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Heidegger
Heidegger,
 
Martin, Philosoph, * Meßkirch 26. 9. 1889, ✝ Freiburg im Breisgau 26. 5. 1976; 1909-11 Studium der katholischen Theologie, 1911-13 der Philosophie, Geschichte und Mathematik in Freiburg, 1915 Habilitation bei H. Rickert, 1916-23 Privatdozent in Freiburg (ab 1919 Assistent von E. Husserl), wurde 1923 ordentlicher Professor der Philosophie in Marburg, 1928 als Nachfolger Husserls Professor in Freiburg; 1946-49 Lehrverbot durch die französische Besatzungsmacht wegen seines Engagements für die nationalsozialistische Bewegung; 1951 wurde Heidegger emeritiert.
 
Ausgehend von der Grunderfahrung der Seinsvergessenheit beziehungsweise Seinsferne bemüht sich Heidegger in seinem Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927) um eine »Wieder-holung« der Frage nach dem Sein als solchem. Im destruierenden Rückgang durch die Seinsthesen der abendländischen Metaphysik seit Platon und anknüpfend an das ursprüngliche Seinsverständnis der Vorsokratiker stellt Heidegger die Frage nach dem Sein in Abhebung vom Seienden (ontologische Differenz). Er bedient sich dabei vornehmlich der Methoden der Phänomenologie und der Hermeneutik und geht vom zumindest vorbewusst immer schon vorliegenden Seinsverständnis des Menschen und seiner Tendenz zur Selbstauslegung aus.
 
Heideggers gesamtes Denken kreist um die »Seinsfrage«, genauer gesagt um die Frage nach dem wechselweisen Zusammengehören, nach der Nähe von Sein und Menschenwesen und dessen Herkunft aus dem »Ereignis«. Im Rückblick gliedert Heidegger seinen Denkweg in drei Phasen, denen drei miteinander zusammenhängende Formulierungen der Seinsfrage entsprechen: 1. Phase (etwa 1922-33): Frage nach dem »Sinn von Sein«, die an den »Entwurf« beziehungsweise das »Seinsverständnis« des (menschlichen) Daseins gebunden bleibt. Als Sinn von Sein, das ist als das, woraufhin Sein immer schon verstanden wurde, wird die Zeit herausgestellt. 2. Phase (etwa 1934-46): Frage nach der »Wahrheit des Seins«, womit die »Offenheit des Seins selbst« in den Vordergrund rückt und die Wahrheit als geschichtliches Geschehen gefasst wird. Die »Geschichtlichkeit des Daseins« wird durch den Gedanken des »Seinsgeschickes« vertieft. 3. Phase (ab 1947): Frage nach der »Ortschaft des Seins« und dessen Herkunft aus dem »Ereignis«. Das Seinsdenken wird jetzt explizit zur »Topologie des Seins«, zur Bestimmung der Ortschaft des Seins. Die viel besprochene »Kehre« in Heideggers Denken stellt keine Umkehr oder Bekehrung des »frühen« hin zu einem »späten Heidegger« dar, sondern erweist sich als »Einkehr« in das wechselweise Zusammengehören von Sein und Menschenwesen.
 
Diese drei Phasen entsprechen im Großen und Ganzen drei wesentliche Denkformen Heideggers: Am Anfang in »Sein und Zeit« steht sein Versuch einer »Fundamentalontologie«, das heißt einer neuen Grundlegung der Ontologie. Sie erfordert zum einen eine »Destruktion« der Geschichte der Ontologie, das ist ein »Abbau« der bisherigen Aussagen über das Sein, da nur im geschichtlichen Rückgang die Not der Seinsvergessenheit und die »Not-wendigkeit« der Wiederholung der Seinsfrage deutlich gemacht werden kann, zum anderen eine existenziale Analytik des Daseins, das ist eine Freilegung der Seinsstrukturen desjenigen Seienden, das allein ein Seinsverständnis haben kann und an dem daher primär der Sinn von Sein abgelesen werden kann, das heißt des Menschen. Als Seinsweisen der menschlichen Existenz (»Existenzialien«) werden »Befindlichkeit« (»Geworfenheit«), »Verstehen« (»Entwurf«), »Rede«, »Verfallen«, »Sein zum Tode«, »Gewissen« und »Geschichtlichkeit« herausgestellt. Die Grundverfassung des (menschlichen) Daseins fasst Heidegger als »In-der-Welt-Sein«, sein konkretes Sein als »Sorge«, seinen tiefsten ontologischen Sinn als »Zeitlichkeit«. Die in »Sein und Zeit« geplante, aber nicht mehr zur Durchführung gelangte Destruktion der Ontologie vollzieht Heidegger in zahlreichen Einzelstudien (seit Ende der 20er-Jahre) zum Wesen und Problem der Metaphysik und in Auseinandersetzungen mit den wichtigsten metaphysischen Denkern: Platon, Aristoteles, R. Descartes, I. Kant, F. W. J. Schelling, G. W. F. Hegel und F. Nietzsche. Heidegger »verwindet« die Metaphysik im »Schritt zurück« vor die Metaphysik, in den ersten Anfang des abendländischen Denkens bei Anaximander, Heraklit und Parmenides und in die denkerische Zwiesprache mit der Dichtung F. Hölderlins, der dichterisch einen zweiten Anfang, eine neue Nähe des Seins stiftet. Hieran schließt sich in der dritten Phase Heideggers Bemühung um ein anderes, nichtmetaphysisches (nicht mehr vorstellendes und begründendes) Denken als Topologie des Seins an. Dieses zeigt die derzeitige Verbergung des Seins im »Gestell«, dem das Sein verstellenden Wesen der neuzeitlichen Technik, und die damit verbundene Gefahr auf, die den Menschen herausfordert, alles Wirkliche in der Weise des plan- und vernutzbaren »Bestands« zu bestellen, das heißt alles und jedes auf einen Knopfdruck hin abrufbar zu machen. Aber es sieht auch die Chance der Rettung und bereitet auf eine neue »Ankunft des Seins« vor, indem es Gelassenheit einübt. Dabei spielt die Besinnung auf die Sprache eine besondere Rolle. Der Mensch wird nicht mehr aus der Abhebung vom Tier oder Gott definiert, sondern aus seinem Seinsbezug als »Hirt« und »Nachbar des Seins« verstanden. Im »schonenden Wohnen« des Menschen in der Nähe des Seins sieht Heidegger den Ansatz einer ursprünglichen Ethik (griechisch ethos »Ort des Wohnens«). Heideggers Seinsdenken lehrt weder zwingendes Wissen, noch gibt es allgemein verpflichtende Sollensgesetze und verbindliche Handlungsanweisungen. Dennoch verfällt Heidegger nicht einer Willkür oder bloßem Subjektivismus, sondern zeigt Denkwege, bei denen alles auf das Mitgehen ankommt und deren »Verbindlichkeit« sich aus dem phänomenologischen Sehen sowie dem Hören auf den Zuspruch des Seins ergibt. Dasjenige Geschehen, das Mensch und Sein einander übereignet sowie das Verhältnis von Zeit und Sein (»Anwesen«) ergibt, nennt Heidegger »Ereignis«.
 
Veröffentlichungen V. Farías' und H. Otts haben in den letzten Jahren eine heftige und breite Diskussion über das Verhältnis von Heideggers Denken zu seinem zeitweiligen Engagement für den Nationalsozialismus vor, während und nach seiner Zeit als Rektor der Freiburger Universität 1933/34 entfacht, über die allerdings aufgrund der schmalen Textbasis bisher nicht eindeutig entschieden werden konnte.
 
Heideggers Wirkung reicht weit über die Grenzen Deutschlands (v. a. nach Frankreich, USA, Japan, Italien, Spanien, Jugoslawien) und der Philosophie hinaus und hatte teilweise erheblichen Einfluss auf Theologie (R. Bultmann, K. Rahner, B. Welte, J. B. Lotz), Psychologie (Daseinsanalyse: L. Binswanger, M. Boss), Kunst (W. Perpeet) und Literaturwissenschaften (E. Staiger), ja sogar auf Pädagogik (T. Ballauf, O. F. Bollnow) und Jurisprudenz (W. Maihofer).
 
Weitere Werke: Kant und das Problem der Metaphysik (1929); Vom Wesen des Grundes (1929); Was ist Metaphysik? (1929); Vom Wesen der Wahrheit (1943); Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung (1944); Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den Humanismus (1947); Holzwege (1950); Einführung in die Metaphysik (1953); Vorträge und Aufsätze (1954); Was heißt denken? (1954); Identität und Differenz (1957); Der Satz vom Grund (1957); Gelassenheit (1959); Unterwegs zur Sprache (1959); Nietzsche, 2 Bände (1961); Die Frage nach dem Ding (1962); Wegmarken (1967); Zur Sache des Denkens (1969).
 
Vier Seminare (herausgegeben 1977); Briefwechsel Heidegger - Jaspers, 1920-1963, herausgegeben von W. Biemel und H. Sauer 1992).
 
Ausgabe: Gesamtausgabe, auf zahlreiche Bände berechnet (1975 folgende).
 
Literatur:
 
H. u. die Theologie, hg. v. G. Noller (1967);
 
Durchblicke, hg. v. V. Klostermann (1970);
 
Erinnerung an M. H., hg. v. G. Neske (1977);
 
Antwort. M. H. im Gespräch, hg. v. G. Neske: u. a. (1988);
 W. Marx: H. u. die Tradition (21980);
 
Nachdenken über H., hg. v. U. Guzzoni (1980);
 G. Haeffner: H.s Begriff der Metaphysik (21981);
 H.-M. Sass: H. Bibliography and glossary (Bowling Green, Oh., 1982);
 O. Pöggeler: Der Denkweg M. H.s (21983);
 
H., hg. v. O. Pöggeler (Neuausg. 1984);
 W. Biemel: M. H. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (40.-42. Tsd. 1985);
 
H. studies (Oak Brook, Ill., 1985 ff.);
 F.-W. von Herrmann: Subjekt u. Dasein (21985);
 F.-W. von Herrmann: Hermeneut. Phänomenologie des Daseins. Eine Erl. zu »Sein u. Zeit«, Bd. 1 (1987);
 G. Seubold: H.s Analyse der neuzeitl. Technik (1986);
 E. Kettering: Nähe. Das Denken M. H.s (1987);
 
M. H. - unterwegs im Denken, hg. v. R. Wisser (1987);
 G. Figal: M. H. - Phänomenologie der Freiheit (1988);
 
H. u. die prakt. Philosophie, hg. v. A. Gethmann-Siefert (1988);
 H. Ott: M. H. - unterwegs zu seiner Biogr. (1988);
 V. Farías: H. u. der Nationalsozialismus (a. d. Frz., 1989; vom Autor korrigierte, erw. u. autorisierte Ausg.);
 R. Safranski: Ein Meister aus Dtl. H. u. seine Zeit (Neuausg. 1998);
 G. Figal: H. zur Einführung (31999);
 O. Pöggeler: H. in seiner Zeit (1999).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Heideggers Philosophie: Der Mensch und das »Sein«
 

Universal-Lexikon. 2012.