Ịbn Sina,
latinisiert Avicẹnna, persischer Philosoph und Arzt, * Afschana (bei Buchara) um 980, ✝ Hamadan 1037. Nach eigenem Zeugnis Autodidakt, beeinflusst durch Aristoteles, Alfarabi und Plotin (durch diesen durch einen neuplatonischen Auszug aus den Enneaden, die im Mittelalter unter dem Titel »Theologia Aristotelis« verbreitet war). Entwickelte den Aristotelismus, speziell in seiner neuplatonischen Fassung, weiter; trennte dabei die Stoff-Form-Unterscheidung von der Potenz-Akt-(Möglichkeit-Wirklichkeit-)Unterscheidung so weit, dass im Stoff (materia) der Möglichkeit nach auch seine Formen (essentiae) bereits enthalten sind. Gott (actus purus) verleiht lediglich allen diesen Formen ihre Wirklichkeit (Existenz). Die neue Unterscheidung von Essenz und Existenz (Wesen und Sein) ging durch Vermittlung seines Gegners Wilhelm von Auvergne in die lateinische Scholastik ein und wurde bei Albertus Magnus und Thomas von Aquino zu einer Grundunterscheidung. Ibn Sina vertrat die These, dass die allgemeinen Begriffe (universalia) ante rem mit Rücksicht auf den Weltplan (im Verstande Gottes), in re im Blick auf die Natur und post rem in der menschlichen Erkenntnis da sind. Diese Unterscheidung wurde für den abendländischen Universalienstreit grundlegend. - Ibn Sina stand mit seiner rationalistischen, den Naturalismus im Aristotelismus weiterführenden Philosophie oft im Gegensatz zur islamischen Orthodoxie, dabei sogar im Bunde mit orientalischer Mystik, z. B. mit den persischen Sufis und mit den »lauteren Brüdern von Basra« (10. Jahrhundert). - Die drei großen philosophischen Werke sind die seit dem 12. Jahrhundert in Teilen ins Lateinische übersetzte Enzyklopädie »Asch-Schifa« (Heilung der Seele vom Irrtum; lateinischer Titel »Sufficientia«), die mit Logik, Naturwissenschaften, mathematischen Wissenschaften, Metaphysik die gesamte »theoretische« Philosophie im Sinne des Aristoteles behandelt, das »An-nadja« (die Rettung), eine Zusammenfassung des »Asch-Schifa«, und sein reifstes Werk, die vermutlich zeitlich letzte, vierteilige (die mathematischen Wissenschaften sind durch Mystik ersetzt) Abhandlung »Al-ischarat wa at-tanbihat« (Beweise und Behauptungen). - Die größte Wirkung hatte Ibn Sina als Arzt und Mediziner. Sein in Isfahan beendetes medizinisches Handbuch »Kanun fi attibb« (Kanon der Medizin; lateinische Übersetzung von Gerhard von Cremona im 12. Jahrhundert) löste die Klostermedizin des lateinischen Westens durch wissenschaftliche Verfahren ab und war 700 Jahre lang in Lehre und Praxis bis zum Beginn moderner Medizin (an den europäischen Universitäten vom 12. bis 16. Jahrhundert, teils sogar im 17. Jahrhundert) unbestrittene Autorität.
Ausgaben: Opera philosophica (1508, Nachdruck 1961); M. Horten: Avicennas Buch der Genesung der Seele (1907, Nachdruck 1960); Livre des directives et remarques (Kitāb-al-Išārāt wa'l-Tanbīhāt), übersetzt von A.-M. Goichon (1951); Le livre de science (Dānišnāma), übersetzt von M. Achéna und anderen, 2 Bände (1955-58); Poème de la médicine (Cantica; persisch, lateinisch und französisch), herausgegeben von H. Jahier u. a. (1956); Psychologie d'Ibn Sīnā - Avicenne - d'après son œuvre As-šifā, übersetzt von J. Bakoš, 2 Bände (1956); Avicenna Latinus: Liber de philosophia prima, herausgegeben von S. van Riet, 3 Bände (1977-83).
A.-M. Goichon: La philosophie d'Avicenne et son influence en Europe médiévale (Paris 1944);
E. Bloch: Avicenna u. die aristotel. Linke (Neuausg. 1963);
G. Verbeke: Avicenna, Grundleger einer neuen Metaphysik (1983);
K. Flasch: Das philosoph. Denken im MA. (1986).
Universal-Lexikon. 2012.