Stammzellen,
undifferenzierte,
das heißt keinem endgültigen Zelltyp angehörende Zellen eines Organismus, die definitorisch zwei Funktionen erfüllen müssen. Eine Funktion besteht in der Selbsterneuerung der Stammzellen durch Zellteilung, bei der identische Tochterzellen entstehen. Die zweite Funktion umfasst die Möglichkeit, Tochterzellen zu generieren (hervorzubringen), die zu bestimmten Zellarten oder Zelltypen differenzieren (ausreifen) können.
Die Differenzierung der Stammzellen wird durch Differenzierungsfaktoren gesteuert, die zum einen vom genetischen Programm der Zelle und zum anderen von der Mikroumgebung, in der sich die differenzierende Zelle befindet, abhängen.
Grundsätzlich unterscheidet man aufgrund ihres Vorkommens und ihres Potenzials zwischen zwei verschiedenen Arten von Stammzellen, einerseits den embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) und andererseits den adulten oder somatischen Stammzellen.
In der Embryonalentwicklung der Säugetiere beginnt nach der Befruchtung der Eizellen und Verschmelzung der elterlichen Vorkerne die Zellteilung. Bis zum Acht-Zellen-Stadium des Säugetierembryos kann aus jeder dieser Zellen faktisch ein vollständiger Organismus hervorgehen. Deshalb werden diese Zellen als totipotent oder omnipotent (zu allem fähig) bezeichnet.
Während der weiteren Entwicklung des Embryos im Eileiter, der so genannten Präimplantationsphase, bildet sich kurz vor der Einnistung in die Gebärmutter die Blastozyste (Keimblase). Im Inneren dieses sphärischen Gebildes befindet sich eine »innere Zellmasse«, deren Zellen sich in vitro (das heißt außerhalb des Körpers im Labor) kultivieren lassen. Diese Zellen werden als embryonale Stammzellen (ES-Zellen) bezeichnet und gelten als pluri- oder multipotent, da ihr Differenzierungspotenzial bereits eingeschränkt ist. Aus diesen Zellen kann sich demzufolge kein vollständiger Organismus entwickeln. Jedoch können sich aus embryonalen Stammzellen alle vorhandenen Gewebe und Zelltypen eines Organismus differenzieren.
Embryonale Stammzellen können in vitro praktisch unbegrenzt vermehrt und gerichtet in verschiedene, spezialisierte Zellen differenziert werden.
In einem Organismus müssen Zellen, aufgrund von programmiertem Zelltod (Apoptose), Verletzung, Blutung oder anderen Ursachen permanent ersetzt werden. Der Nachschub organspezifischer Zellen erfolgt durch adulte Stammzellen, da eine bereits vollständig ausdifferenzierte Zelle (beispielsweise ausgereifte Blut-, Nerven- oder Schleimhautzelle) kaum noch eine beziehungsweise keine Fähigkeit zur Zellteilung besitzt. Diese adulten Stammzellen sind an verschiedenen Orten im erwachsenen Organismus lokalisiert (beispielsweise im Knochenmark, Gehirn oder Darm). Das Differenzierungspotenzial der verschiedenen adulten Stammzellen ist, im Unterschied zu embryonalen Stammzellen, in seinem gesamten Ausmaß noch nicht bekannt. Bis vor kurzem wurde angenommen, dass adulte Stammzellen eines Organs oder Organsystems ausschließlich Zellen dieses Organs oder Organsystems generieren können. Beispielsweise nahm man an, dass aus Blutstammzellen im Knochenmark ausschließlich die zellulären Bestandteile des Blutes hervorgehen können und aus Stammzellen des zentralen Nervensystems nur die Bildung von Nerven- und Gliazellen möglich ist. Neuere Erkenntnisse der Stammzellforschung haben jedoch gezeigt, dass adulte Stammzellen »transdifferenzieren« können. Dies bedeutet, dass Stammzellen eines Organsystems unter bestimmten Umständen auch Zellen eines anderen Organsystems generieren können. Ob adulte Stammzellen das Differenzierungspotenzial von embryonalen Stammzellen erreichen können, ist noch nicht geklärt.
Die Möglichkeit, embryonale Stammzellen zu gewinnen und in vitro praktisch unbegrenzt vermehren zu können, eröffnete neue Perspektiven für die Forschung in der Entwicklungsbiologie, aber auch in der Medizin. Gegenstand der Forschung sind v. a. die molekularen Prozesse, die eine Stammzelle während ihrer Differenzierung durchläuft, und welche Faktoren diese genetischen Programme beeinflussen.
In der Medizin erhofft man sich durch diese Erkenntnisse die Eröffnung von weiteren Behandlungsmöglichkeiten für Erkrankungen, die durch Zellverlust bestimmter Zellarten charakterisiert sind (u. a. bei Diabetes mellitus, Parkinson-Syndrom oder Herzinfarkt). Für die therapeutische Nutzung von Stammzellen werden prinzipiell zwei Strategien verfolgt. Bei der »endogenen Stammzellapplikation« soll durch regenerative Gentherapie oder durch Gabe bestimmter Wachstumsfaktoren Einfluss auf Entwicklungskontrollgene der körpereigenen adulten Stammzellen genommen werden. Durch diese »Umprogrammierung« der adulten Stammzellen erhofft man, eine zielgerichtete Regeneration der durch die Erkrankung untergegangenen Zellen zu erreichen. Eine weitere Strategie für den therapeutischen Einsatz von Stammzellen stellt die »exogene Stammzell- applikation« dar. Hierunter versteht man eine Zellersatztherapie, bei der die zu ersetzenden Zellen durch In-vitro-Differenzierung aus Stammzelllinien gewonnen und anschließend in den Patienten transplantiert werden sollen.
Mit Blick auf die therapeutische Verwendung von Stammzellen bei der exogenen Stammzellapplikation ergeben sich für beide Stammzellengruppen Vor- und Nachteile. Bei der Nutzung von embryonalen Stammzellen wäre zurzeit die Pluripotenz der Zellen und ihre stabile Kultivierbarkeit in vitro von Vorteil.
Sie birgt jedoch das Risiko einer Abstoßungsreaktion durch das Immunsystem des Empfängers nach einer Transplantation. Zudem unterliegt die Gewinnung embryonaler Stammzelllinien aus überzähligen humanen Präimplantationsembryonen gesetzlichen Bestimmungen und ist in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten.
Im Unterschied zu den embryonalen Stammzellen sind mit der Gewinnung adulter Stammzellen eher biologische als ethische Probleme verbunden. Die In-vitro-Vermehrbarkeit ist oft instabil und die Differenzierungspotenz noch nicht geklärt. Immunologisch werden jedoch bei Transplantation von autologen (d. h., es werden körpereigene Zellen verpflanzt) adulten Stammzellen keine Abstoßungsreaktionen erwartet. Dies gilt auch für neonatale Stammzellen aus dem Nabelschnurblut, die im weitesten Sinne auch zu den adulten Stammzellen gerechnet werden können.
Da sich diese Zellen unmittelbar nach der Geburt leicht aus der Nabelschnur isolieren lassen, können diese bereits für potenzielle spätere Behandlungen konserviert und/oder in ihrer Differenzierungspotenz untersucht werden. Die molekularen Mechanismen der Pluri- beziehungsweise Multipotenz könnten durch eine vergleichende Forschung an embryonalen und adulten Stammzellen offengelegt werden.
In Deutschland ist die Gewinnung von menschlichen embryonalen Stammzellen verboten (Embryonenschutzgesetz). Die extrakorporale Befruchtung einer Eizelle und damit die Erzeugung eines Embryos in vitro ist nur zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erlaubt. Nicht verboten war nach bisherigem Recht die Einfuhr von und die Forschung an Stammzellen. Das Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Einfuhr und Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz) vom 28. 6. 2002, in Kraft seit 1. 7. 2002, verbietet die Einfuhr und Verwendung dieser Zellen grundsätzlich. Bei Vorliegen von gesetzlich geregelten Voraussetzungen (§ 4 Absatz 2 Stammzellgesetz) darf jedoch die Einfuhr und Verwendung ausnahmsweise zu Forschungszwecken durch eine staatliche Kontrollbehörde genehmigt werden. Es dürfen nur Stammzellen importiert werden, die im Herkunftsland rechtmäßig vor dem 1. 1. 2002 aus Embryonen gewonnen wurden, welche durch extrakorporale Befruchtung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erzeugt wurden und die für diesen Zweck nicht mehr verwendet wurden.
Universal-Lexikon. 2012.