Akademik

Tierversuche
Tierversuche,
 
nach dem Tierschutzgesetz in der Fassung vom 25. 5. 1998 Eingriffe oder Behandlungen zu Versuchszwecken an Tieren, wenn sie mit Schmerzen, Leiden oder Schäden für diese Tiere verbunden sein können. Seit In-Kraft-Treten des Gentechnikgesetzes (1990) ist diese Definition erweitert auf Eingriffe oder Behandlungen am Erbgut von Tieren, wenn sie entsprechende Auswirkungen auf die erbgutveränderten Tiere oder deren Trägertiere haben können. Im Wesentlichen unterscheidet man Tierversuche für Forschungszwecke und für Sicherheitsprüfungen. Im Bereich der Forschung geht es um angewandte Forschung, so z. B. um die Entwicklung und Erprobung neuer Arzneiwirkstoffe, Impfstoffe oder Operationsmethoden, und um Grundlagenforschung, z. B. um neue Erkenntnisse über Körperfunktionen. Im Rahmen der Sicherheitsprüfung werden Stoffe und Produkte im Tierversuch getestet um festzustellen, ob sie möglicherweise Menschen, Tiere oder die Umwelt schädigen können. Schätzungen zufolge wurden in der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er- und 1980er-Jahren zwischen 7 und 14 Mio. Tierversuche jährlich durchgeführt. Amtliche Zahlen gibt es erst seit 1989. Sie erfassen nur die genehmigungs- und anzeigepflichtigen Tierversuche an Wirbeltieren und beliefen sich für die alten Bundesländer 1989 auf 2,64 Mio., sie verringerten sich 1996 für Gesamtdeutschland auf 1,51 Mio. In der Statistik nicht enthalten sind Manipulationen an Tieren, die z. B. zur Aus-, Fort- und Weiterbildung, zu anderen als Versuchszwecken in der Wissenschaft oder bei der Impfstoffherstellung vorgenommen werden. Nach der Novelle des Tierschutzgesetzes vom 25. 5. 1998 können auch diese Eingriffe künftig zahlenmäßig erfasst werden.
 
Die Vorstellung, dass fühlenden Lebewesen bewusst Leiden, Schmerzen und Schäden zugefügt werden, löst bei vielen Bürgern Betroffenheit aus. Tierversuche stehen daher seit langem in der öffentlichen Diskussion. Einerseits wird darauf verwiesen, dass dem Schutz des Menschen und dem Anspruch des Kranken auf Hilfe Vorrang vor dem Schutz der Tiere eingeräumt werden muss. Auf der anderen Seite sehen es immer mehr Menschen als Pflicht, auf Leben und Wohlbefinden der Mitgeschöpfe Rücksicht zu nehmen. Immer häufiger wird bezweifelt, ob es zulässig ist, ein Tier, das schmerzempfindlich ist, stellvertretend für den Menschen leiden zu lassen. Umstritten ist auch, ob Tierversuche methodisch überhaupt geeignet sind, Mensch, Tier und Umwelt vor mögliche Schäden zu bewahren. Fest steht, dass es trotz aller Tierversuche zur Verträglichkeit neuer Stoffe und Produkte zu Fehleinschätzungen kommt, die gesundheitlich im Einzelfall negative Folgen für den Menschen haben.
 
Die heutige Gesetzgebung zur Regulierung von Tierversuchen ist das Ergebnis jahrzehntelanger Tierschutzbestrebungen, die in den 1820er-Jahren in Großbritannien ihren Ursprung hatten. Als Ausgangspunkt kann u. a. die Ablehnung der Vivisektion angesehen werden, die zur Gründung der entsprechenden Gesellschaften in Großbritannien und den USA führte.
 
Nach dem Willen des Gesetzgebers sind Tierversuche auf das »unerlässliche Maß« zu beschränken. Im Tierschutzgesetz wird festgelegt, zu welchen Zwecken und unter welchen Bedingungen Tierversuche durchgeführt werden dürfen. Tierversuche zur Entwicklung oder Erprobung von Waffen und dazugehörigem Gerät sind ausdrücklich verboten, nicht jedoch Tierversuche zu wehrmedizinischen Zwecken. Einem grundsätzlichen Verbot, das in begründeten Fällen durch eine Rechtsverordnung aufgehoben werden kann, unterliegen Tierversuche zur Entwicklung von Tabakerzeugnissen, Waschmitteln und Kosmetika. Nach der Novelle des Tierschutzgesetzes vom 25. 5. 1998 ist das Töten von Hunden, Katzen, Affen und Halbaffen zu wissenschaftlichen Zwecken (z. B. zu Organ- oder Gewebeentnahme zum Zweck der Transplantation) nur erlaubt, wenn sie speziell für diesen Zweck gezüchtet wurden. Damit soll sichergestellt werden, dass weder Fundtiere noch der Natur entnommene Tiere verwendet werden. Auch für die Organ- oder Gewebeentnahme am lebenden Tier dürfen nur Tiere verwendet werden, die für diesen Zweck gezüchtet wurden. Landwirtschaftliche Nutztiere sowie beispielsweise Tauben oder Fische, die für Tierversuche eingesetzt werden, müssen nicht aus speziellen Versuchstierzuchten stammen. Wer Tierversuche an Wirbeltieren durchführen will, bedarf einer behördlichen Genehmigung des Vorhabens. Tierversuche, die gesetzlich vorgeschrieben sind, sind nicht genehmigungspflichtig. Sie müssen der zuständigen Behörde nur angezeigt werden. Eine Reihe von nationalen und internationalen Bestimmungen schreiben Tierversuche zum Schutz von Mensch, Tier und Umwelt ausdrücklich vor. Hierbei handelt es sich z. B. um Giftigkeitsprüfungen (akute und subakute Toxizität, Phototoxizität, Ökotoxizität), um Haut- und Schleimhautverträglichkeitstests, um Tests auf embryoschädigende oder erbgutschädigende Wirkung (Teratogenitäts- und Mutagenitätstest) und um Tests auf Krebs auslösende Wirkung (Kanzerogenitätstest). Für die Durchführung von Tierversuchen gibt es im Tierschutzgesetz Bestimmungen, die unnötige Leiden für die Tiere verhindern sollen.
 
Die gesetzlichen Bestimmungen zu Tierversuchen werden von vielen Seiten kritisiert. Während die Tierschutzorganisationen beklagen, dass das Tierschutzgesetz aufgrund mangelnder Präzisierung kaum einen Tierversuch wirklich verhindere, verweisen tierexperimentell arbeitende Wissenschaftler und Vertreter der einschlägigen Industrie auf den Grundsatz der Forschungsfreiheit und darauf, dass das Tierschutzgesetz die Forschung behindere. - Im österreichischen Tierversuche-Gesetz vom 27. 9. 1989 sind Tierversuche ebenfalls umfassend definiert. Alle Tierversuche sind genehmigungspflichtig. - Im eidgenössischen Tierschutzgesetz der Schweiz sind Tierversuche umfassend definiert. Man unterscheidet Melde- und Bewilligungspflicht, die sich an der Schwere des Eingriffes orientieren.
 
Im Zuge der europäischen Harmonisierung wurden 1986 eine Europäische Konvention und eine EG-Richtlinie zum Schutz der Versuchstiere verabschiedet, die Grundsätze und Detailbestimmungen über die Voraussetzungen und die Durchführung von Tierversuchen und den Umgang mit Versuchstieren enthalten. Inzwischen wurden die Bestrebungen intensiviert, Tierversuche durch andere Methoden zu ersetzen oder wenigstens einzuschränken. Solche Methoden sind z. B. Testverfahren mit menschlichen oder von Tieren gewonnenen Zellkulturen, aber auch der Einsatz von künstlich nachgebildeten Organen und Organismen oder von Computermodellen. Als Ersatzmethode treten sie an die Stelle eines Tierversuchs. Als Ergänzungsmethode werden sie häufig dem Tierexperiment vorgeschaltet, anschließend werden weniger Tiere als ursprünglich eingesetzt. Neben Ersatz- und Ergänzungsmethoden kommen oft auch Verbesserungen bei der Durchführung eines Tierversuchs oder bei der Auswertung der Ergebnisse als »Alternativen« in Betracht, weil dadurch ebenfalls eine Verringerung der Tierzahlen erreicht wird. All diese Möglichkeiten, Tierversuche einzusparen, werden unter dem Begriff der »3 R« - Refinement (Verfeinerung), Reduction (Verringerung) und Replacement (Ersatz) - zusammengefasst. Bisher verzögern aufwendige Untersuchungen zur Überprüfung der Wiederholbarkeit und Zuverlässigkeit der Ergebnisse, die mit alternativen Verfahren gewonnen wurden, die Anwendung von Ersatzmethoden und v. a. deren Eingang in gesetzlichen Bestimmungen. Bundesregierung, Industrie und Tierschutzorganisationen arbeiten u. a. in einer gemeinsamen Stiftung zusammen, um hier weitere Fortschritte zu erzielen. V. a. Tierschützer fordern, dass in Zukunft nur noch wissenschaftlich verlässliche, tierversuchsfreie Verfahren eingesetzt werden. Viele Biologen, Mediziner und Pharmakologen halten dies für unrealistisch, da ein vollständiges Verbot von Tierversuchen den medizinischen Fortschritt blockieren würde.
 
Literatur:
 
K. Allgeier: T. Pro u. contra (1980);
 
Kritik der T., hg. v. I. Weiss (1980);
 D. H. Smyth: Alternativen zu T. (a. d. Engl., 1982);
 D. Pratt: Leiden vermeiden. Alternativen zum T. (a. d. Amerikan., 1983);
 G. M. Teutsch: T. u. Tierschutz (1983);
 
Gesundheit u. Tierschutz. Wissenschaftler melden sich zu Wort, hg. v. K. J. Ullrich u. a. (1985);
 
Ersatzmethoden zum T. Ausgewählte Projekte aus der Forschungsförderung in der Biotechnologie. .., bearb. v. E. Weber (1986);
 
T. u. medizin. Ethik. Beitrr. zu einem Heidelberger Symposion, hg. v. W. Hardegg u. a. (1986);
 
Hb. über Möglichkeiten u. Methoden zur Verbesserung, Verminderung u. Vermeidung von T., hg. v. H.-P. Scheuber, Losebl. (1994 ff.);
 
Forschung ohne T., bearb. v. H. Schöffl u. a. (1995 ff);
 B. Rambeck: Mythos T., eine wissenschaftskrit. Unters. (61996);

Universal-Lexikon. 2012.