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Zwillingsforschung
Zwịl|lings|for|schung 〈f. 20; unz.〉 Untersuchung der biolog. u. psych. Merkmale von Zwillingen

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I
Zwillingsforschung,
 
Zwillingsmethode, Arbeitsmethode der Humangenetik und der Psychologie, die sich mit der Untersuchung der physischen und psychischen Gleichartigkeit oder Verschiedenheit von Merkmalen bei Zwillingen beschäftigt, um Erkenntnisse über die Einflüsse von Umwelt (Milieu) und genetischen Anlagen auf ein Merkmal oder das Erscheinungsbild (Phänotyp) zu gewinnen.
 
Die Stabilität oder Bildbarkeit von Erbanlagen wird v. a. an eineiigen Zwillingen studiert, die getrennt voneinander aufgewachsen sind. Während sich dabei für eine Reihe körperlicher Eigenschaften, z. B. Augenfarbe, Blutgruppe und Körpergröße, eine vollständige Erbabhängigkeit nachweisen ließ, führte die Beobachtung psychische Eigenschaften zu differenzierteren Ergebnissen. Eine weitgehende Übereinstimmung konnte hinsichtlich der Intelligenz und der grundlegenden Persönlichkeitsstruktur nachgewiesen werden. Jedoch können getrennt aufwachsende eineiige Zwillinge in Abhängigkeit von den jeweiligen Umweltbedingungen ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten (z. B. Interessen) entwickeln (deren Übereinstimmung aber in der Regel höher ist als bei zusammen aufwachsenden zweieiigen Zwillingen).
 
Methodisch wird der Einfluss von Anlagen und Umwelt auf die Varianz eines Merkmals durch Vergleich der Ähnlichkeit zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen oder durch Beobachtung gemeinsam und getrennt aufwachsender eineiiger Zwillinge untersucht. Je konkreter die Merkmale dabei gemessen werden können, desto verlässlicher gelingt die Prüfung, denn komplexe Eigenschaften können sich aus mehreren, mehr oder weniger erbabhängigen Merkmalen zusammensetzen. Langzeitstudien an Zwillingen zeigen zudem, dass für psychische Faktoren und ihre Entwicklung das Vorherrschen der sozialen oder der Erbfaktoren mit Geschlecht und Lebensalter schwanken kann. Extra- und Introversion sowie Dominanz und Submissivität weisen jedoch auf eine hohe und altersunabhängige Erbabhängigkeit hin. Zwillinge, die sich stark ähneln oder stark aneinander hängen, ähneln sich psychisch nicht mehr als andere Geschwister; die psychische Ähnlichkeit richtet sich nach der biologischen Ähnlichkeit. Getrennt aufwachsende eineiige Zwillinge sind sich manchmal ähnlicher als gemeinsam aufwachsende, weil Letztere oft versuchen, sich voneinander zu unterscheiden (Polarisierungseffekt). Es zeigte sich jedoch, dass der Reifungsprozess auch bei eineiigen Zwillingspartnern niemals vollkommen identisch verläuft. Für viele psychische Störungen wurden durch Studien an eineiigen Zwillingen Erbfaktoren als wesentlich, wenn auch durch soziale Einflüsse modifiziert erkannt. Bei Schizophrenie sind eineiige Zwillinge viermal häufiger übereinstimmend (konkordant) als zweieiige Zwillinge (40 % der eineiigen Zwillinge sind nicht identisch, d. h. diskonkordant). Bei manischen und depressiven Erkrankungen (affektiven Störungen) sind eineiige Zwillinge zu 50-90 % konkordant, zweieiige Zwillinge zu 17-24 %; bei spezifischen Angst- oder Zwangsstörungen sind eineiige Zwillinge zu 74 % konkordant, zweieiige Zwillinge zu 18 %, bei Anorexien sind eineiige Zwillinge zu 37-56 % konkordant, zweieiige Zwillinge zu 4-7 %. Die Konkordanz sowohl von eineiigen als auch von zweieiigen Zwillingen für Alkoholkrankheit ist gering; für konkretere Komponenten (Trinkhäufigkeit und -menge, Kontrollverlust sowie Folgekrankheiten) zeigen Zwillingsbefunde genetischer Mitursachen.
 
Die Zwillingsforschung geht auf F. Galton zurück. Galton untersuchte v. a. psychische Merkmale der normalen Persönlichkeit, da es ihm besonders um den Nachweis der Erblichkeit auch von »Talent und Charakter« ging. Die »Zwillingspathologie« wurde 1924 durch Hermann Werner Siemens (* 1891, ✝ 1969) durch sein Werk »Die Zwillingspathologie, ihre Bedeutung, ihre Methodik, ihre bisherigen Ergebnisse« begründet und von Hans Luxemburger (* 1894, ✝ 1976) u. a. in die Psychiatrie eingeführt.
 
Literatur:
 
R. Zazzo: La méthode des jumeaux, 2 Bde. (Paris 1960);
 H. Schepank: Erb- u. Umweltfaktoren bei Neurosen. Tiefenpsycholog. Unterss. an 50 Zwillingspaaren (1974);
 
Twin research. Proceedings of the. .. International Congress of Twin Studies. .., hg. v. W. E. Nance, 9 Tle. (New York 1978-83);
 E. Zerbin-Rudin: Ätiologie/Bedingungsanalyse, in: Lb. Klin. Psychologie, hg. v. U. Baumann u. a., Bd. 1 (1990);
 M. C. Neale u. L. R. Cardon: Methodology for genetic studies of twins and families (Dordrecht 1992).
II
Zwillingsforschung,
 
Die humangenetische Zwillingsforschung untersucht an eineiigen Zwillingen und Drillingen, u. a. mit statistischen Methoden, inwieweit körperliche Merkmale, Veranlagung (Disposition) für bestimmte Erkrankungen und Persönlichkeitsmerkmale einschließlich geistiger Fähigkeiten und Begabungen eine genetische Festlegung haben oder ob bei ihrer Entwicklung ein starker Einfluss der Umwelt vorliegt. Ihr Begründer ist der britische Naturforscher Sir Francis Galton. Besonders aufschlussreich sind Untersuchungen bei eineiigen Zwillingen, die zu einem frühen Zeitpunkt getrennt wurden und ohne Kontakt miteinander aufwuchsen, wenn sich bei Merkmalen eine hohe Übereinstimmung (Konkordanz) oder das Gegenteil (Diskordanz) im Vergleich mit der Variationsbreite bei zweieiigen Zwillingen zeigt.
 
Siehe auch: Vererbung.

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Zwịl|lings|for|schung, die: [human]genetische Forschungsrichtung, die untersucht, ob u. inwieweit Merkmalsunterschiede erbbedingt sind od. von Umwelteinflüssen herrühren.

Universal-Lexikon. 2012.