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Risikogesellschaft
Ri|si|ko|ge|sell|schaft, die (Soziol.):
Gesellschaft im Hinblick auf die ökologischen, sozialen u. a. Risiken, die durch den industriellen Fortschritt hervorgerufen werden.

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Risikogesellschaft,
 
in den Sozialwissenschaften verwendeter Begriff zur Charakterisierung der modernen Industriegesellschaft unter dem Aspekt der von ihr produzierten Risiken. Mitte der 1980er-Jahre von U. Beck in die sozialwissenschaftliche Diskussion eingeführt, werden seither im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Konzepts der Risikogesellschaft die sozialen, politischen, ökologischen und individuellen Risiken in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher (Modernisierungs-)Prozesse gestellt, denen in den heutigen westlichen Industriegesellschaften alle Gesellschaftsmitglieder (zunehmend unabhängig von Schichtenzugehörigkeit, ethnischer Zugehörigkeit, Nation u. Ä.) ausgesetzt sind. Die Betrachtung der für den Einzelnen wie für die Gesamtgesellschaft wachsenden Risiken erfolgt dabei besonders im Zusammenhang mit den die modernen Gesellschaften zunehmend bestimmenden Prozessen der Individualisierung und der so genannten Globalisierung sowie in dem Wissen um die Grenzen und Gefahren eines einseitig quantitativ ausgerichteten wirtschaftlichen Wachstums. In seiner Beschreibung der Risiken heutiger gesellschaftlicher Entwicklungen hebt der Begriff Risikogesellschaft die mit diesen verbundenden Gefährdungspotenziale und (möglicherweise irreversiblen) Schädigungen hervor sowie die Tatsache, dass sich immer mehr Entwicklungen auf nationaler wie auf internationaler Ebene den herkömmlichen Kontroll- und Sicherheitsmechanismen weitgehend entziehen. Der Begriff Risikogesellschaft beinhaltet jedoch auch die Fragen nach individuellen und gesellschaftlichen Strategien, diesen Gefährdungen zu begegnen, und nach neuen, als gesellschaftliche Chancen zu begreifenden Entwicklungsmöglichkeiten moderner Gesellschaften.
 
Im Unterschied zu sozialwissenschaftlichen Konzeptionen, die die Zukunft der Industriegesellschaft in einer postindustriellen Gesellschaft sehen, stellt das Konzept der Risikogesellschaft die Weiterentwicklung der Industriegesellschaft unter gegenläufigen Gesichtspunkten dar: Zum einen als Fortsetzung der bisherigen Entwicklungstendenzen (Modernisierung, Rationalisierung, technischer Fortschritt), zum andern als Reibungsverhältnisse, die den zwischen den maßgeblichen gesellschaftlichen Gruppen erreichten Konsens gefährden. In der Risikogesellschaft werden die Verteilungskonflikte um die gesellschaftlich erzeugten Güter und Reichtümer (Einkommen, Arbeitsplätze, soziale Sicherheit), die den Grundkonflikt der klassischen Industriegesellschaft ausmachen und in ihren Lösungsversuchen deren institutionelles Gepräge bestimmt haben, von einem Zurechnungskonflikt überlagert. Dieser entbrennt darüber, wie die Folgen der mit der Güterproduktion einhergehenden Risiken (der atomaren und chemischen Großtechnologie, der Genforschung, der Umweltgefährdung, der Rüstungsproduktion, besonders von Massenvernichtungsmitteln, und der zunehmenden Verelendung der außerhalb der westlichen Industriegesellschaften lebenden Menschheit) verteilt, abgewendet, gesteuert und legitimiert werden können.
 
In gesellschaftstheoretisch-kulturdiagnostischer Betrachtungsweise beschreibt der Begriff Risikogesellschaft das Entwicklungsstadium moderner Gesellschaften, in dem die entstandenen Gefährdungen im Begriff stehen, ein Übergewicht zu erlangen, sodass sich nun die Frage nach der Selbstbegrenzung dieser Entwicklung ebenso stellt wie die Aufgabe, die bisher erreichten gesellschaftlichen Standards (an Verantwortlichkeit, Sicherheit, Kontrolle, Schadensbegrenzung und Verteilung von Schadensfolgen) im Hinblick auf Gefahrenpotenziale neu zu bestimmen.
 
Für die inhaltliche Entfaltung des Begriffs der Risikogesellschaft sind dabei drei Verhältnisbestimmungen maßgebend. Es handelt sich zum einen um das Verhältnis der modernen Industriegesellschaft zu den Ressourcen von Natur und Kultur, deren Bestände aber im Zuge einer sich durchsetzenden Industrialisierung aufgebraucht werden. Dies trifft sowohl auf die Bodenschätze zu als auch auf kulturelle (z. B. der Lebensverband der Familie) und soziale Kräftereservoire (z. B. die Haus- und Familienarbeit). Zum Zweiten handelt es sich um das Verhältnis der Gesellschaft zu den von ihr erzeugten Gefährdungen und Problemen, die ihrerseits nicht mehr mit den gesellschaftlichen Sicherheitsvorstellungen und Risikokalkulationen in Einklang zu bringen sind und dadurch, sofern sie ins Bewusstsein treten, geeignet sind, die Grundanschauungen, auf denen das Selbstverständnis der bestehenden Gesellschaftsordnung beruht, zu erschüttern. Dies berührt v. a. den Bereich des politischen Handelns und der politischen Entscheidungen. Drittens führt der Verbrauch des kollektiven oder gruppenspezifischen Sinnreservoirs der traditionellen Kultur (z. B. der Religion oder der bewussten Verwurzelung in bestimmten Milieus) dazu, dass Chancen, Gefahren sowie Brüche oder Entscheidungssituationen im Lebenslauf, die früher in der Regel im Familienverband, in der dörflichen Gemeinschaft, im Rückbezug auf die soziale Gruppe bewältigt werden konnten, zunehmend von den Einzelnen allein wahrgenommen, interpretiert und verarbeitet werden müssen. Chance und Last der Situationsdefinition verlagern sich damit auf die Individuen, die in ihrer Mehrheit jedoch aufgrund der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge oft nicht oder nur ungenügend in der Lage sind, die Entscheidungen fundiert und verantwortlich, d. h. auch in Hinsicht auf mögliche Folgen, zu treffen.
 
Im Unterschied zu Anspruch und Praxis der auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaftsordnung entstandenen und mit ihr verbundenen Industriegesellschaft, die gegenüber der vorindustriellen Gesellschaft mit ihren als unkalkulierbar erfahrenen Risiken (z. B. Pest, Hunger) dem Gedanken folgt, die menschlichen Lebensverhältnisse rational zu planen, deren Risiken in kalkulierbare Risiken zu überführen und als Risikogemeinschaft (besonders in Form des Sozialstaates) auch individuelle Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfälle hinsichtlich ihrer finanziellen Auswirkungen zu tragen, stellt sich die moderne Gesellschaft unter der Perspektive der Risikogesellschaft so dar, dass gerade die unabsehbaren Neben- und Spätfolgen geplanten Handelns wieder in Unüberschaubarkeit zurückfallen. Der entscheidende Übergang zur Risikogesellschaft findet nach dieser Sicht in dem Moment statt, wo die gesellschaftlich produzierten Gefahren die gesellschaftlich vorgehaltenen Sicherheitssysteme und die Regeln vorhandener Risikokalkulationen unterlaufen. So sind die heutigen atomaren, chemischen, ökologischen und gentechnischen Risiken im Unterschied zu früheren Risiken der Industriegesellschaft weder örtlich noch zeitlich eingrenzbar (globale Probleme). Nach den geltenden Regeln von Kausalität, Schuld und Haftung sind sie auch immer seltener nur einem konkreten Verursacher zuzurechnen. V. a. aber sind sie hinsichtlich ihrer Schadensfolgen nur mit immensem und ständig steigendem Aufwand wieder rückgängig zu machen. Dabei können jedoch irreversible Schädigungen nicht ausgeschlossen werden. Im Gegensatz zur Sichtweise der klassischen Industriegesellschaft, die solche Entwicklungen zwar als negative Nebenfolgen scheinbar verantwortbaren und kalkulierbaren Handelns, nicht jedoch als Entwicklungen erkennt, die wesentlichen Grundlagen der Gesellschaft gefährden oder zerstören, treten sie unter der Perspektive der Risikogesellschaft in dieser Bedeutung hervor. Die daraus abgeleitete Notwendigkeit der kritischen Überprüfung bisheriger Auffassungen, Normen und Verhaltensmuster bezieht als postulierter Anspruch prinzipiell alle Gesellschaftsmitglieder ein und nimmt die staatlich-administrative Ebene in die Pflicht, den infolge dieser Entwicklungen notwendig gewordenen gesellschaftlichen Um- beziehungsweise Neuorientierungsprozess unter Anhörung und Beteiligung der sachkritischen Öffentlichkeit (wissenschaftliche Institutionen, Verbände, Bürgerinitiativen u. a.) durch Schaffung des entsprechenden gesetzlichen Regelungsrahmens zu fördern und unumkehrbar zu machen. In diesem Zusammenhang wächst bei den beteiligten Akteuren, besonders vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung, die Übereinstimmung darüber, dass die notwendigen Umsteuerungsprozesse wirkungsvoll und dauerhaft wohl nur im Rahmen internationaler Zusammenarbeit in Gang gesetzt und gestaltet werden können.
 
Literatur:
 
W. L. Bühl: Ökolog. Knappheit. Gesellschaftl. u. technolog. Bedingungen ihrer Bewältigung (1981);
 
An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, hg. v. B. Guggenberger u. C. Offe (1984);
 A. Evers u. H. Nowotny: Über den Umgang mit Unsicherheit (1987);
 P. Lagadec: Das große Risiko (a. d. Frz., 1987);
 
Leben in der R., hg. v. Mario Schmidt (1989);
 U. Beck: Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit (31990);
 U. Beck: Politik in der R. (1991);
 U. Beck: R. Auf dem Weg in eine andere Moderne (141997);
 N. Luhmann: Ökolog. Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökolog. Gefährdungen einstellen? (31990);
 
Risiko u. Wagnis. Die Herausforderung der industriellen Welt, hg. v. M. Schüz, 2 Bde. (1990);
 C. Perrow: Normale Katastrophen (a. d. Engl., 21992);
 F. Ewald: L'État providence (Neuausg. Paris 1994);
 
Verantwortung in der R. Eth. Herausforderung in einer veränderten Welt, hg. v. E. Zwierlein (1994);
 V. von Prittwitz: Das Katastrophenparadox. Elemente einer Theorie der Umweltpolitik (21995).

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Ri|si|ko|ge|sell|schaft, die (Soziol.): Gesellschaft im Hinblick auf die ökologischen, sozialen u. a. Risiken, die durch den industriellen Fortschritt hervorgerufen werden.

Universal-Lexikon. 2012.