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Kierkegaard
Kierkegaard
 
['kɪrkəgart, dänisch 'kergəgɔːr], Søren Aabye, dänischer Theologe, Philosoph und Schriftsteller, * Kopenhagen 5. 5. 1813, ✝ ebenda 11. 11. 1855. Sohn eines Kaufmanns und zunächst durch die lutherische Theologie der dänischen Kirche beeinflusst, studierte er Theologie und Philosophie und war Magister und Prediger in Kopenhagen. Seine Auflösung der Verlobung mit Regine Olsen und der gleichzeitige Rückzug aus dem Beruf führten zu einer tief gehenden Krise in Kierkegaards Leben. Von Oktober 1841 bis März 1842 hörte Kierkegaard in Berlin bei F. W. J. Schelling dessen Vorlesung gegen G. W. F. Hegel; dann lebte er als Schriftsteller in Kopenhagen. Durch scharfe Polemiken gegen das zeitgenössische Christentum, besonders gegen die beiden Bischöfe Jakob Peter Mynster und Hans Lars Martensen, geriet Kierkegaard in zunehmend schärferen Gegensatz zur dänischen Amtskirche, der er wie den christlichen Kirchen überhaupt eine Entstellung und Verkehrung des biblischen Christentums vorwarf. Bestimmend für das Denken Kierkegaards wurde die Auseinandersetzung mit der Dialektik Hegels; er wandte sich in einem radikalen Individualismus gegen spekulative Systeme, sofern sie die existenziellen Gegensätze im konkreten Individuum in einer »höheren Einheit« aufheben. Das Gesamtwerk trägt stark autobiographische Züge: Durch religiös begründete Schuldgefühle des Vaters betroffen, ist zeitlebens die Frage persönlicher Schuld und stellvertretenden Leidens, mit der er sich mit einer bis zu schweren Depressionen reichenden Leidenschaft auseinander setzte, ein zentrales Thema seines Denkens.
 
Die Werke, die vom philosophischen Roman bis zur theologischen Streitschrift reichen, sind teils fiktional, teils häufig in bewusster Anlehnung an Sokrates in Dialogform gehalten und - um die Unmöglichkeit einer direkten Mitteilung von objektiver, allgemein gültiger Wahrheit oder eines abgeschlossenen Systems zu unterstreichen - zudem unter einer Vielzahl von Pseudonymen erschienen. Zentral in diesem Werk und wirkungsgeschichtlich von weit tragender Bedeutung sind die Begriffe der Existenz und der Angst, denen die Begriffe der Freiheit und der Entscheidung zugeordnet werden. Existenz (Existenzphilosophie) versteht Kierkegaard als Sein in der Zeit, als Werden des je Einzelnen, nur als menschlichen Seinsvollzug beschreibbar, als »Synthese des Endlichen und des Unendlichen«, des Zeitlichen und des Ewigen. Auf einer ersten, der ästhetischen Stufe versucht der Mensch, der immer der konkrete Einzelne ist, eine Synthese im unmittelbaren, passiven, reflektierenden Erleben und Genießen von Glück, Jugend, Erotik u. a., denen Unglück, Schwermut, Verzweiflung gegenüberstehen. Die zweite Stufe, die Stufe des Ethischen, die der Mensch über das offene Eingeständnis der Verzweiflung erreicht und in der er Abstand zur Passivität des ästhetischen Genießens gewinnt, ist gekennzeichnet durch aktives Handeln, durch Entscheidung, die Kierkegaard antihegelianisch der Reflexion entgegenstellt als das Sichverhalten zum Zukünftigen entweder als zu etwas Zeitlichem, Endlichem, Relativem oder zu etwas Ewigem, Unendlichem, Absolutem, insbesondere durch die »Selbstwahl«, die nur Wahl des Absoluten sein kann; das Absolute ist der subjektive Mensch in seiner ewigen Gültigkeit. In der Möglichkeit der Wahl seiner selbst liegt zugleich die »Freiheit«. Die intendierte »Synthese des Endlichen und Unendlichen« kann der Mensch aber auch auf dieser Stufe nicht erreichen. In der Angst, allein zu sein vor der freien Wahl der Möglichkeiten, wird er sich der Grenze der Freiheit bewusst. Auf der Stufe des Religiösen, die zunächst nur tiefer in das Alleinsein führt, erfährt der Mensch, dass endgültiger Aufstieg aus der Angst und ihrer Folge - der Verzweiflung - der Gnade Gottes bedarf. Dabei ist der Glaube angesichts der Bedrohung durch den Verlust des Ewigen ein Glaube an das Absurde (das Paradox des Religiösen). - Kierkegaard wendet sich gegen Hegel, indem er auf die Unfähigkeit des Menschen zur Transzendenz hinweist; ein abgeschlossenes System des Denkens sei allein Möglichkeit Gottes. Insofern sind die Grundlagen der Existenzdeutung Kierkegaards traditionell christlich. Sie überwindet den Zwiespalt zwischen Endlichem und Unendlichem, in dem der existierende Mensch steht, nicht, indem sie die Lösung in der Transzendenz zum Unendlichen sieht wie Hegel, sondern indem sie die Synthese des Zwiespalts ergänzend als bleibende Aufgabe, als das Sichverhalten zum Unendlichen, zur Bestimmung des Menschen nimmt.
 
Der Einfluss Kierkegaards zu Lebzeiten war gering; im 19. Jahrhundert wirkte er auf skandinavische Schriftsteller (u. a. H. Ibsen, A. Strindberg) ein. Erst im 20. Jahrhundert knüpften die dialektische Theologie (K. Barth, F. Gogarten u. a.) und in stark modifizierender Weise die Existenzphilosophie (u. a. M. Heidegger) und die Vertreter der negativen Dialektik (z. B. T. Adorno) an sein Denken an.
 
Ausgaben: Gesammelte Werke, herausgegeben von E. Hirsch u. a., 26 Bände (1-41960-71); Die Tagebücher. Eine Auswahl, herausgegeben von H. Gerdes (1980).
 
Literatur:
 
W. Lowrie: Das Leben S. K.s (a. d. Amerikan., 1955);
 G.-G. Grau: Die Selbstauflösung des christl. Glaubens. Eine religionsphilosoph. Studie über K. (1963);
 Walter Schulz: S. K. Existenz u. System (1967);
 N. Thulstrup: K.s Verhältnis zu Hegel (1969);
 N. Thulstrup: K.s Verhältnis zu Hegel u. zum spekulativen Idealismus 1835-1846 (1972);
 A. Hügli: Die Erkenntnis der Subjektivität u. die Objektivität des Erkennens bei S. K. (Zürich 1973);
 E. D. Klemke: Studies in the philosophy of K. (Den Haag 1976);
 V. Guardar: Die Wiederholung. Analysen zur Grundstruktur menschl. Existenz im Verständnis S. K.s (1980);
 F. H. Lapointe: S. K. and his critics. An international bibliography of criticism (Westport, Conn., 1980);
 E. Tugendhat: Selbstbewußtsein u. Selbstbestimmung. Sprachanalyt. Interpretationen (41989);
 M. Bösch: S. K. Schicksal - Angst - Freiheit (1994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Kierkegaard: Rückzug in die Innerlichkeit
 

Universal-Lexikon. 2012.