Akademik

Industriepolitik
In|dus|t|rie|po|li|tik, die:
die Industrie, Industrialisierung eines Landes betreffende Politik einer Regierung.

* * *

Industriepolitik,
 
die Gesamtheit aller auf Erhaltung, Gestaltung, Anpassung und Förderung der Industrie gerichteten regional- und strukturpolitischen Maßnahmen des Staates (Bund, Länder, Kommunen) beziehungsweise supranationale Organisationen. Im neueren Sprachgebrauch auch Synonym für die gesamte sektorale Strukturpolitik. In diesem Sinne umfasst Industriepolitik auch wirtschaftspolitische Maßnahmen, die den primären und tertiären Sektor betreffen. Im älteren Sprachgebrauch wurde Industriepolitik als derjenige Teilbereich der Gewerbepolitik angesehen, der sich im Unterschied zur Handwerkspolitik auf den industriellen Sektor bezieht.
 
Obwohl Industriepolitik in den meisten europäischen Ländern in der einen oder anderen Form bereits seit der Industrialisierung betrieben wurde, lässt sich nach 1945 v. a. in Frankreich und außerhalb Europas in Japan eine umfassende, systematische Industriepolitik nachweisen.
 
Bis in die 70er-Jahre verfolgte Frankreich mit der Planification eine umfassende interventionistisch ausgerichtete Industriepolitik, die in modifizierter Form bis in die Gegenwart reicht. Träger sind das Planungskommissariat (Commission national de planification) und die sektoral organisierten Modernisierungskommissionen (Commissions de modernisation), in denen öffentliche Verwaltung, Gewerkschaften und Unternehmensverbände vertreten sind. Zielsetzung der französischen Industriepolitik war ursprünglich die Beschleunigung des Wiederaufbaus, später die Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs und eines regional ausgeglichenen Wirtschaftswachstums. Als Hintergrund dieser Zielsetzung muss die Hypothese gelten, dass die französische Industriestruktur durch eine zu starke Aufsplitterung und Segmentierung gekennzeichnet sei. Diese Segmentierung verhindere Kosten senkende Skaleneffekte und habe wegen der zu geringen Finanzkraft der einzelnen Unternehmen ein zu geringes Ausmaß an Forschung und Entwicklung zur Folge. Über verschiedene (finanzielle) Anreizmaßnahmen soll im Rahmen der Industriepolitik daher die Bildung größerer Unternehmen gefördert, Invention und Innovation vorangetrieben sowie die Raumstruktur positiv beeinflusst werden.
 
Einen noch geschlosseneren Eindruck vermittelt die japanische Industriepolitik. Unter Führung des Ministry for Trade and Industry (MITI) und des Finanzministeriums werden vorrangig vier Ziele verfolgt: 1) Förderung von wachstumsträchtigen Zukunftsindustrien durch Steuervergünstigungen, staatlich koordinierte Forschungsprojekte und vorübergehenden Schutz vor ausländischer Konkurrenz; 2) Beschleunigung des Marktaustritts von Verliererindustrien durch die Gewährung von Anpassungshilfen und die Erlaubnis zur Bildung von Krisenkartellen; 3) Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie durch technologieorientierte Subventionen und eine gezielte staatliche Beschaffungspolitik; 4) Beschleunigung des Strukturwandels durch die Publikation von Szenarien, die in Zusammenarbeit von Ministerien, Wissenschaft und Industrie erstellt werden.
 
Für die unterschiedlichen Zielsetzungen der Industriepolitik (Erhaltung, Gestaltung und Anpassung) werden auch unterschiedliche Begründungen gegeben. Die erhaltende Industriepolitik wird v. a. mit Autarkiebestrebungen sowie überschießenden Reaktionen des Marktes und damit verbundenen Arbeitsplatzverlusten begründet. Die gestaltende Industriepolitik geht von der Hypothese aus, dass die privaten Unternehmen allein nicht in der Lage seien, hinreichend schnell zukunftsträchtige, d. h. wachstumsstarke Märkte zu erschließen und rechtzeitig entsprechende Strukturen aufzubauen. Als Begründung wird darauf verwiesen, dass Private zu risikoscheu seien, einen zu kurzen Planungshorizont und nicht genügend Finanzkraft hätten, um die notwendigen Investitionen durchführen zu können. Eine auf Anpassung ausgerichtete Industriepolitik verfolgt dagegen das Ziel, den durch eine veränderte Nachfrage oder durch technischen Fortschritt bedingten Strukturwandel zu erleichtern und damit zu beschleunigen. Erhaltende und gestaltende Industriepolitik bedienen sich notwendigerweise interventionistischer strukturpolitischer Instrumente (z. B. Subventionen, Steuererleichterungen, Kredithilfen im Zusammenhang mit Existenzgründungen, Industrieansiedlungen, Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, Investitionslenkung, staatliche Beteiligung an Industrieunternehmen, Exportförderung, Protektionismus). Bei der auf Anpassung ausgerichteten Industriepolitik sind daneben auch ordnungspolitische Instrumente (z. B. Sicherung und Förderung des Wettbewerbs mithilfe der Wettbewerbspolitik) denkbar. Chancen und Grenzen der Industriepolitik werden unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Expansion Japans seit den 80er-Jahren auch in den USA und in Europa diskutiert. In Deutschland wurde die industriepolitische Diskussion v. a. durch den radikalen strukturellen Wandel belebt, der sich in den neuen Ländern nach der Wende ergab. Der Zusammenbruch weiter Teile der ostdeutschen Industrie ließ den Ruf sowohl nach Erhaltung »industrieller Kerne« laut werden (erhaltende Industriepolitik) als auch nach Förderung von Zukunftsindustrien (gestaltende Industriepolitik), um so die Schaffung neuer Arbeitsplätze zu forcieren. Als Beispiele ist auf die sächsischen Projekte ATLAS (Förderprogramm zur Sanierung von als regional bedeutsam eingestuften Treuhandbetrieben; bis 1993 wurden 130 Mio. DM Fördermittel bewilligt) und ZEUS (Programm zur Förderung der Exportchancen sächsischer Unternehmen und zur Ansiedlung ausländischer Unternehmen) zu verweisen. Die Internationalisierung der Geld-, Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte (Globalisierung) führt in immer stärkerem Maße zu Effektivitäts- und Effizienzverlusten nationalstaatlicher Industriepolitik und erfordert zunehmend eine suprastaatliche Industriepolitik. Diesem Trend haben z. B. die Mitgliedstaaten der EU im Maastrichter Vertrag (v. a. Art. 130) Rechnung getragen. Im Gegensatz zu anderen Politikfeldern (v. a. Forschungs- und Technologiepolitik) bleiben die Bestimmungen zur europäischen Industriepolitik allerdings recht allgemein.
 
Kritiker sehen in den mit der Industriepolitik verbundenen Interventionen auch Nachteile und ordnungspolitische Inkonsistenzen: Nur selten vermag der Staat Gewinner- und Verliererindustrien besser zu selektieren als der Marktprozess. Zudem bestehe die Gefahr, dass unter dem Druck von Wahlen Politiker Erhaltungssubventionen gegenüber Anpassungshilfen den Vorzug geben; dies verlangsame den Strukturwandel und vermindere das Wirtschaftswachstum.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Forschungs- und Technologiepolitik · Strukturpolitik · Wachstum · Wettbewerbsfähigkeit
 
Literatur:
 
L. Kokalj u. H. Albach: I. in der Marktwirtschaft (1987);
 
Industriepolit. Strategien, hg. v. U. Jürgens u. W. Krumbein (1991);
 
Strukturpolitik in Ost u. West. Steuerungsbedarf u. ordnungspolit. Sündenfall, hg. v. H. W. Jablonowski u. R. Simons (1993);
 R. Hellmann: Europ. I. Zw. Marktwirtschaft u. Dirigismus (1994);
 F. Oberender u. F. Daumann: I. (1995).

* * *

In|dus|trie|po|li|tik, die: die Industrie, Industrialisierung eines Landes betreffende Politik einer Regierung.

Universal-Lexikon. 2012.