Lukács
['lukaːtʃ], György (Georg), ungarischer Literarhistoriker und Philosoph, * Budapest 13. 4. 1885, ✝ ebenda 4. 6. 1971; trat 1918 der KP Ungarns bei, war während der ungarischen Räterepublik 1919 stellvertretender Volkskommissar für Unterrichtswesen in der Regierung von B. Kun und 1945-58 Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie in Budapest. Ursprünglich vom Neukantianismus (E. Lask) sowie von G. Simmel und M. Weber beeinflusst, war Lukács in seinen frühen philosophischen Schriften G. W. F. Hegel und K. Marx in gleicher Weise verpflichtet und wandte sich später einem vom deutschen Idealismus geprägten Marxismus zu. Früh lernte er E. Bloch kennen.
Starke Beachtung fand er mit seiner »Theorie des Romans« (1916), einer lebensphilosophischen Analyse, in der er die Geschichtlichkeit als eine zentrale Kategorie des gesellschaftlichen Seins herausstellt und die »transzendentale Obdachlosigkeit« der bürgerlichen Welt thematisiert. Nach seiner Hinwendung zum Kommunismus fasste Lukács dieses Problem als das der Entfremdung. In diesem Sinn schlägt sein wirksamstes Werk »Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik« (1923) eine Brücke von der deutschen Klassik über Hegel zu Marx; es wurde zwar von der Partei abgelehnt, trug aber zur Linksorientierung der europäischen Intellektuellen in den 1920er-Jahren und zur Entwicklung des Neomarxismus entscheidend bei. Auch die unter dem Pseudonym Blum veröffentlichten Thesen, in denen Lukács (1928) den Gedanken einer demokratischen Diktatur formulierte, brachten ihn in Widerspruch zur KP, und er wurde zur Selbstkritik gezwungen. Nach dem Scheitern der ungarischen Räterepublik floh Lukács über Wien und Berlin nach Moskau. In den 1930er-Jahren, den stalinistischen Säuberungen knapp entkommen, verfasste er zahlreiche grundlegende literaturhistorische Werke, in denen die deutsche, englische, französische und russische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sowie der Begriff des Realismus marxistisch interpretiert werden; er erarbeitete darin mit seiner Theorie der literarisch gestalteten Widerspiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse in ihrer Totalität die Grundlagen einer marxistischen Ästhetik. Die Methode der Romane des bürgerlich-kritischen Realismus sah er im Gegensatz zur offiziell propagierten Arbeiterliteratur als vorbildlich für die (sozialistische) Kunst, wofür ihm einerseits Geringschätzung des sozialistischen Realismus, andererseits Unaufgeschlossenheit gegenüber neuen Kunstformen vorgeworfen wurde. 1944/45 nach Ungarn zurückgekehrt, geriet Lukács bald in Konflikt mit der KP. In »Die Zerstörung der Vernunft« (1954) kritisierte er die deutsche bürgerliche Philosophie seit Hegel als geistige Voraussetzungen von Irrationalismus, Faschismus und Imperialismus. 1949-56 war Lukács Mitglied des ungarischen Parlaments. Er wurde einer der intellektuellen Führer des Petőfi-Klubs und damit des Budapester Aufstandes 1956. Er war Kultusminister der Regierung von I. Nagy, mit dem er nach der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstandes verhaftet wurde. Seither war er verfemt, seines Lehramtes enthoben, aus der Akademie ausgeschlossen. Seine Werke wurden nur noch in westeuropäischen Ländern gedruckt, wo sie erheblichen Einfluss v. a. auf die neue Linke gewannen.
Weitere Werke: Die Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas (ungarisch 1911; deutsch); Die Seele und die Formen (ungarisch 1911; deutsch); Goethe und seine Zeit (1946); Der junge Hegel (1948); Der russische Realismus in der Weltliteratur (1949); Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts (1951); Ästhetik (1963); Probleme der Ästhetik (1969); Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 3 Teile (herausgegeben 1971-73); Demokratisierung heute und morgen (herausgegeben 1985).
Ausgabe: Werke, herausgegeben von F. Benseler, auf zahlreiche Bände berechnet (1962 folgende).
Festschr. zum 80. Geburtstag von G. L., hg. v. F. Benseler (1965);
Georg L., bearb. v. F. Benseler: u. a. (1973);
Revolutionäres Denken, hg. v. F. Benseler: (1984);
G. Lichtheim: G. L. (1971);
T. Hanák: A filozófus L. (Paris 1972);
F. J. Raddatz: G. L. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten (1972);
R. Dannemann: G. L. zur Einf. (1997).
Universal-Lexikon. 2012.