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Brentano
Brentano,
 
ursprünglich lombardischer Adelsfamilie, die als de Brẹnta 1282 urkundlich genannt ist und seit dem 14. Jahrhundert in vier Linien (Toccia, Gnosso, Tremezzo und Cimaroli) begegnet. Die erste und die letzte Linie sind erloschen, Angehörige der Linie Tremezzo waren seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland (u. a. in Frankfurt am Main) ansässig. 1888 erfolgte die hessische Adelsanerkennung als »von Brentano di Tremezzo«. Bedeutende Mitglieder der Linie Tremezzo:
 
 1) Bernard von, Schriftsteller, * Offenbach am Main 15. 10. 1901, ✝ Wiesbaden 29. 12. 1964, Bruder von 5); war 1925-30 Berliner Korrespondent der »Frankfurter Zeitung«, 1933-49 als Emigrant in der Schweiz; schrieb u. a. sozialkritische Romane, so den Familienroman »Theodor Chindler« (1936); stilistisch vom späten T. Fontane beeinflusst.
 
Weitere Werke: Romane und Erzählungen: Berliner Novellen (1934); Prozeß ohne Richter (1937); Die ewigen Gefühle (1939); Franziska Scheler (1945); Die Schwestern Usedom (1948).
 
Lyrik: Die Gedichte an Ophelia (1924).
 
Dramen: Geld (1924); Phädra (1939, Neufassung 1948).
 
Essays: Kapitalismus und schöne Literatur (1930); Beginn der Barbarei in Deutschland (1932); Tagebuch mit Büchern (1943); Streifzüge (1947); Wo in Europa ist Berlin? (herausgegeben 1981).
 
Verserzählungen: Das unerforschliche Gefecht (1946, auch unter dem Titel Martha und Maria).
 
Biographien: August Wilhelm Schlegel (1943, erweitert 1949); Goethe und Marianne von Willemer (1945, auch unter dem Titel Daß ich eins und doppelt bin); Sophie Charlotte und Danckelmann (1950).
 
Autobiographie: Du Land der Liebe (1952).
 
 2) Bettina, Arnim, Bettina von.
 
 3) Clemens, Dichter, * Ehrenbreitstein (heute zu Koblenz) 9. 9. 1778, ✝ Aschaffenburg 28. 7. 1842, Sohn von 8), Bruder von Bettina von Arnim. Brentano ist neben Achim von Arnim ein Hauptvertreter der jüngeren Romantik. Er trat als Student in Jena mit dem Kreis der Frühromantiker in Verbindung, lernte auch Wieland, Herder und Goethe kennen. Der »verwilderte«, als lockere Brieffolge angelegte Roman »Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter« (1800-01) ist ein Aufbegehren gegen bürgerliche Moralkonventionen. Das Verhältnis zu der Professorengattin Sophie Mereau (die sich 1801 scheiden ließ und Brentano 1803 heiratete) galt den Zeitgenossen als abschreckendes Beispiel freier »romantischer« Lebensweise. In Göttingen schloss Brentano Freundschaft mit Arnim, der 1811 seine Schwester Bettina heiratete. Mit ihm gab er 1805-08 in Heidelberg die Sammlung »Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder« mit Volks- und Kunstliedern, die beide häufig selbst bearbeiteten, heraus. Brentano trug auch zu Arnims »Zeitung für Einsiedler« (als Buch: »Trösteinsamkeit«, 1808) bei, schrieb Gedichte, Märchen und Erzählungen. Nach dem Tod Sophies 1806 ging Brentano eine neue, unglückliche Ehe mit der 16-jährigen Auguste Bussmann ein (1812 geschieden). Er wurde 1809 in Berlin mit Arnim, F. Fouqué, H. von Kleist Mitglied der »Christlich-Teutschen Tischgesellschaft«. Brentano lebte später auf einem Familiengut in Böhmen, in Wien, Berlin, Frankfurt am Main, München. Durch Luise Hensel, mit der ihn eine unerfüllte Liebe verband, wandte er sich 1817 dem katholischen Mystizismus zu. 1819-24 weilte er häufig am Krankenbett der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick in Dülmen (bei Münster), nach ihrem Tod zeichnete er ihre Visionen auf (u. a. in »Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi«, 1833).
 
Brentanos Bedeutung liegt in erster Linie in seinen Erzählungen und Märchen sowie den Gedichten, die häufig in diesen enthalten sind. Die Märchen sind bewusst als Kunstmärchen angelegt, in denen sich - im Gegensatz zu den Volksmärchen der Brüder Grimm - volkstümliche mit ironischen und satirischen Elementen verbinden. Die frühen Gedichte sind vielfach geprägt von Musikalität und Rhythmik (zahlreiche Vertonungen), aber auch bereits von artistischer Formgebung. In einer Schaffens- und Sprachkrise (seit 1811) verlor Brentano das Vertrauen in das poetische Wort, danach entstanden v. a. religiöse Lieder sowie - in der Spätzeit - Liebesgedichte (an die Malerin Emilie Linder) und einige hochartifizielle Gedichte, die auf die Moderne weisen. Die religiösen Schriften wurden viel übersetzt und waren als Andachtsliteratur verbreitet.
 
Weitere Werke: Gedichte (herausgegeben 1854).
 
Märchen und Erzählungen: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817); Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter (1817); Aus der Chronika eines fahrenden Schülers (1818, Urfassung erst 1923 herausgegeben); Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838).
 
Schauspiele: Gustav Wasa (1800); Ponce de Leon (1804); Die Gründung Prags (1815).
 
Epos: Romanzen vom Rosenkranz (1852, unvollendet).
 
Ausgaben: Sämtliche Werke und Briefe, historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von J. Behrens, W. Frühwald, D. Lüders (1975 folgende; erschienen bis 1986: 16 Bände, mit Kommentaren); Werke, herausgegeben von F. Kemp, 4 Bände (2-31978-80); Der andere Brentano, herausgegeben von H. Boëtius (1985).
 
Briefe an Emilie Linder, herausgegeben von W. Frühwald (1970); Briefwechsel C. Brentano Sophie Mereau, herausgegeben von D. von Gersdorff (1981).
 
Literatur:
 
W. Hoffmann: C. B. (1966);
 B. Gajek: Homo poeta (1971);
 H. M. Enzensberger: B.s Poetik (Neuausg. 1973);
 W. Frühwald: Das Spätwerk C. B.s (1977);
 
B.-Chronik, bearb. v. K. Feilchenfeldt (1978);
 
C. B., hg. v. D. Lüders (1980);
 J. Fetzer: C. B. (Boston, Mass., 1981);
 H. M. Kastinger-Riley: C. B. (1984);
 G. Brandstetter: Erotik u. Religiosität. Eine Studie zur Lyrik C. B.s (1986);
 
C. B. 1778-1842. Zum 150. Todestag, hg. v. Hartwig Schultz (Bern u. a. 1993).
 
 4) Franz, Philosoph, * Marienberg bei Boppard 16. 1. 1838, ✝ Zürich 17. 3. 1917, Bruder von 7), Neffe von 3); 1864 zum Priester geweiht, trat er 1873 aus dogmatischen Gründen (Ablehnung der Dogmen der Trinität und der päpstlichen Unfehlbarkeit) aus der katholischen Kirche aus; lehrte 1874-95 Philosophie an der Universität in Wien. Von Studien über Aristoteles ausgehend, entwickelte Brentano eine auf der Basis empirisch-naturwissenschaftlichen Methodik aufbauende, jedoch nicht metaphysikfeindliche Philosophie, in deren Rahmen die Psychologie Grundwissenschaft ist. Deren Aufgabe sieht Brentano darin, die psychischen Phänomene erkenntnis- und sprachkritisch zu analysieren und zu klassifizieren. Mit seiner Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins, nach der alle seelischen Erscheinungen (Vorstellungen, Urteile, Gemütsbewegungen) auf außerhalb des Bewusstseins liegende Gegenstände gerichtet sind, wurde Brentano zu einem Begründer der neueren Aktpsychologie. Evidenz als keines Beweises bedürfende Gewissheit kommt der inneren Wahrnehmung und in der Logik als Wahrheitskriterium dem Urteil zu. Brentano übte v. a. auf die Phänomenologie (E. Husserl) und die Gegenstandstheorie (A. Meinong) sowie mit seinen Untersuchungen zum Urteil und damit zur Logik der Sprache auch auf die Sprachphilosophie (B. Russell, G. E. Moore) Einfluss aus.
 
Werke: Die Psychologie des Aristoteles, insbesondere seine Lehre vom nus poietikos (1867); Psychologie vom empirischen Standpunkte (1874); Vom Ursprung sittlichen Erkenntnis (1889); Aristoteles und seine Weltanschauung (1911); Grundlegung und Aufbau der Ethik (herausgegeben 1952); Religion und Philosophie. Ihr Verhältnis zueinander und ihre gemeinsamen Aufgaben (herausgegeben 1954); Die Lehre vom richtigen Urteil (herausgegeben 1956); Grundzüge der Ästhetik (herausgegeben 1959); Geschichte der griechischen Philosophie (herausgegeben 1963); Die Abkehr vom Nicht-Realen (herausgegeben 1966); Deskriptive Psychologie (herausgegeben 1982).
 
Literatur:
 
O. Kraus u. a.: F. B. Zur Kenntnis seines Lebens u. seiner Lehre (1919);
 A. Kastil: Die Philosophie F. B.s (Bern 1951);
 
The philosophy of B., hg. v. L. L. McAlister (London 1976, mit Bibliogr.);
 
Die Philosophie B.s, hg. v. R. M. Chisholm u. R. Haller (Amsterdam 1978);
 D. Münch: Intention u. Zeichen. Unterss. zu F. B. u. zu Edmund Husserls Frühwerk (1993).
 
 5) Heinrich von, Politiker, * Offenbach am Main 20. 6. 1904, ✝ Darmstadt 14. 11. 1964, Bruder von 1); Rechtsanwalt, Mitgründer der CDU in Hessen, 1946-49 dort Mitglied des Landtags, 1948/49 Mitglied des Parlamentarischen Rats, 1949-64 Mitglied des Bundestags, war 1949-55 und 1961-64 Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, 1955-61 Außenminister, vertrat entschieden die außenpolitische Konzeption K. Adenauers. Brentano beteiligte sich maßgeblich an der Ausarbeitung der Römischen Verträge.
 
Ausgabe: Deutschland, Europa und die Welt. Reden zur deutschen Außenpolitik, herausgegeben von F. Böhm (1962).
 
 6) Lorenz Peter Karl, Politiker, * Mannheim 14. 11. 1813, ✝ Chicago (Illinois) 17. 9. 1891; Rechtsanwalt, wurde 1845 Mitglied der badischen Zweiten Kammer, 1848 der Frankfurter Nationalversammlung. Im Mai 1849 stellte er sich an die Spitze der provisorischen Regierung in Baden, scheiterte wegen seiner Kompromissbereitschaft bald an den Forderungen der Radikalen um G. von Struve. Der nach dem Fehlschlagen der Revolution in die Schweiz geflohene Brentano wurde 1850 in Abwesenheit zum Tode verurteilt; er wanderte in die USA aus, wo er 1876 in den Kongress gewählt wurde.
 
 7) Lujo (eigentlich Ludwig Josef), Volkswirtschaftler und Sozialpolitiker, * Aschaffenburg 18. 12. 1844, ✝ München 9. 9. 1931, Bruder von 4); Professor u. a. in Wien, Leipzig, München, neben G. Schmoller und A. Wagner führender Vertreter der sozialpolitischen Richtung der Nationalökonomie (Kathedersozialismus), war Mitbegründer des »Vereins für Socialpolitik« (1872) und trat für Gewerkschaften, Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen sowie Freihandel ein.
 
Werke: Die Arbeitergilden der Gegenwart, 2 Bände (1871-72); Über das Verhältniß von Arbeitslohn und Arbeitszeit zur Arbeitsleistung (1876); Die klassische Nationalökonomie (1888); Das Freihandelsargument (1901); Die deutschen Getreidezölle (1910); Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, 3 Bände (1927-29); Mein Leben im Kampf um die soziale Entwicklung Deutschlands (1931).
 
 8) Maximiliane, * Mainz 31. 5. 1756, ✝ Frankfurt am Main 19. 11. 1793, Mutter von 2) und 3); Tochter der Schriftstellerin Sophie von La Roche, der Jugendfreundin C. M. Wielands. Ihre unglückliche Ehe mit dem Frankfurter Kaufmann Pietro Antonio Brentano (* 1735, ✝ 1797) fand literarischen Niederschlag in Goethes »Werther«.

Universal-Lexikon. 2012.