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Historische Anthropologie
Historische Anthropologie,
 
Forschungsrichtung, die mit interdisziplinären Mitteln und vor dem Hintergrund der philosophischen Anthropologie, der Kultur- und Sozialanthropologie sowie der von der Schule der Annales angeregten Mentalitätsgeschichte menschlichen Lebens-, Ausdrucks- und Darstellungsformen in ihrer zeitlichen und räumlichen Vielfalt und Komplexität untersucht. Sie analysiert die Gemeinsamkeiten beziehungsweise Ähnlichkeiten sowie die Unterschiede in den Handlungs- und Verhaltensweisen, Befindlichkeiten und Einstellungen, Deutungen und Imaginationen der Menschen in den jeweiligen historisch-sozialen Zusammenhängen und befasst sich in vergangenen und gegenwärtigen Kulturen mit dem Fremden und Vertrauten. Die Historische Anthropologie, die eine Abkehr von der Beschäftigung mit abstrakten anthropologischen Konstanten darstellt und einer objektivistischen historischen Sozialwissenschaft sowie einer ahistorischen Kulturanthropologie entgegenwirkt, verkörpert somit eine relativ neue, veränderte Art und Weise historischen Erkennens und eine konzeptionelle Erweiterung in Wechselwirkung mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere den Kultur-, Human- und Sozialwissenschaften. Bislang keine Disziplin mit festen Grenzen, bemüht sie sich um einen umfassenden Blick auf die Menschen in ihrer Geschichte; ihr Interesse gilt der »histoire de l'homme totale« (J. Martin). Sie thematisiert - unter verschiedenen Aspekten und mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen - die sich wandelnden Möglichkeiten menschlicher Existenz in bestimmten Epochen, unter sich verändernden Herrschaftsformen, in bestimmten sozialen Gruppen und Schichten, wobei v. a. auch geschlechts- (Mann, Frau) und generationsbedingte Spezifika (jung, alt; Kind, Jugendlicher, Erwachsener) sowie die menschliche Konstitution (z. B. Gesundheit, Krankheit) Beachtung finden und die Rituale, Bräuche sowie symbolische Handlungen als »Innenseite« der Gesellschaft ins Blickfeld geraten. Von der Historischen Anthropologie bestehen enge Bindungen zur Alltagsgeschichte (Alltag) und Mikrogeschichte (u. a. Arbeiten von A. Lüdtke, H. Medick, C. Ginzburg, E. Le Roy Ladurie, D. Sabean); besondere Aufmerksamkeit finden die »Unterschichten« und gesellschaftlichen Randgruppen, denen aus den teildisziplinären Blickwinkeln der Forschung zuvor kaum oder gar kein Subjektcharakter zugeschrieben wurde. Das Interesse gilt in starkem Maße dem kleinen, »dicht« beschreibbaren Wirklichkeitsausschnitt (in Anlehnung an das Konzept der »dichten Beschreibung« von C. Geertz), ohne die makrogeschichtlichen Entwicklungen und übergreifenden Strukturen außer Acht zu lassen. Gestützt auf die deutsche »historische Volkskunde« entwickelte sich im Rahmen der Historischen Anthropologie die Erforschung der Volkskultur (N. Schindler, R. van Dülmen), durch die im Sinne einer »Geschichte von unten« aus der Perspektive des Volkes Erfahrungen des Wandels und der Tradition sichtbar gemacht und in Beziehung zur »Herrschaftskultur« gesetzt werden. Es konstituierte sich eine »historische Verhaltensforschung« (A. Nitschke). Starke Impulse gingen von der Historischen Anthropologie auf die historische Frauenforschung aus (u. a. Studien von N. Z. Davis).
 
Die Historische Anthropologie steht im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Humanwissenschaften; Annäherungs- beziehungsweise Kontaktmöglichkeiten ergeben sich durch eine Historisierung der Anthropologie oder durch eine Anthropologisierung der Geschichte. Ersteres stellt an den Historiker die Anforderung, anthropologische Grundannahmen über die menschliche Natur als geschichtlich bedingt zu analysieren, wobei sich die Forschung besonders auf die Geschichte der Gefühle und des menschlichen Körpers (Geburt, Tod, Krankheit u. a.) konzentriert und dadurch die Nähe zur Mentalitätsgeschichte sowie zu psychologischen und sozialpsychologischen Problemstellungen gegeben ist (paradigmatisch dafür das Hauptwerk von N. Elias »Über den Prozeß der Zivilisation«, 1939, Neuausgabe 1969). Bei einer Anthropologisierung der Geschichte, also einer Instrumentalisierung anthropologischer Tatbestände für historische Untersuchungen, kommen Forschungsansätze zur Geltung, die sich an - im interkulturellen Vergleich ermittelten oder theoretisch angenommenen - biologischen, medizinischen, rechtlichen und religiösen »Universaltypen« orientieren (z. B. Rolle und Funktion des Vaters, Sanktionierung des Rechts durch Tradition).
 
Während sich z. B. in Frankreich die Historische Anthropologie in der unmittelbaren Tradition der Schule der »Annales« schon längere Zeit universitär etabliert hat (programmatisch der »Nouvelle Histoire« zugeordnet), kam es in Deutschland erst während der 1970er-Jahre zu einer stärkeren Annäherung zwischen der anthropologischen und historischen Forschung. Ein Schritt in diese Richtung war u. a. die Gründung des Freiburger Instituts für Historische Anthropologie (1975); später bildete sich in Göttingen ein historisch-anthropologisch orientierter Forscherkreis zur Untersuchung der »Protoindustrialisierung«, in Berlin entstand ein Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie.
 
Literatur:
 
Nachschlagewerke und Handbücher: H. A. Der Mensch in der Gesch., hg. v. H. Süssmuth (1984);
 L. Scholze-Irrlitz: Moderne Konturen histor. Anthropologie (1994);
 
Vom Menschen. Hb. H. A. hg. v. C. Wulf (1997).
 
Zeitschriften: Internat. Ztschr. für H. A. (1992 ff.); H. A. Kultur, Gesellschaft, Alltag (1993 ff.).

Universal-Lexikon. 2012.