Hụsserl,
Edmund, Philosoph, * Proßnitz (Südmährisches Gebiet) 8. 4. 1859, ✝ Freiburg im Breisgau 27. 4. 1938; studierte Astronomie, Mathematik u. a. bei K. Weierstraß und Philosophie u. a. bei F. Brentano und C. Stumpf; seit 1901 Professor in Göttingen, seit 1916 in Freiburg im Breisgau, verlor 1936 den Professortitel wegen seiner jüdischen Abstammung.
Grundthema des von Husserl völlig neu gefassten Begriffs der Phänomenologie, der schon 1764 bei J. H. Lambert wichtig war, ist die Einheit des Bewusstseins in seinen verschiedenen Akten. Dabei ist nach Husserl Bewusstsein immer intentional, das heißt, es ist immer »Bewusstsein von etwas«. Es gilt, das »Wie« des Erscheinens der Phänomene im Bewusstsein in einer Wesensschau zu erfassen. Diesem Ziel hat Husserl viele Einzeluntersuchungen gewidmet. In den »Logischen Untersuchungen« (1900-01, 2 Bände), durch die Husserl sofort weltberühmt wurde, machte er logische Konstanten und Operationen durch Rückführung auf anschauliche Gegebenheiten im Bewusstsein verständlich. Damit verbunden war die Zurückweisung des Psychologismus. Es folgten ausgedehnte Studien zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins. Die »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« (1913) markierten den Anfang der transzendentalen Bewusstseins- und Ichphilosophie bei Husserl; Methode dabei ist die transzendentale Reduktion, das heißt die Betrachtung der Bewusstseinsakte hinsichtlich ihrer Gegebenseinsweise unter Auslassung aller Seinssetzungen (Epoche̲). Jede Wirklichkeit steht in Korrelation zum Bewusstsein und wird von ihm konstituiert. Die ursprünglich intuitive Selbstgegebenheit des Bewusstseins als »phänomenologische Sphäre« nennt Husserl das »Prinzip aller Prinzipien«. Das Problem der Intentionalität nicht nur des eigenen, sondern auch anderer Bewusstseine führt im Zusammenhang mit der Frage nach der Konstitution einer objektiven Welt zu Husserls Intersubjektivitätstheorie, die in der Lehre von der konkreten transzendentalen Intersubjektivität als Inbegriff aller möglichen Intentionen gipfelt (»Cartesianische Meditationen«, 1929-32).
Die Verbindung des Intersubjektivitätsproblems mit dem der »natürlichen Einstellung« als naiven Seins- und Weltglaubens des natürlichen Bewusstseins führte Husserl in späteren Jahren zur Lehre von der Lebenswelt. Lebenswelt bezeichnet den Typ einfachster menschlicher Orientierung; sie vollzieht sich vortheoretisch, praktisch und in einem überschaubaren Verkehrskreis konkreter Subjekte. Sie erweist sich als eine stets präsente Schicht auch in entwickelteren Formen der Orientierung und bildet genetisch die Vorstufe höherer Entwicklungen. Erst nach Analyse der Lebenswelt als ursprünglichen Welthorizont kann die letzte transzendentale Reduktion auf die transzendentale Intersubjektivität vollzogen werden. Die genetische Perspektive hat Husserl auch für die Begründung der Logik in »Formale und transzendentale Logik« (1929) und »Erfahrung und Urteil« (1939) fruchtbar gemacht. Sein Spätwerk entwickelte sich in Richtung auf eine philosophische Anthropologie in transzendentaler Perspektive mit kritischer Stoßrichtung gegen den Naturalismus. - Pater Leo van Breda gründete 1938 in Löwen (Belgien) das Husserl-Archiv, das seit 1950 Husserls Gesammelte Werke (»Husserliana«, Abkürzung Hua, bisher 28 Bände) herausgibt; Husserl-Archive bestehen auch in Freiburg im Breisgau, Köln und Paris. Seit 1984 erscheint in Den Haag die Zeitschrift »Husserl Studies« (herausgegeben von J. N. Mohanty u. a.).
Weitere Werke: Philosophie der Arithmetik (1891); Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1928); Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936); Phänomenologische Psychologie. Vorlesungen. .. 1925 (herausgegeben 1962).
P. Janssen: E. H. (1976);
K. Schuchmann: H.-Chronik. Denk- u. Lebensweg E. H.s (Den Haag 1977);
F. Lapointe: E. H. and his critics, an international bibliography 1894-1974 (Bowling Green, Oh., 1980);
H. J. Pieper: Zeitbewußtsein u. Zeitlichkeit (1993).
Universal-Lexikon. 2012.