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Abendland
Europa; Okzident; Westen; Alte Welt (umgangssprachlich)

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Abend|land ['a:bn̩tlant], das; -[e]s:
kulturelle Einheit der europäischen Völker; die westliche Welt:
das Abendland nennt man auch Okzident.

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Abend|land 〈n. 12u; unz.〉 Sy Okzident; Ggs Morgenland
1. 〈i. w. S.〉 die westl. Länder
2. 〈i. e. S.〉 die westl. Länder Europas

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Abend|land , das <o. Pl.> [zu Abend (3)]:
durch Antike u. Christentum geformte kulturelle Einheit der europäischen Völker; Europa; Alte Welt; Okzident.
Dazu:
Abend|län|der, der; -s, -;
Abend|län|de|rin, die; -, -nen.

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Abendland
 
[zu neuhochdeutsch Abend »Westen«], 1) im räumlichen Sinn Bezeichnung für die westlichen Länder Europas (von Italien aus gesehen), der Okzident, im Gegensatz sowohl zum »Morgenland«, dem Orient, als auch zum Teil zu den östlichen Ländern Europas; 2) geistesgeschichtliche Bezeichnung für den west- und mitteleuropäischen Kulturkeis, der sich im Mittelalter herausbildete und bis in die neuere Zeit Einheitlichkeit und Bedeutung wahren konnte. Der Begriff Abendland löste zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert die im Mittelalter weithin gebräuchliche Begriffe »Occident« und »Hesperia« ab, die den gleichen Bedeutungsinhalt hatten.
 
 Ideengeschichte
 
Die Idee des Abendlandes als »mythische und religiös-politische Konzeption« (F. Heer) taucht erstmals in der Antike auf. Spätestens seit Herodot und den Perserkriegen unterschieden die Griechen qualitativ zwischen Europa (assyrisch ereb »Land der untergehenden Sonne«) und Asien (assyrisch asu »Land der aufgehenden Sonne«); Europa, repräsentiert durch Griechenland, wurde als Hort der Freiheit angesehen, während Asien, gleichzusetzen mit dem Perserreich, als Quelle der Despotie galt. Dennoch blieb bei den Griechen neben dieser ersten »abendländischen Ideologie« das Bewusstsein wach, einer Ökumene, einer Lebensgemeinschaft der Völker des Westens und des Ostens, anzugehören.
 
Grundlegende Bedeutung für die Ausprägung eines abendländischen Bewusstseins im eigentlichen Sinn und einer daraus abgeleiteten Konzeption hatte jedoch erst der Prozess der Aufspaltung des Römischen Reiches in ein Weströmisches und ein Oströmisches Reich im 4. Jahrhundert n. Chr. Die endgültige Teilung 395 trug dem stets existierenden kulturell-sprachliche Dualismus im Mittelmeerraum Rechnung. Fortan vertiefte sich der Gegensatz zwischen dem lateinischsprachigen Westen und dem griechischsprachigen Osten, besonders vorangetrieben durch die unterschiedliche Entwicklung sowohl im staatlichen als auch kirchlich-religiösen Bereich.
 
Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches (476) und dem Ende der germanischen Völkerwanderung (6. Jahrhundert) entstand im westeuropäischen Raum durch das Verwachsen der eingewanderten germanischen Völkerschaften mit der alteingesessenen romanisierten Bevölkerung allmählich eine einheitliche abendländische Kultur, in der auf der Grundlage des römischen Christentums antike und germanische Elemente verschmolzen. Einen wichtigen Beitrag zur Fortentwicklung und Ausbreitung dieser Kultur leistete die Kirche, besonders das Mönchtum durch eine weit reichende und intensive Missions-, Lehr- und Forschungstätigkeit.
 
Die Zusammenfassung des kontinentalen Kernraums im Frankenreich mit seinen nachhaltigen Auswirkungen auf staatliche, kirchliche, kulturelle und wirtschaftliche Verhältnisse förderte die Einheit des Abendlandes. Sichtbarer Ausdruck für das Selbstbewusstsein der neuen europäischen Kulturgemeinschaft war die Erneuerung der imperialen Idee des römischen Kaisertums durch Karl dem Großen im Bund mit dem römischen Papsttum (»translatio imperii«). Hiermit war die machtpolitische, kirchliche und geistige Wendung gegen Byzanz verbunden; das Byzantinische Reich wurde unter Begründung einer griechisch-orientalischen Tradition zur ausgesprochenen Ostmacht, gegen die sich das »Abendland« absetzte.
 
Das Bewusstsein kultureller Zusammengehörigkeit vertiefte sich im Verlauf des Kampfes gegen den Islam im Mittelmeerraum (»Reconquista« in Spanien, Kreuzzüge) und gegen die in Mitteleuropa eingefallenen Völkerschaften (Magyaren, Mongolen). Treibende Kraft in diesen Auseinandersetzungen waren die Päpste, die nach innen und außen mit dem Anspruch auftraten, Führer der geeinten abendländischen Christenheit im Kampf gegen die »Ungläubigen« und auch gegen die oströmische Christenheit zu sein; das Papsttum wurde so zum Träger einer religiös geprägten, offensiv ausgerichteten und mit einem Absolutheitsanspruch versehenen Abendlandideologie, die jedoch mit dem Scheitern der Kreuzzüge und dem Zerfall der päpstlichen Macht im Spätmittelalter zusammenbrach. Gleichzeitig verblasste der abendländische Einheitsgedanke angesichts der sich in Europa allmählich herausbildenden Nationalstaaten etwas, wurde jedoch durch die osmanische Bedrohung (Türkenkriege) nach dem Untergang des Byzantinischen Reichs (Fall von Konstantinopel 1453) wachgehalten.
 
Im Zeitalter des Humanismus und der Renaissance trat an die Stelle der religiös geprägten Abendlandidee ein säkularisierter Europabegriff, der den veränderten politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen besser entsprach, die etwas gewandelten Vorstellungen des Abendlandes jedoch in sich aufnahm. So entwarfen als erste Erasmus von Rotterdam und Comenius eine in ihren Grundzügen bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkende neue Europaidee: Das in sich politisch und religiös zerrissene, nun als Staatengemeinschaft verstandene Europa solle auf der Grundlage seiner entwickelten Kultur für eine »Erhellung des Erdkreises« durch eine europäische, geistig und seelisch aufgeklärte Gläubigkeit, Wissenschaft und Menschenbildung sorgen und den Völkern der ganzen Erde Freiheit bringen. In diesem Sinn wurde in der Geschichtsauffassung des 18. und 19. Jahrhunderts das Abendland zur letzten, das hieß meist auch höchsten Stufe der Menschheitsentwicklung. Wie der Alte Orient als Morgendämmerung oder Kindheit des Menschengeschlechts, die Antike als seine Jugend oder sein Mittag, so galt das Abendland als sein reifes Mannesalter, auch als sein Herbst oder Abend.
 
Die neuere Geschichtsauffassung verwarf diese Deutungen als europazentrisch; sie betrachtete die abendländische Kultur (O. Spengler: »faustische Kultur«, A.J. Toynbee: »Western Civilization«) als eine unter den 8 (oder 22) weltgeschichtlichen Hochkulturen, die sich nach dem gleichen Gesetz entwickelt hat und vollenden wird wie die übrigen Kulturen. Aus Studien über die Spätzeiten und den Untergang der antiken, aber auch der anderen geschichtlichen Kulturen sowie aus dem seit Ende des 19. Jahrhunderts erwachenden Bewusstsein der abendländischen Kulturkrise gewann diese »Kulturmorphologie« die Vorstellungen und Begriffe, um die gegenwärtige abendländische Kultur als typische Spätzeit, als »Zivilisation«, zu kennzeichnen. Doch setzt sich neuerdings immer stärker der Gedanke durch, dass das von der Kulturmorphologie vertretene Schema vom Aufgang und Untergang der Kulturen auf das Abendland nicht voll anwendbar ist. Als Hauptgrund hierfür gibt man an, dass die abendländische Kultur seit dem Beginn der europäischen Neuzeit, dann besonders im industriellen Zeitalter eine so universale Ausstrahlungskraft gezeigt habe wie bisher keine der weltgeschichtlichen Hochkulturen.
 
 Formen · Wirkungen
 
Indem die abendländischen Nationen seit der Renaissancezeit entdeckend, erobernd und kolonisierend über die ganze Erde ausgriffen, entstanden in den außereuropäischen Erdteilen Gesellschaftsformen, deren geistiger Gehalt abendländisch ist. Vor allem entwickelte sich im nördlichen Amerika auf der Grundlage der englischen, niederländischen, französischen, dann in starkem Maß deutschen, schließlich aus allen europäischen Ländern stammenden Einwanderung ein Kulturzentrum, das mit vielen Zügen dem abendländischen Geist zuzurechnen ist. Ähnliches gilt für Lateinamerika, unter anderen Bedingungen auch für einige Staaten des (britischen) Commonwealth. Auch die Durchdringung und Erschließung der asiatischen Gebiete des Russischen Reiches zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert muss in diese Ausbreitung des Abendlandes einbezogen werden, zumal Russland gerade in diesen Jahrhunderten abendländische Anregungen in mehreren Wellen in sich aufnahm. In allen diesen Räumen sind Abwandlungen der abendländischen Kultur entstanden. Ihre Formen sind mitbestimmt durch die jeweils vorgegebenen Kulturen, in den meisten Fällen außerdem durch die Wirkungen der kolonialen Situation, am stärksten durch das politische Schicksal der neuen Länder. Der Vorgang der Ausbreitung ist so erdumspannend, dass die Ausstrahlungen früherer Hochkulturen in ihre Randzonen nicht mit ihm verglichen werden können.
 
Eine ebenso weltweite und geschichtlich folgenreiche Wirkung ging im industriellen Zeitalter vor sich: Die meisten außereuropäischen Länder wurden allmählich in das System der industriellen Produktionsweise und Güterversorgung einbezogen. Zunächst geschah das in der Form, dass sie zu Rohstoffquellen und Absatzgebieten für die europäischen Industriebezirke wurden. In steigendem Maß aber wurden sie selbst zu Standorten der industriellen Produktion. Dadurch wird zwar nicht die abendländische Kultur als solche, wohl aber ihr System der technisch qualifizierten Arbeit mitsamt den Lebensformen und den ihm zugeordneten sozialen Strukturen übernommen. In der Epoche der Weltkriege ist dieser Prozess stark ausgeweitet worden, besonders durch die Ablösung ehemaliger Kolonialgebiete und durch deren Bestreben, eigene Industrien aufzubauen. Als sekundäre Schicht überdeckt nunmehr das industrielle System die gesamte Erde, wenn auch in sehr verschiedener Dichte: stellenweise als rasch fortschreitender industrieller Aufbau, andernorts als bloßer Überwurf über eine noch tragende oder schon brüchige Eigenkultur.
 
Für das Abendland bedeutet diese Weltlage, dass es sich gleichsam selbst begegnet, d. h., es treten ihm Mächte entgegen, die wesentlichen Elemente seines Geistes in sich aufgenommen, sie aber zu eigenen Formen umgeprägt haben, die nun auf das Abendland zurückwirken. Das eindrucksvollste Beispiel für diesen Sachverhalt sind die USA. Sie sind ihrem Ursprung nach abendländisch und in dauerndem wechselseitigem Austausch mit dem Abendland erwachsen. In ihrer 200-jährigen Geschichte bildeten sie jedoch eine Kultur von selbstständiger Prägung, die nun ihrerseits wegen der großen wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Bedeutung der USA auf Europa einwirkt.
 
Nicht nur von außen her, sondern auch im Zug seiner inneren Entwicklung sieht sich das Abendland im industriellen Zeitalter, besonders in dessen jüngster Phase, in eine neue Situation versetzt. Auf der Grundlage des verchristlichten Römischen Reichs erwachsen, hat das Abendland in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Jahrhunderten das antike Erbe immer wieder neu belebt. So ist in ihm eine geschichtliche Erbmasse von großem Tiefgang und Schichtenreichtum lebendig, wie sie nur an wenigen Stellen der Erde aufzuweisen ist (China, Indien, Ägypten). Den Kern dieses Erbes bildet das Christentum. Die Grundideen der Antike sind, zum Teil in harten geistigen Kämpfen, in die abendländischen Formen des Christentums eingeschmolzen worden: der Gedanke der persönlichen Freiheit und Selbstverantwortung des Menschen im Rahmen von Nation und Menschheit, die Idee der Humanität als Norm der Persönlichkeitsbildung und des sozialen Verhaltens, die Autonomie des wissenschaftlichen Denkens und die Beherrschung der Natur durch Erforschung ihrer Gesetzlichkeiten. Auch die Entwicklung der Industriekultur ist nur auf dieser geistigen Grundlage denkbar.
 
Doch die technischen und sozialen Mittel der entwickelten Industriekultur, die Lebensformen und Verhaltensweisen, in die sie die Menschen hineinnötigt, sind so eigenmächtig, dass sie den Fortbestand des abendländischen Erbes zu gefährden drohen. Hierauf hat die Kulturkritik aufmerksam gemacht. Der Wille, an jenem Erbe festzuhalten, sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, ihm unter den charakteristischen Bedingungen der Industriegesellschaft und ihrer hoch technisierten, versachlichten Lebenswelt eine neue Gültigkeit zu geben.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Antike · Byzantinisches Reich · Christentum · Europa · Griechenland, Geschichte · Heiliges Römisches Reich · Kaiser · katholische Kirche · Ostkirchen · Philosophie · Reformation · römische Geschichte · Römisches Reich
 
Literatur:
 
O. Spengler: Der Untergang des A. (1918-22, Nachdruck 1969);
 F. Heer: Aufgang Europas (1949);
 T. Haecker: Vergil, Vater des A. (71952);
 A. J. Toynbee: A study of History (dt. gekürzt Der Gang der Weltgeschichte, 2 Bde., 1952/58);
 J. Fischer: Oriens - Occidens - Europa (1957);
 P. Rassow: Die geschichtliche Einheit des A. (1960);
 F. Adama van Scheltema: Antike - A. (1964);
 D. Gerhard: Das A. Ursprung u. Gegenbild unserer Zeit (1985).

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Abend|land, das <o. Pl.> [zu ↑Abend (3)]: durch Antike u. Christentum geformte kulturelle Einheit der europäischen Völker; Europa; die Alte Welt; Okzident.

Universal-Lexikon. 2012.