Tolstọj,
Tolstọi, russische Adelsfamilie, die auf die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückgeht und 1724 den Grafentitel erhielt.
N. Tolstoy: Das Haus Tolstoi. 24 Generationen russ. Gesch. 1353-1983 (a. d. Engl., 1985)
Bedeutende Vertreter:
1) Aleksej Konstantinowitsch Graf, russischer Schriftsteller, * Sankt Petersburg 5. 9. 1817, ✝ Krasnyj Rog (Gebiet Brjansk) 10. 10. 1875, Vetter von 4); schrieb neben lyrischen Gedichten, Balladen und Versepen sowie den historischen Roman »Knjaz' Serebrjanyj« (1863; deutsch u. a. als »Der silberne Fürst«). Obwohl Vertreter des L'art pour l'art, nahm er auch in satirisch-parodistischen Gedichten im Sinne eines gemäßigten humanen Konservativismus zu verschiedenen aktuellen Problemen Stellung. Als sein Hauptwerk gilt die Trilogie der Zarendramen »Smert' Ioanna Groznogo« (1866; deutsch »Der Tod Iwans des Grausamen«), »Car' Fëdor Ioannovič« (1868; deutsch »Zar Feodor Joannowitsch«) und »Car' Boris« (1870; deutsch »Zar Boris«). Tolstoj veröffentlichte auch unter dem kollektiven Pseudonym Kosma Prutkow.
Autobiographische Verserzählung: Portret (1874; deutsch Das Bild).
Ausgabe: Sobranie sočinenij, 4 Bände (1980).
2) Aleksej Nikolajewitsch Graf, russischer Schriftsteller, * Nikolajewsk (heute Pugatschow, Gebiet Saratow) 10. 1. 1883, ✝ Moskau 23. 2. 1945; Großvater von Tatjana N. Tolstaja; Sohn eines Gutsbesitzers, begann mit realistischen Erzählungen aus dem Adelsmilieu (»Chromoj barin«, 1910; deutsch »Der hinkende Fürst«). In der Emigration (1918-23, Paris und Berlin) entstanden die autobiographische Erzählung »Detstvo Nikity« (1922; deutsch »Nikitas Kindheit«) und der von H. G. Wells beeinflusste fantastisch-utopische Roman »Aëlita« (1923; deutsch). Nach der Rückkehr in die UdSSR schloss Tolstoj sich der kommunistischen Bewegung an und schrieb meist politisch-tendenziöse Werke. Die Romantrilogie »Choždenie po mukam« (1920-41; deutsch »Der Leidensweg«) schildert die Schicksale russischer Intellektueller in den Revolutionswirren und mündet in die Anerkennung des Bolschewismus. Auf umfangreichen Quellenstudien beruht der unvollendete historische Roman »Pëtr Pervyj« (3 Bücher, 1929-45; deutsch »Peter der Erste«). Tolstoj, der stilistisch in der Tradition der russischen Realisten des 19. Jahrhunderts steht, schrieb ferner Gedichte, Novellen und Dramen (»Ivan Groznyj«, 2 Teile, 1941-43; deutsch »Iwan der Vierte«).
Ausgaben: Polnoe sobranie sočinenij, 15 Bände (1946-53); Sobranie sočinenij, 10 Bände (1982-86).
S. G. Borovikov: A. T. Stranicy žizni i tvorčestva (Moskau 1984);
A. N. T. Materialy i issledovanija, hg v. A. M. Krjukova (ebd. 1985);
A. M. Krjukova: A. N. T. i russkaja literatura (ebd. 1990).
3) Fjodor Petrowitsch Graf, russischer Medailleur, Bildhauer, Maler und Grafiker, * Sankt Petersburg 21. 2. 1783, ✝ ebenda 25. 4. 1873; schuf im klassizistischen Stil Reliefs, u. a. für die Bronzetüren der Isaak-Kathedrale in Sankt Petersburg und der Erlöserkathedrale in Moskau, sowie 21 allegorische Medaillons zur Erinnerung an den Vaterländischen Krieg 1812 (1814-36; Sankt Petersburg, Russisches Museum).
4) Lew (Leo) Nikolajewitsch Graf, russischer Schriftsteller, * Jasnaja Poljana 9. 9. 1828, ✝ Astapowo (Gebiet Lipezk) 20. 11. 1910, Vetter von 1); Sohn eines Gutsbesitzers, verlor früh seine Eltern und wuchs unter der Obhut von Verwandten auf, studierte in Kasan 1844-47 orientalische Sprachen und Jura. 1851 trat er in die Armee ein und kämpfte im Kaukasus und auf der Krim (1854/55). Nach seinem Abschied (1855) lebte er teils auf seinem Gut Jasnaja Poljana, teils in Moskau und Sankt Petersburg; 1857 und 1860/61 bereiste er Westeuropa. 1862 heiratete er Sofja Andrejewna Bers (* 1844, ✝ 1919) und lebte nun ständig auf Jasnaja Poljana. Am 10. 11. 1910 verließ Tolstoj, der unter dem Widerspruch zwischen seinen religiös-sozialen Ideen und seiner Stellung als wohlhabender Gutsbesitzer litt, die Familie, um sein Leben in asketischer Einsamkeit zu beschließen; er starb auf der Reise.
Tolstoj begann seine literarische Tätigkeit mit dem autobiographischen Roman »Detstvo« (1852; deutsch »Kindheit«) mit den Fortsetzungen »Otročestvo« (1854; deutsch »Knabenalter«) und »Junost'« (1857; deutsch »Jugendzeit«; die drei Romane zusammen deutsch auch als »Aus meinem Leben«). Es folgten die Erzählungen »Nabeg« (1852; deutsch »Der Überfall«) und »Kazaki« (begonnen 1852, veröffentlicht 1863; deutsch »Die Kosaken«) über seine Erlebnisse im Kaukasus sowie - nach einem Aufenthalt im belagerten Sewastopol während des Krimkrieges - die drei Erzählungen »Sevastopolskie rasskazy« (1855 bis 1856; deutsch »Sewastopol«), die ihm literarischen Erfolg brachten. Sein groß angelegter historischer und geschichtsphilosophischer Roman »Vojna i mir« (6 Bände, 1868/69; deutsch »Krieg und Frieden«), der das Schicksal dreier Familien vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege schildert, und der Eheroman »Anna Karenina« (3 Bände, 1878; deutsch), der ein Bild der russischen Oberschicht in den 1860er-Jahren zeichnet, zählen zu den größten Leistungen des Romans im 19. Jahrhundert. Tolstoj war ein typischer Vertreter des psychologischen Realismus, v. a. ein Meister der präzisen, anschaulichen, farbigen und nuancenreichen Darstellung der Natur und des Menschen, der die äußere Erscheinung ebenso scharf erfasste wie seelische Vorgänge und der Massenszenen und dramatische Begebenheiten ebenso beherrschte wie das Intime. Kennzeichnend für seine Werke ist die mehrschichtige Komposition (zwei und mehr ineinander verflochtene Parallelhandlungen). Meist geht es ihm weniger um das Schicksal von Einzelpersonen als um das von Ehen und Familien, denn die Familie war für ihn der Inbegriff des sittlichen Lebens.
Seit seiner »Bekehrung« (»Ispoved'«, 1884; deutsch »Meine Beichte«) suchte Tolstoj in didaktischen und theoretischen Schriften seine sozialen und künstlerischen Anschauungen darzustellen und zu begründen. In dieser letzten Schaffensperiode entstanden Werke wie die Erzählungen »Smert' Ivana Il'iča« (1886; deutsch »Der Tod des Iwan Ilitsch«) über das Thema des Todes und »Krejcerova sonata« (1891; deutsch »Die Kreutzersonate«) über das Problem der Sexualität, der Roman »Voskresenie« (1899; deutsch »Auferstehung«, 3 Bände), in dem sich Tolstoj von der orthodoxen Kirche distanziert, sowie Dramen (»Vlast' t'my«, 1886; deutsch »Die Macht der Finsterniß«).
Tolstojs ständigem Suchen nach ethisch-religiöser Wahrheit standen eine unerschöpfliche Vitalität und sinnenhafte Erdverbundenheit gegenüber. Der Ethiker Tolstoj strebte nach der Unterordnung aller Lebenserscheinungen unter strenge geistige und moralische Prinzipien; der Künstler ließ sich stets von neuem von der naturhaften Kraft und Schönheit des Lebens hinreißen. Als scharfer, immer skeptischer Beobachter suchte er mit schonungsloser Ehrlichkeit alles Unechte und Scheinhafte bei sich selbst und anderen zu entlarven, wobei er sich bewusst gegen die herrschenden Zeitströmungen stellte. Sein leidenschaftliches Temperament und sein Hang zu geradlinigen, radikal vereinfachenden Formulierungen verleiteten ihn dabei oft zu Übertreibungen, Paradoxien, Widersprüchen und Trugschlüssen. Seine Lehre vom »Nichtwiderstehen dem Bösen« ist ein Ergebnis des Versuchs, aus dem sehr einseitig verstandenen Evangelientext ein reines Urchristentum zu rekonstruieren. Durch die Idealisierung des naturnahen Lebens und des »einfachen Volkes«, durch die Kritik der verlogenen gesellschaftlichen Konvention und des sozialen Unrechts sowie durch ein tiefes Misstrauen gegen alle intellektuellen Leistungen des Menschen gelangte Tolstoj zu einer Art Kulturnihilismus, indem er den Fortschritt, den Sinn der geschichtlichen Entwicklung, den Wert von Kunst und Wissenschaft und überhaupt jeder intellektuellen Tätigkeit leugnete und jegliche politische, soziale und kirchliche Organisation bekämpfte (1901 Ausschluss aus der orthodoxen Kirche). Sein Anarchismus war aber niemals ein zynisches uneingeschränktes Verneinen; dahinter stand immer ein tiefer Glaube an das Wirken Gottes in der Welt und das Bemühen, das wahre göttliche Gesetz zu ergründen.
Weitere Werke: Roman: Semejnoe sčast'e (1859; deutsch Familienglück).
Erzählungen: Utro pomeščika (1856; deutsch Der Morgen eines Gutsherrn); Tri smerti (1859; deutsch Drei Tode); Polikuška (1863; deutsch Polikuschka); Cholstomer (1885; deutsch Der Leinwandmesser); Narodnye rasskazy (1887; deutsch Volkserzählungen; darin u. a.: Wieviel Erde braucht der Mensch?); Chozjain i rabotnik (1895; deutsch Herr und Knecht); Chadži Murat (entstanden 1896-1904, herausgegeben 1911; deutsch Hadschi Murat); Posle bala (1903; deutsch Nach dem Ball).
Dramen: Plody prosveščenija (1891; deutsch Die Früchte der Bildung); I svet vo t'me svetit (entstanden 1896-1900, herausgegeben 1911; deutsch Und das Licht leuchtet in der Finsternis); Živoj trup (entstanden 1900, herausgegeben 1911; deutsch Der lebende Leichnam).
Schriften: V čem moja vera? (1885; deutsch Worin besteht mein Glaube?); Tak čto že nam delat'? (1886; deutsch Was sollen wir also thun?); Čto takoe iskusstvo? (1898; deutsch Was ist Kunst?); Rabstvo našego vremeni (1900; deutsch Die Sklaverei unserer Zeit); Ne mogu molčat' (1908; deutsch Ich kann nicht schweigen).
Ausgaben: Polnoe sobranie sočinenij, 90 Bände und Registerband (1928-64, Nachdruck 1972); Sobranie sočinenij, 22 Bände (1978-85).
Gesammelte Werke, herausgegeben von E. Dieckmann u. a., 20 Bände (1-81966-87); Sämtliche Erzählungen, herausgegeben von G. Drohla, 8 Bände (21982); Die Romane, 10 Bände (1984); Ausgewählte Werke, herausgegeben von J. Perfahl, 4 Bände (1989); Pädagogische Schriften, herausgegeben von P. H. Dörr, 2 Bände (1994).
K. Hamburger: Leo Tolstoi (1950);
Bibliografija literatury o L. N. Tolstom, 1917-1973, hg. v. N. G. Šeljapina, 4 Bde. (Moskau 1960-78);
S. Laffitte: Leo Tolstoi et ses contemporains (Paris 1972);
M. Braun: T. (1978);
D. R. u. M. A. Egan: Leo Tolstoy. An annotated bibliography of English-language sources to 1978 (Metuchen, N. J., 1979);
N. M. Fortunatov: Tvorčeskaja laboratorija L. Tolstogo (Moskau 1983);
W. Lettenbauer: T. (1984);
V. Schklowski: Leo Tolstoi (a. d. Russ., Neuausg. 1984);
S. A. Tolstaja: Tagebuch, 2 Bde. (Neuausg. 1986);
P. Citati: Leo Tolstoi. Eine Biogr. (a. d. Ital., Neuausg. 1994);
J. Lavrin: Lev Tolstoj (a. d. Engl., 131996);
M. Zurek: T.s Philosophie der Kunst (1996);
D. Rancour-Laferriere: Tolstoy on the couch. Misogyny, masochism and the absent mother (Basingstoke 1998);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Dostojewskij und Tolstoj und die russische Erzählkunst
Universal-Lexikon. 2012.