Musil,
1) Alois, tschechischer Orientalist und Forschungsreisender, * Rychtářov (Mähren) 30. 6. 1868, ✝ Neuhof bei Sternberg (Otryby na Česky Šternberk, Nordmährisches Gebiet) 12. 4. 1944; wurde 1909 Professor in Wien und 1920 in Prag; erforschte und kartierte Arabien und Südmesopotamien, entdeckte Kusair Amra und verfasste die erste umfassende Studie über die Ruinenstätte Petra. - Im Ersten Weltkrieg vermittelte Musil im Dienst der Mittelmächte zwischen den verfeindeten Stämmen auf der Arabischen Halbinsel und suchte so den dortigen britischen Einfluss zurückzudrängen.
Werke: Ḳuṣejr `Amra u. a. Schlösser östlich von Moab (1902); Arabia Petraea, 4 Teile (1907-08); The manners and customs of the Rwala Bedouins (1928).
E. Feigl: M. von Arabien (Neuausg. 1988);
K. J. Bauer: A. M. (Wien 1989).
2) Robert Edler von (seit 1917), österreichischer Schriftsteller, * Klagenfurt 6. 11. 1880, ✝ Genf 15. 4. 1942; Erzähler, Essayist und Dramatiker; besuchte von 1892-97 militärische Bildungsinstitute, brach 1898 die Ausbildung auf der Technischen Militärakademie in Wien ab, um in Brünn Maschinenbau zu studieren (1901 Ingenieurstaatsprüfung); war 1902/03 Assistent an der Technischen Hochschule Stuttgart; studierte ab 1903 in Berlin Philosophie, Psychologie und Mathematik; schrieb 1908 eine Dissertation über E. Mach. Nach der Zeit als Bibliothekar an der Technischen Hochschule in Wien (1911-13) war Musil bis zum Kriegsausbruch Redakteur der »Neuen Rundschau« und Mitarbeiter der »Aktion« in Berlin; er war im Ersten Weltkrieg österreichischer Offizier und gab ab 1916 die »Südtiroler Soldatenzeitung« heraus, zuletzt im Kriegspressequartier tätig; bis 1922 Beamter im österreichischen Staatsdienst. Ab 1923 lebte Musil als freier Schriftsteller, Kritiker und Essayist in Berlin und Wien und emigrierte 1938 über Italien nach Zürich; 1939 übersiedelte er nach Genf, wo er vereinsamt und verarmt starb. Seine Werke waren seit 1938 in Deutschland und Österreich verboten.
Erste literarische Anerkennung fand Musil durch seinen Roman »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (1906); als psychologische Darstellung der Pubertätsproblematik rezipiert, bildet er darüber hinaus modellhaft autoritäre Gesellschaftsstrukturen und die Zusammenhänge zwischen psychischen Dispositionen und totalitären Institutionen ab. Hier findet sich auch das Problem einer autonomen Ichfindung des Subjekts im Spannungsfeld von Rationalität, Intellekt einerseits und Emotionalität und mystischer Welterfahrung andererseits. Dieses Grundthema seines gesamten literarischen Schaffens wurde dann in dem Fragment gebliebenen Hauptwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930-43, 3 Bände), an dem er fast zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tod schrieb, breit ausgeführt. Mit ideologiekritischer Ironie verarbeitete Musil darin das Entfremdungsphänomen bürgerlicher Intellektueller gegenüber der modernen Industriegesellschaft und der eigenen Subjektivität, modellhaft und gleichzeitig satirisch dargestellt anhand der untergehenden Donaumonarchie (»Kakanien«), deren geistiger Zusammenbruch in Chaos und Krieg führt. Der Held Ulrich, der »Mann ohne Eigenschaften«, dem das Mögliche mehr bedeutet als das jeweils Wirkliche, sucht im mystischen Liebeserleben die Utopie des »anderen Zustandes«, die Synthese zwischen Seele und Verstand. Die - zeitlich diskontinuierliche - Handlung ist aufgelöst in Gespräche, Debatten, Erörterungen, Kommentare, kulturkritische Abhandlungen, essayistische und wissenschaftliche Betrachtungen; einige Personen haben ihr Vorbild in berühmten Zeitgenossen (so Dr. Arnheim in W. Rathenau).
Obwohl der 1. Band des Romans auf lebhaftes Interesse stieß, wurde Musil nach seinem Tod zunächst vergessen. Erst mit der von A. Frisé 1952 besorgten Leseausgabe, deren Editionsprinzipien umstritten sind, setzte eine intensive Rezeption ein, die in Musil neben J. Joyce, M. Proust, T. Mann und H. Broch einen der großen Erneuerer des Romans im 20. Jahrhundert sieht.
Weitere Werke: Die Schwärmer (1921); Grigia (1923); Die Portugiesin (1923); Drei Frauen (1924); Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer (1924); Rede zur Rilke-Feier in Berlin am 16. 1. 1927 (1927); Nachlaß zu Lebzeiten (1936); Über die Dummheit (1937).
Ausgabe: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von A. Frisé, 3 Bände (1952-57); Theater. Kritisches und Theoretisches, herausgegeben von M.-L. Roth (1965); Briefe nach Prag, herausgegeben von B. Köpplova u. a. (1971); Gesammelte Werke, herausgegeben von A. Frisé, 9 Bände (1978); Tagebücher, herausgegeben von demselben, 2 Bände (Neuausgabe 1983); Frühe Prosa und aus dem Nachlaß zu Lebzeiten (104.-105. Tausend 1992); Wege zu Musil. Eine Auswahl aus seinen Texten, herausgegeben von A. Frisé (1992).
W. Bausinger: Studien zu einer hist.-krit. Ausg. von R. M.s Roman »Der Mann ohne Eigenschaften« (1964);
J. C. Thöming: R.-M.-Bibliogr. (1968);
H. Arntzen: M.-Komm., 2 Bde. (1980-82);
R. M., hg. v. R. von Heydebrand (1982);
S. Howald: Ästhetizismus u. ästhet. Ideologiekritik. Unters. zum Romanwerk R. M.s (1984);
R. M. Leben u. Werk in Bildern u. Texten, hg. v. K. Corino (1988);
R. M. Dichter, Essayist, Wissenschaftler, hg. v. H.-G. Pott (1993);
M. Luserke: R. M. (1995);
T. Pekar: R. M. zur Einf. (1997);
W. Berghahn: R. M. (202001);
Universal-Lexikon. 2012.