Na|tu|ra|lịs|mus 〈m.; -, -lịs|men〉
I 〈unz.〉 Kunstrichtung, die eine möglichst genaue Wiedergabe der Wirklichkeit (auch des Hässlichen) anstrebt
II 〈zählb.〉 naturalist. Zug eines Kunstwerkes
[<neulat.; zu frz. naturalisme]
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Na|tu|ra|lịs|mus, der; -, …men [frz. naturalisme]:
1.
a) <o. Pl.> (bes. in Literatur u. Kunst) Wirklichkeitstreue, -nähe in der Darstellung;
b) naturalistisches Element [in einem Kunstwerk].
2. <o. Pl.> europäischer Kunststil zu Ende des 19. u. am Beginn des 20. Jh.s, der eine möglichst naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit (bes. auch des Hässlichen u. des Elends) erstrebte u. auf jegliche Stilisierung verzichtete.
3. philosophische Weltanschauung, nach der alles aus der Natur u. diese allein aus sich selbst erklärbar ist.
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Naturalịsmus
der, -,
1) bildende Kunst: die naturgetreue Darstellung des Sichtbaren. Als Ausdruck einer weltanschaulichen Haltung bezeichnet die Kunstwissenschaft - nicht immer konsequent - damit verschiedene Kunstströmungen oder Stile, wobei sie den Naturalismus oft mit dem Realismus gleichsetzt. »Naturalismen« zeigen die griechische Kunst des 4.-3. Jahrhunderts v. Chr. und die römische Kunst zur Zeit der Republik ebenso wie Malerei und Plastik des späten Mittelalters und die altniederländische Malerei, aber auch die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts, Caravaggio und die Genremalerei des 18. Jahrhunderts. Eine zentrale Rolle wurde dem Naturalismus im 19. Jahrhundert zuteil, wo ihn die bürgerliche Kunst aus ihrer »Autonomie« heraus als Gegensatz zum Idealismus begriff. G. Schadow und F. G. Waldmüller bekannten sich zum Naturalismus aus Protest gegen das Pathos des Akademieklassizismus. Doch ist damit mehr ein naturhafter Realismus gemeint, wie ihn auch um 1850 die französische Freilichtmalerei (Schule von Barbizon) vertrat.
Unter Naturalismus als Stilrichtung versteht man positivistische, von der Milieutheorie beeinflusste Tendenzen v. a. in der Malerei zwischen 1870 und 1900, die mit dem literarischen Naturalismus korrespondieren. Die Zufälligkeit des Alltäglichen wird ohne jegliche Stilisierung gegen idealisierende und heroisierende Richtungen der gründerzeitlichen Kunst eingesetzt. Die Themen aus dem sozialen Alltag, der kleinbürgerlichen Idylle und dem proletarischen Milieu wurden zum Teil in sozialkritischer Absicht unter Einbeziehung des Hässlichen und des Elends dargestellt (M. Munkácsy, M. Liebermann, F. von Uhde, L. Corinth, Käthe Kollwitz), anknüpfend an vergleichbare Bestrebungen zeitgenössischer französischer Künstler (G. Courbet, J. Bastien-Lepage).
2) europäische literarische Strömung (etwa 1870-1900), deren Ziel die möglichst naturgetreue Abbildung der empirisch fassbaren Wirklichkeit war. Die naturalistische Poetik richtete sich, bei aller Heterogenität, gleichermaßen gegen idealistische wie gesellschaftlich affirmative Literaturauffassungen (z. B. des poetischen Realismus). V. a. die Lebensumstände der sozial Schwächsten, einschließlich bis dahin tabuisierter Themen wie Prostitution und Alkoholismus, wurden mit wissenschaftlicher Präzision geschildert. Damit orientierten sich die Vertreter des Naturalismus an dem zeittypischen technisch-wissenschaftlichen Leitbild, das durch die Evolutionstheorien von C. R. Darwin und E. Haeckel sowie durch die Errungenschaften und industriellen Umsetzungen der mechanischen Physik geprägt war. Entscheidenden Einfluss hatten besonders die Arbeiten von J. S. Mill, H. Spencer, A. Comte und C. Bernard, v. a. aber die Theorien (»Philosophie de l'art«, 1865) und Literaturbetrachtungen (»Histoire de la littérature anglaise«, 4 Bände, 1863-64) von H. Taine und dessen »Dogma vom unfreien Willen«, d. h. die Determination des Menschen durch Vererbung und Umwelt. Hier liegen die Wurzeln für die von den Naturalisten geforderte naturwissenschaftliche Orientierung von Ästhetik und Poetik, wie sie bereits im ersten Manifest des Naturalismus, dem Vorwort der Brüder E. und J. de Goncourt zu ihrem Roman »Germinie Lacerteux« (1864), zum Ausdruck kam. Zum französischen Programmatiker des Naturalismus wurde É. Zola. In seiner naturalistischen Ästhetik »Le roman expérimental« (1880) definierte er Kunst als literarisch durchgeführtes Experiment auf der Grundlage einer naturwissenschaftlichen Methodik, das lückenlos die ursächlichen Zusammenhänge des determinierten menschlichen Daseins beweisen müsse. Allein Auswahl und Ordnungsprinzipien seien dem Dichter noch überlassen. Dieses Programm wurde bereits seit 1870 im »Kreis von Médan« diskutiert. Der Versuch seiner literarischen Verwirklichung war Zolas 20-teiliges Romanwerk »Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire« (1871-93). Neben Zola ist in Frankreich v. a. noch G. de Maupassant zu nennen, der sich jedoch mehr inhaltlich als formal an der naturalistischen Ästhetik orientierte. - Eine ähnliche Entwicklung vollzog sich seit etwa 1870 in Skandinavien. Im Anschluss an die Forderungen von G. Brandes nach exakter Analyse der Zeittendenzen in der Literatur entstanden die Werke der 1870/80er-Jahre von B. Bjørnson, H. Ibsen und A. Strindberg. Eine vergleichbare Wirkung ging in Russland von den Romanen F. M. Dostojewskijs und L. N. Tolstojs aus. - Der deutsche Naturalismus stand zunächst unter französischem, seit etwa 1887 auch unter skandinavischem und russischem Einfluss. Seine erste Phase (etwa 1880-86) war dabei von programmatischen Diskussionen bestimmt. Zentren waren München (M. G. Conrad, K. Alberti, K. Bleibtreu, D. von Liliencron, O. E. Hartleben) und Berlin, wo im Friedrichshagener Dichterkreis und in literarischen Zirkeln um die Brüder H. und J. Hart in zahlreichen Programmen und Manifesten ein eigenes Selbstverständnis erarbeitet wurde. Charakteristisch für den deutschen Naturalismus sind die Verbindung einer seit Ende der 1870er-Jahre geforderten literarischen Neubesinnung mit der Forderung nach politischer und nationaler Erneuerung sowie die Ablehnung der Literatur der Gründerzeit. Wichtige Zeitschriften waren die »Kritischen Waffengänge« (1882-84, 6 Hefte) der Brüder Hart und »Die Gesellschaft« (1885-1902) von Conrad in München. Wichtige Programmschriften entstanden im Berliner Verein »Durch!« u. a. von W. Bölsche (»Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie«, 1887) und von A. Holz (»Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze«, 1891), der die typischen Stil- und Darstellungstechniken des »konsequenten Naturalismus«, den Sekundenstil, entwickelte. - Die Hauptphase des Naturalismus (etwa 1886-95) ist bestimmt durch das dramatische Werk G. Hauptmanns, der die Einflüsse Zolas (Milieuschilderung, Bloßlegung der sozialen und psychischen Mechanismen), Holz' (minutiöse Beschreibungstechnik) und Ibsens (analytische Dramenstruktur, offener Schluss, genaueste Bühnenanweisungen) zu sozialen Dramen verarbeitete, wie »Vor Sonnenaufgang« (1889), »Die Weber« (1892), »Der Biberpelz« (1893). Daneben sind als Dramatiker zu nennen: J. Schlaf (»Meister Oelze«, 1892; zusammen mit A. Holz »Die Familie Selicke«, 1890), M. Halbe (»Freie Liebe«, 1890; »Jugend«, 1893), G. Hirschfeld (»Die Mütter«, 1896), Hartleben (»Rosenmontag«, 1900) und H. Sudermann (»Die Ehre«, 1889). Da die staatliche Vorzensur die Aufführung naturalistischer Dramen an öffentlichen Bühnen weitgehend unmöglich machte, wurde 1889 in Berlin der Theaterverein Freie Bühne gegründet. Dieser und weitere Theatervereine und -klubs sowie die Literatur- und Theaterkritik hatten wesentlichen Anteil an der unmittelbaren zeitgenössischen Wirkung der neuen Stücke, die wiederum selbst von Bedeutung für das expressionistische Stationendrama (G. Kaiser, E. Toller) sowie auch für das Schaffen von E. Piscator und B. Brecht waren. - Während das deutsche naturalistische Drama europäischen Rang erreichte, blieb die naturalistische Prosa hinter derjenigen Frankreichs und Russlands zurück. Stilgeschichtlich bedeutend waren hier neben Arbeiten von Schlaf, Holz und Hauptmann (»Bahnwärter Thiel«, 1888) auch die Romane von M. Kretzer (»Meister Timpe«, 1888) und W. von Polenz (»Der Büttnerbauer«, 1895). Dasselbe gilt für die naturalistische Lyrik, die mit nationalem und sozialkritischem Pathos neue Stoffe in traditionellen Formen artikulierte, z. B. in der Anthologie »Moderne Dichter-Charaktere« (1884, herausgegeben von Wilhelm Arent); eine formale Erneuerung versuchte nur Holz in seinen »Phantasus«-Heften (1898-99, 2 Teile). - Der Naturalismus wirkte nachhaltig auf die gesamte nachfolgende europäische Literatur, u. a. auch durch die Erschließung neuer Stoffbereiche sowie Verwendung von Umgangssprache und Mundart im literarischen Text. Als Epochenbegriff hat sich die Bezeichnung »Naturalismus« allerdings nur in Frankreich und Deutschland durchgesetzt. - In den USA entwickelte sich, anknüpfend an europäische Einflüsse, ein naturalistisches Romanschaffen (F. Norris, S. Crane, J. London, T. Dreiser, später J. T. Farrell, J. Steinbeck); naturalistische Phasen sind auch in der englischen (A. Bennett, G. Moore) und lateinamerikanischen Literatur (R. Delgado, C. Reyes) zu verzeichnen. In der italienischen Literatur wirkte der Naturalismus auf den Verismus, wichtigster Vertreter in Spanien war V. Blasco Ibáñez, in Portugal J. M. Eça de Queiros.
M. Brauneck: Lit. u. Öffentlichkeit im ausgehenden 19. Jh. (1974);
N., hg. v. H. Scheuer (1974);
R. Daus: Zola u. der frz. N. (1976);
H. Suwała: Naissance d'une doctrine, formation des idées littéraires et esthétiques de Zola: 1859-1865 (Warschau 1976);
N., Ästhetizismus, hg. v. C. Bürger u. a. (1979);
R. C. Cowen: Der N. Komm. zu einer Epoche (31981);
H. Möbius: Der N. (1982);
V. I. Moe: Dt. N. u. ausländ. Lit. Zur Rezeption der Werke von Zola, Ibsen u. Dostojewski durch die dt. naturalist. Bewegung: 1880-1895 (1983);
S. Hoefert: Das Drama des N. (41993);
G. Keil: Kritik des N. (1993);
Manifeste u. Dokumente zur dt. Lit. 1880-1900, N., hg. v. M. Brauneck u. Christine Müller (Neuausg. 1994);
G. Mahal: N. (31996).
3) Musik: die unmittelbare Nachahmung von Naturlauten und -geräuschen oder die Übernahme akustischer Ereignisse der Lebenswirklichkeit. Die musikalische Stilisierung von Naturvorgängen (Tonmalerei) ist kein Naturalismus. Über den Naturalismus in der Oper Verismus.
4) Philosophie: im 17. Jahrhundert entstandene Denkhaltung, die sowohl die Einzelphänomene der Welt als auch deren Gesamtzusammenhang allein aus der Natur (als Grund aller Realität) zu begreifen sucht. Der ontologisch-metaphysische Naturalismus versteht alles Seiende als sichtbaren Ausdruck naturbestimmter Zweckmäßigkeit. Mensch, Pflanze, Tier und Kosmos sind allein auf biologisch erfahrbare und materialistisch begründbare Erklärungszusammenhänge zurückzuführen. Dabei wird Gott als metaphysische Ursache des Seins negiert. Die Entstehung der Welt wird als Produkt natürlicher Evolutionen aufgefasst (in Anlehnung an positivistisch-materialistische Ansätze von K. Marx, F. Nietzsche, E. Mach, R. Avenarius). Ähnlich fasst der ethische Naturalismus (in Anlehnung an den Pragmatismus J. S. Mills) die Gesetze menschlichen Tuns und Lassens als naturgebundene funktionale Handlungsrichtlinien auf. Menschliche Freiheit als metaphysische Voraussetzung für moralisches Handeln wird negiert. Sittliches Leben wird als übersteigerte idealistische Interpretation rein biologischer Abläufe angesehen. Der Versuch, eine übernatürlich fundierte Morallehre aufzustellen, die Sittlichkeit als Resultat menschlicher Vernunft begreift, fällt aus dem gedanklichen System des Naturalismus heraus. Im 20. Jahrhundert führt dies zu der Maxime, der Mensch solle so handeln, dass er dabei die ihm gegebenen »Naturanlagen« zur größtmöglichen Entfaltung bringe beziehungsweise sich selbst verwirkliche. G. E. Moores (»Principia ethica«, 1903) metaethischer Naturalismus zielt nicht mehr auf die Begründung normgebender Handlungstheorien ab, sondern auf eine Theorie über die Bedeutung von Zeichen und Sprachsymbolen mit moralisierendem Inhalt (z. B. das Wort »gut«). Naturalistisch ist demzufolge diejenige Theorie, die derartige Zeichen mithilfe von natürlichen Begriffen und Objekten definiert und ihnen so ihren Sinn gibt.
H. Conrad-Martius: Der Selbstaufbau der Natur (21961);
A. Portmann: Entläßt die Natur den Menschen? (21971);
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Na|tu|ra|lịs|mus, der; -, ...men [frz. naturalisme]: 1. a) <o. Pl.> (bes. in Literatur u. Kunst) Wirklichkeitstreue, -nähe in der Darstellung; b) naturalistisches Element [in einem Kunstwerk]. 2. <o. Pl.> europäischer Kunststil zu Ende des 19. u. am Beginn des 20. Jh.s, der eine möglichst naturgetreue Darstellung der Wirklichkeit (bes. auch des Hässlichen u. des Elends) erstrebte u. auf jegliche Stilisierung verzichtete. 3. philosophische Weltanschauung, nach der alles aus der Natur u. diese allein aus sich selbst erklärbar ist.
Universal-Lexikon. 2012.