Kirchengeschichtsschreibung,
die schriftliche Darstellung der Kirchengeschichte; theologisch verstanden als Darstellung der Wirkungen des Evangeliums in den jeweils konkreten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenhängen der Zeit. In der frühen Kirche unkritisch und apologetisch, nach der Reformation im Sinne des Konfessionalismus oft polemischen Charakters, ist die heutige Kirchengeschichtsschreibung meist um kritische (aus kirchlicher Sicht selbstkritische) Reflexion der historischen Entwicklung der Kirchen bemüht.
Erste Ansätze zu einer Kirchengeschichtsschreibung finden sich bereits in der Apostelgeschichte des Neuen Testaments. Nach chronistischen Vorarbeiten von Julius Africanus und Hippolyt gilt als Beginn einer eigentlichen Kirchengeschichtsschreibung die »Ekklesiastike historia« des Eusebios von Caesarea. Ihren Hintergrund bildet die Aufwertung des Christentums unter Kaiser Konstantin I., der von Eusebios rückhaltlos verehrt und unterstützt wurde. Seine Kirchengeschichtsschreibung ist dementsprechend rein apologetisch motiviert und hat das Ziel, durch die Darstellung des wunderbaren Verlaufs der christlichen Geschichte - mit der Anerkennung durch Konstantin I. als Höhepunkt - die Wahrheit des Christentums gegenüber Juden und Heiden zu erweisen. Die 325 vollendete, zehn Bücher umfassende Kirchengeschichtsschreibung des Eusebios, die trotz ihrer apologetischen Tendenz v. a. durch die Verwendung mittlerweile verlorener Quellen aus den ersten drei Jahrhunderten von besonderem Wert ist, bildete ein Jahrtausend lang die Grundlage jeglicher Kirchengeschichtsschreibung. Das Werk wurde im 5. Jahrhundert von Rufinus ins Lateinische übersetzt und im Osten u. a. durch Sokrates Scholastikos, Sozomenos und Theodoretos von Kyrrhos weitergeführt. An diese schlossen sich im 6. Jahrhundert im Westen die lateinische Kompilation des Cassiodor, im Osten die Fortsetzung des Johannes von Ephesos an; Johannes Malalas (* um 491, ✝ um 577) eröffnete die Reihe der byzantinischen Chronisten. Im Abendland erweiterte Orosius im Gefolge des Augustinus 417/418 die Kirchengeschichtsschreibung zu einer apologetischen Weltgeschichte. Ihm folgten viele Chroniken des Mittelalters, das keine eigenständige Konzeption der Kirchengeschichtsschreibung entwickelte, sondern die aus dem Altertum überkommenen Werke, meist ohne kritische Reflexion, fortschrieb. Eine umfassende theologische Deutung der Geschichte bot das chiliastische Geschichtsmodell des Joachim von Fiore.
Die Konfessionalisierung im Gefolge der Reformation führte zur Herausbildung der Kirchengeschichtsschreibung i. e. S. Ausschlaggebend waren zunächst wiederum apologetische Tendenzen. Ein für die lutherische Orthodoxie grundlegendes Werk zur Kirchengeschichtsschreibung entstand seit 1559 unter der Leitung von M. Flacius (Magdeburger Zenturien). Auf katholischer Seite begründete im Gegenzug der Oratorianer Caesar Baronius (* 1538, ✝ 1607; Kardinal und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek) mit seinen »Annales ecclesiasticae« (1588-1607, 12 Bände) einen katholischen Typ von Kirchengeschichtsschreibung, der v. a. die Entwicklung der kirchlichen Hierarchie und ihr Wirken zum Thema hatte. Das zunehmende kirchenhistorische Interesse zeigte sich dann im 17./18. Jahrhundert in umfangreichen Quellensammlungen wie den Kirchenväterausgaben der Mauriner und den Acta Sanctorum der Bollandisten.
Nachdem der Pietist G. Arnold seine »Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. ..« (1699-1700, 2 Bände) herausgegeben und darin v. a. die von der katholischen Kirche verfolgten Ketzer und Schwärmer als die wahren Christen dargestellt hatte, legte J. L. von Mosheim eine erste umfassende, von der Aufklärung beeinflusste Darstellung der Geschichte der Kirche als »menschliche« Größe vor, deren Entwicklung von innerweltlichen Vorgängen bestimmt wird. Von der Geschichtsauffassung der Romantik beeinflusst sind die Schriften K. von Hases, vom hegelschen Geschichtsbegriff die Arbeiten F. C. Baurs.
Im Zuge des Aufblühens der historischen Wissenschaft im 19./20. Jahrhundert gewann auch die Kirchengeschichtsschreibung größeres Gewicht, im Vergleich zur Aufklärung jedoch wieder in stärkerer konfessioneller Ausrichtung. Ein Schwerpunkt der Forschung beider Konfessionen war die Geschichte der frühen Kirche. Es entstanden umfangreiche Quelleneditionen (v. a. die von J.-P. Migne herausgegebenen »Patrologiae«), Gesamtdarstellungen, thematische Monographien und Lehrbücher. Bedeutende deutschsprachige Kirchenhistoriker waren auf katholischer Seite J. I. von Döllinger, C. J. von Hefele, F. X. von Funk, A. Ehrhard, Karl Bihlmeyer (* 1874, ✝ 1942), Wilhelm Neuss (* 1880, ✝ 1965), F. X. Seppelt, L. von Pastor, H. Grisar, J. Lortz, H. Jedin, auf evangelischer Seite A. von Harnack, A. Hauck, K. Heussi, Karl Müller (* 1911), H. von Schubert (* 1859, ✝ 1931), K. Holl, H. Lietzmann, F. Loofs, A. Ritschl, E. Troeltsch.
Die orthodoxe Kirchengeschichtsschreibung ist weitgehend von dem Gedanken bestimmt, dass an den Ergebnissen der ersten sieben ökumenischen Konzile festzuhalten sei, und lehnt alle späteren Neuerungen (Neoterismoi) gerade im Bereich der westlichen Kirchen ab. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich die kirchengeschichtliche Arbeit v. a. in der russischen Orthodoxie verstärkt.
Die Kirche in ihrer Gesch., hg. v. Kurt D. Schmidt u. a., auf zahlr. Bde. ber. (1961 ff.);
Gesch. der Kirche, hg. v. L. J. Rogier u. a., 6 Bde. (a. d. Frz., 1963-77);
K. Bihlmeyer: Kirchengesch., 3 Bde. (181966-83);
P. Meinhold: Gesch. der kirchl. Historiographie, 2 Bde. (1967);
Quellenbuch zur Kirchengesch., hg. v. H. Schuster, 3 Bde. (91971-76);
H. Kupisch: Kirchengesch., 5 Bde. (1973-75);
Kirchengesch. in Einzeldarstellungen, hg. v. G. Haendler u. a., auf zahlr. Bde. ber. (1978 ff.);
Kirchen- u. Theologiegesch. in Quellen, hg. v. H. A. Obermann, 5 Bde. (1-31979-85);
Christentum u. Gesellschaft, auf zahlr. Bde. ber. (1980 ff.);
Gestalten der Kirchengesch., hg. v. M. Greschat, 14 Bde. (1981-85);
Ökumen. Kirchengesch., hg. v. R. Kottje u. a., 3 Bde. (3-41983);
V. Conzemius: Kirchengesch., in: Neues Hb. theolog. Grundbegriffe, hg. v. P. Eicher, Bd. 2 (1984);
Hb. der Kirchengesch., hg. v. H. Jedin, 11 Bde. (Neuausg. 1985);
Atlas zur Kirchengesch., hg. v. H. Jedin:(Neuausg. 1987);
W.-D. Hauschild: Lb. der Kirchen- u. Dogmengesch., Bd. 1: Alte Kirche u. MA. (1995);
H. Leppin: Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christl. Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus u. Theodoret (1996).
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Kịr|chen|ge|schichts|schrei|bung, die: schriftliche Darstellung der ↑Kirchengeschichte (a).
Universal-Lexikon. 2012.