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Wiener Schule
Wiener Schule,
 
1) Medizin: die im 18. Jahrhundert von G. van Swieten begründete und von dessen Landsmann und Nachfolger A. de Haën (* 1704, ✝ 1776) weitergeführte Bewegung zur Reform des Medizinalwesens in Österreich sowie des dortigen Medizinstudiums, das dadurch v. a. zu größerer Praxisnähe gelangte. Weitere Reformmediziner dieser Epoche waren L. Auenbrugger und J. P. Frank. Dieser älteren Wiener Schule der Medizin folgte im 19. Jahrhundert die von K. von Rokitansky und J. Skoda begründete jüngere Wiener Schule, die sich v. a. um die Einführung der Perkussion und Auskultation sowie der ausführliche Anamnese in die medizinische Praxis verdient machte. Ein weiterer Vertreter dieser Schule war der Dermatologe F. von Hebra. Nachhaltige Impulse erhielten von der Wiener Schule besonders neue Disziplinen wie Neurologie, Laryngologie, Ophthalmologie, Pädiatrie, aber auch Anatomie und Chirurgie (T. Billroth u. a.).
 
 2) Musik: nach C. F. D. Schubart (»Ideen zu einer Aesthetik der Tonkunst«, 1806) Bezeichnung für eine Gruppe in Wien lebender Komponisten, die im 2. Drittel des 18. Jahrhunderts (gleichzeitig mit der Mannheimer Schule) als Wegbereiter der Wiener Klassik wirkten (1. Wiener Schule). Ihre wichtigsten Vertreter waren Georg Mathias Monn (* 1717, ✝ 1750) und G. C. Wagenseil. Sonate und Sinfonie (diese bereits viersätzig mit Menuett) der Wiener Schule sind bestimmt von kleingliedriger, liedartiger Thematik (galanter Stil, Periode 9), motivische Elementen der Opera buffa und häufigem Affektwechsel (Abkehr vom barocken Einheitsablauf). Innerhalb der Sonatensatzform sind das zweite Thema und die Durchführung zunehmend deutlich ausgeprägt. J. Haydns Weg zur Vollendung des Wiener klassischen Stils wächst unmittelbar aus den Ansätzen der Wiener Schule hervor.
 
Als 2. Wiener Schule (Wiener atonale Schule) werden A. Schönberg und dessen Wiener Schülerkreis bezeichnet. Schönberg selbst war ihr geistiger Mittelpunkt, als Komponist und als Lehrer in gleicher Weise für ihr musikalisches Denken bestimmend. Die Bezeichnung verweist programmatisch auf die Wiener Klassik. Schönberg und sein Schülerkreis wollten damit dokumentieren, in welchem Traditionszusammenhang sie ihr kompositorisches Schaffen sahen. Zugleich ist die Bezeichnung auch als Reaktion auf die Widerstände zu verstehen, denen die neue Musik dieser Art begegnete. Die musikalisch-kompositorische Bedeutung der 2. Wiener Schule besteht darin, dass sie einerseits die Harmonik der Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts gleichsam zu Ende gedacht hat (z. B. Schönberg, »Kammersymphonie« Opus 9, 1906) und dass sie andererseits aus dieser Endsituation heraus die Grundlagen zur Ausbildung einer neuen Musik fand (ab etwa 1907/08). Nach einer Phase der so genannten freien Atonalität (atonale Musik) entwickelte Schönberg um 1920 - im Anschluss an die motivisch-thematische Arbeit in der Musik Haydns, W. A. Mozarts und L. van Beethovens und deren variativ immer dichter gestaltete, konsequente Fortsetzung bei J. Brahms und G. Mahler - die Zwölftontechnik. Trotz der beherrschenden Gestalt Schönbergs sind die Werke der Komponisten der 2. Wiener Schule (A. Webern, A. Berg, E. Wellesz, zeitweise H. Eisler) stilistisch deutlich voneinander unterschieden. Gemeinsam ist den Werken indessen die Stimmigkeit und Logik des kompositorischen Gefüges sowie eine äußerst intensive Ausdrucksgestik. Zunächst nur wenig bekannt und anerkannt, während des Nationalsozialismus in Deutschland totgeschwiegen, erwies sich die 2. Wiener Schule nach 1945 in ihrer Nachwirkung v. a. auf die jungen Komponisten (K. Stockhausen, P. Boulez, L. Nono u. a.) als die wichtigste und am konsequentesten ausgeprägte Stilrichtung innerhalb der Neuen Musik.
 
Literatur:
 
1. Wiener Schule: P. Rummenhöller: Die musikal. Vorklassik (1983);
 
Die Musik des 18. Jh., hg. v. C. Dahlhaus (Neuausg. 1997).
 
2. Wiener Schule: Die W. S., hg. v. R. Stephan (1989);
 
Beethoven u. die Zweite W. S., hg. v. O. Kolleritsch (Wien 1992);
 M. Delaere: Funktionale Atonalität. Analyt. Strategien für die frei-atonale Musik der W. S. (1993);
 H. Danuser: Die Musik des 20. Jh. (Neuausg. 1997).
 
 3) Philosophie: der Wiener Kreis.
 
 4) Psychologie: Bezeichnung für verschiedene Richtungen der Tiefenpsychologie: die Psychoanalyse von S. Freud (1. Wiener Schule), die Individualpsychologie von A. Adler (2. Wiener Schule), die Existenzanalyse von V. E. Frankl (3. Wiener Schule); außerdem Bezeichnung für den in den 1920er- und 30er-Jahren wirkenden Forschungskreis um Charlotte Bühler (Kinder- und Jugendpsychologie) sowie für die von H. Rohracher (seit 1942) begründete naturwissenschaftlich orientierte, experimentalpsychologische Schule.
 
 5) Rechtstheorie: vom Neukantianismus beeinflusste rechtstheoretische Richtung mit H. Kelsen und Adolf Merkl (* 1890, ✝ 1970) als bedeutendsten Vertretern.
 
 6) Völkerkunde: besonders von Wilhelm Schmidt und Wilhelm Koppers (* 1886, ✝ 1961) und ihren Schülern vertretene Richtung der Völkerkunde; sie entwickelte sich aus der von Fritz Graebner (* 1877, ✝ 1934) begründeten Kulturhistorischen Schule, mit deren Arbeitsmethode die Kulturkreise (Kulturkreislehre) konstruiert wurden. Die Wiener Schule war in Österreich und Deutschland lange von Bedeutung.
 
 7) Volkswirtschaftslehre: Grenznutzenschule.

Universal-Lexikon. 2012.