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Leben-Jesu-Forschung
Leben-Jesu-Forschung,
 
in der Theologie Bezeichnung für die von der Aufklärung inspirierte, seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zunächst von evangelischen Theologen betriebene wissenschaftliche Untersuchung des Lebens Jesu anhand der biblischen und außerbiblischen Quellen. Die Klärung der Frage, inwieweit die Evangelien des Neuen Testaments als zuverlässige Quellen für eine Rekonstruktion des Lebens des historischen Jesus gelten können, war dabei von grundsätzlicher Bedeutung und führte in der Folge zur Entwicklung der Methoden der historisch-kritischen Exegese.
 
Am Anfang der Leben-Jesu-Forschung steht H. S. Reimarus' »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, aus der G. E. Lessing die »7 Fragmente eines Ungenannten« veröffentlichte (1774-78; besonders »Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger«, 1778). Reimarus betonte darin den Unterschied zwischen der Lehre Jesu selbst und der Lehre der Apostel als Verfasser der Schriften des Neuen Testaments. Die Wunder Jesu und seine Auferstehung wurden rationalistisch-naturalistisch gedeutet, die Historizität der Person Jesu jedoch noch nicht infrage gestellt. Hervorgehoben wurden seine Bedeutung als vorbildlicher Tugendlehrer und die Vernunftgemäßheit seiner Lehre.
 
D. F. Strauss (»Das Leben Jesu«, 2 Bände, 1835-36; liberal-populäre Überarbeitung 1864) führte das »Mythische« als eine neue Deutungskategorie in die Leben-Jesu-Forschung ein. Im Geist des Hegelianismus sah er das Mythische, das Ungeschichtliche in der neutestamentlichen Darstellung Jesu als Ausdruck der graduellen Realisierung der ewigen Idee des Gottmenschen in der historischen Person Jesus, wobei der (historische) jüdische Prediger Jesus gegenüber »Christus« als Kristallisationspunkt der Mythenbildung und ewiger Wahrheiten letztlich kaum noch von Bedeutung war.
 
B. Bauer (»Christus und die Caesaren«, 1877) und A. Drews (»Die Christusmythe«, 1909), die Jesus als romanhafter Figur der Urkirche jede Historizität absprachen, kehrten Strauss' Interpretation um: Nicht die geschichtliche Person habe den religiösen Mythus bewirkt, sondern ein ewiger Mythus sei durch die Evangelisten zur geschichtlichen Gestalt geformt worden.
 
Neue Maßstäbe erwuchsen aus der methodischen Quellenkritik an den Evangelien (Zweiquellentheorie). Wichtig wurde die Auffassung, dass das Johannesevangelium aufgrund seiner theologischen Intentionen als Quelle für den historischen Jesus ausfalle und das Markusevangelium im Wesentlichen die Hauptquelle für das Matthäus- und das Lukasevangelium bilde. Die Hypothese, dass ein »Urmarkus« als historische Quelle den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) zugrunde liege (C. H. Weiße, »Die evangelistische Geschichte«, 2 Bände, 1838; Christian Gottlob Wilke [* 1786, ✝ 1854], »Der Urevangelist«, 1838), stellte die strikte Trennung von historischem Jesus und »Christus des Glaubens« wieder infrage. Idee und Historisches wurden als engere Relation erkannt und die Evangelien als nicht direkte, aber mittelbare historische Quelle angesehen, die doch Aufschluss über ein positiv-geschichtlicher Moment geben könne: »Das Charakterbild Jesu« (Georg Daniel Schenkel [* 1813, ✝ 1885], 1864). Diese neue Sichtweise führte zu einem liberalen, die ethischen Aspekte betonenden Jesusbild (H. J. Holtzmann, B. Weiß). Große Popularität erlangte E. Renans »Vie de Jésus« (1862; deutsch »Das Leben Jesu«), das auf romanhafte, unwissenschaftliche und methodisch fragwürdige Art die Ergebnisse der Leben-Jesu-Forschung harmonisierte.
 
Die religionsgeschichtliche Schule fragte vor dem Hintergrund der zeitgenössischen religiösen Situation Jesu erneut nach seinem Selbstbewusstsein und unterzog das liberale Jesusbild einer vernichtenden Kritik. Man erkannte die Verwurzelung Jesu in der jüdischen Apokalyptik und die theologische Prägung auch des Markusevangeliums, die es als historische Quelle wiederum fragwürdig machte. A. Schweitzer (»Von Reimarus zu Wrede. Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, 1906) kam zu dem Schluss, dass jeder Versuch, sich dem historischen Jesus anzunähern, zum Scheitern verurteilt sein müsse. Nicht die historisch feststellbaren Daten seien das Wesentliche, sondern die Tatsache, dass sich in ihm eine tiefe religiöse Sittlichkeit mit spätjüd. Eschatologie verbinde. Neue methodische Anstöße gab die Weiterentwicklung der historisch-kritischen Exegese durch die Formgeschichte (M. Dibelius, K. L. Schmidt, R. Bultmann) und Redaktionsgeschichte (H. Conzelmann, G. Bornkamm, E. Käsemann, W. Marxen).
 
Auf katholischer Seite finden sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar zahlreiche historisierende Jesusbücher, die jedoch v. a. von pastoral-dogmatischen Intentionen bestimmt waren und den kritischen Fragen der Leben-Jesu-Forschung allenfalls apologetisch begegneten. Erst mit der 1943 von Papst Pius XII. veröffentlichten Enzyklika »Divino afflante Spiritu« über die Aufgaben der Bibelwissenschaft eröffnete sich katholischen Exegeten der Weg zur modernen Jesusforschung.
 
In den letzten Jahrzehnten setzten sich auch eine Reihe von jüdischen Autoren mit der geschichtlichen Gestalt Jesu auseinander (J. G. Klausner, S. Ben-Chorin, David Gustav Flusser [* 1917], P. Lapide, Geza Vermes). Die jüdische Interpretation tendiert zu einem Jesusbild, das die jüdische Herkunft und den jüdischen Hintergrund seines Wirkens betont (Jesus Christus).
 
Literatur:
 
D. F. Strauss: Das Leben Jesu, 2 Bde. (1835-36, Nachdr. 1984);
 W. Trilling: Fragen zur Geschichtlichkeit Jesu (31969);
 E. Käsemann: Exeget. Versuche u. Besinnungen, 2 Bde. (3-61970);
 
Jesus aux origines de la christologie, bearb. v. J. Dupont u. a. (Löwen 1975);
 D. Flusser: Die rabbin. Gleichnisse u. der Gleichniserzähler Jesus, auf mehrere Bde. ber. (Bern 1981 ff.);
 G. Vermes: Jesus the Jew (Neuausg. Philadelphia, Pa., 1981);
 D. A. Hagner: The Jewish reclamation of Jesus (Grand Rapids, Mich., 1984);
 A. Schweitzer: Gesch. der L.-J.-F. (91984);
 E. Hurth: In His name. Comparative studies in the quest for the historical Jesus. Life of Jesus research in Germany and America (Frankfurt am Main 1989);
 W. G. Kümmel: Vierzig Jahre Jesusforschung. 1950-1990 (21994);
 E. Schweizer: Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? (21996);
 G. Theißen: Der histor. Jesus. Ein Lb. (1996).

Universal-Lexikon. 2012.