suche nach der »Weltformel«
 
Auch wenn Normalbürger solche Effekte nie zu spüren bekommen, ist die Relativitätstheorie doch zum unabdingbaren Rüstzeug der Elementarteilchenforscher und der Astrophysiker geworden. Die Erforschung des Allerkleinsten und des Allergrößten wäre ohne Einsteins Vorstellung vom Raum-Zeit-Kontinuum unvorstellbar. Dennoch ist das Weltbild der Physik unvollständig. Bis heute ist es nicht gelungen, die allgemeine Relativitätstheorie mit der ebenfalls in den 20er-Jahren entwickelten Quantenmechanik zu verbinden. Viele glauben, dass erst diese Synthese den Weg zu einer Art »Weltformel« ebnen würde. Eine solche »allgemeine Feldtheorie« hat auch Albert Einstein zeit seines Lebens - vergeblich - gesucht.
 
Ulrich Schnabel

Universal-Lexikon. 2012.