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Balzac
Balzac
 
[bal'zak],
 
 1) Honoré de, französischer Schriftsteller, * Tours 20. 5. 1799, ✝ Paris 18. 8. 1850; kam 1814 nach Paris und studierte 1816-19 Rechtswissenschaft. Gewagte Spekulationen, Misserfolge als Verleger und Druckereiunternehmer und ein aufwendiger Lebensstil stürzten ihn in hohe Schulden und zwangen ihn zu rastloser literarischer Arbeit. Nach der Veröffentlichung einer Reihe von Kolportageromanen unter fremdem Namen gelang Balzac 1829 mit der »Physiologie du mariage«, einem Skandalerfolg, und mit »Le dernier Chouan ou la Bretagne en 1800« (als »Les Chouans ou la Bretagne en 1799« 1834 in die »Comédie humaine« aufgenommen) der literarische Durchbruch.
 
Balzacs Hauptwerk ist die nach 1829 entstandene »Comédie humaine« (deutsch »Die menschliche Komödie«), in die er seit 1841 weitere erzählerische Werke integrierte. Die wissenschaftlichen, weltanschaulichen und ästhetischen Grundlagen zu diesem breit angelegten Sittenbild Frankreichs - von 1793 bis in die 40er-Jahre des 19. Jahrhunderts - skizziert Balzac im Vorwort (»Avant-propos«). Eine besondere Bedeutung erlangt dabei die »Philosophie anatomique« (1818-22) des Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (* 1772, ✝ 1844). Analog den biologischen Spezies will Balzac die sozialen Spezies (»Espèces sociales«) in ihrer Eigenart zeigen. Im Unterschied zum organischen Leben sieht Balzac das gesellschaftliche Leben v. a. vom Prinzip des Zufalls, daneben u. a. von den Wirkkräften menschlicher Intelligenz beherrscht. Vor dem Hintergrund dieses künstlerischen Gesamtplans stellt er die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten und deren Vertreter dar: vom Adel über den Klerus, das Bürgertum und die Bauern bis zu den kleinen Leuten, Emporkömmlingen jeder Art, Dirnen und Kriminellen. Eine besondere Rolle spielen Repräsentanten des Handels- und Bankwesens als eines neuen gesellschaftlichen Machtfaktors.
 
Die Romane der »Comédie humaine« (von den 137 geplanten wurden rund 90 vollendet) werden - außer durch den Gesamtplan - auch durch eine Reihe von Gestalten verbunden, die in mehreren Teilen des Romanzyklus wiederkehren. Entsprechend ihrem jeweiligen Milieu teilt Balzac die Romane in Gruppen ein (»Scènes de la vie privée«, »Scènes de la vie de province«, »Scènes de la vie parisienne«, »Scènes de la vie politique«, »Scènes de la vie de campagne«). Charakteristisch für Balzacs Stil ist die minutiöse Genauigkeit in Beobachtung und Analyse der Gestalten und ihrer Eigenschaften, ihres sozialen Umfelds und der jeweiligen Schauplätze der Romanhandlung. Die deskriptive Technik der historischen Romane W. Scotts übertrug er auf die Beschreibung des Zeitgeschehens.
 
Als treibende Kraft menschlichen Handelns wirken bei Balzac das Streben nach Geld und Macht (mit allen Mitteln) in der von sozialer Dynamik bestimmten nachrevolutionären Gesellschaft und - untrennbar damit verknüpft - das Beherrschtwerden der Gestalten von verschiedenartigen Leidenschaften (z. B. der [blinden] Vaterliebe des »Père Goriot«, der Eifersucht der »Cousine Bette« oder dem Geiz des »Père Grandet«).
 
Die mit dokumentarischer Genauigkeit festgehaltenen Details der Außenwelt sind für Balzac Anzeichen visionär geschauter innerer Kräfte, Vorstellungen, die von E. von Swedenborg und L. C. Saint-Martin beeinflusst wurden.
 
Unter den Zeitgenossen standen die Romane Balzacs zunächst im Ruf, die Sitten zu verderben. Seine Bemühungen um die Aufnahme in die Académie française blieben erfolglos. Heute gilt er als einer der wichtigsten Vertreter des literarischen Realismus, seine Gestaltungskunst beeinflusste nachhaltig die Entwicklung des Romans in der Weltliteratur.
 
Weitere Werke: La Comédie humaine (deutsch Die menschliche Komödie). 1) Études de mœurs: a) Scènes de la vie privée, darin u. a. La femme de trente ans (1834/35; deutsch Die Frau von 30 Jahren); Le père Goriot (1835; deutsch Vater Goriot). b) Scènes de la vie de province, darin u. a. Eugénie Grandet (1834; dt); Les illusions perdues (1837-43; deutsch Verlorene Illusionen). c) Scènes de la vie parisienne, darin u. a. Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau (1837; deutsch Geschichte der Größe und des Verfalls von César Birotteau); Splendeurs et misères des courtisanes (1839-47; deutsch Glanz und Elend der Kurtisanen); La cousine Bette (1846; deutsch Tante Lisbeth); Le cousin Pons (1847; deutsch Vetter Pons). d) Scènes de la vie politique. e) Scènes de la vie de campagne, darin u. a. Le médecin de campagne (1833; deutsch Der Landarzt); Le lys dans la vallée (1836; deutsch Die Lilie im Tal). 2) Études philosophiques, darin u. a. La peau de chagrin (1831; deutsch Das Chagrinleder); Louis Lambert (1832-33; deutsch); Séraphita (1835; deutsch). 3) Études analytiques, darin u. a. La physiologie du mariage (1829; deutsch Physiologie der Ehe).
 
Ferner u. a. Contes drôlatiques (1832-37; deutsch Tolldreiste Geschichten).
 
Ausgaben: Œuvres complètes, herausgegeben von M. Bouteron und H. Longnon, 40 Bände (1912-40); La comédie humaine, herausgegeben von P.-G. Castex, 12 Bände (1976-81).
 
Gesammelte Werke, 46 Bände (1923-26, Neuauflage 1952 folgende); Werke, herausgegeben von F. Wencker-Wildberg, 8 Bände (1962); Die menschliche Komödie, herausgegeben von E. Sander, 12 Bände (1971-72); Die menschliche Komödie, 10 Bände (1981).
 
Literatur:
 
M. Bardèche: B. romancier (Paris 21943, Nachdr. Genf 1967);
 A. Béguin: B. visionnaire (Genf 1946);
 E. R. Curtius: B. (Bern 21951);
 F. Lotte: Dictionnaire biographique des personnages fictifs de La comédie humaine (Paris 1952);
 G. Lukács: B. u. der frz. Realismus (Berlin-Ost 1952);
 J. H. Donnard: B., les réalités économiques et sociales dans La Comédie humaine (Paris 1961);
 H. Friedrich: Drei Klassiker des frz. Romans (41961);
 B. Guyon: La pensée politique et sociale de B. (Paris 21967);
 P. Barbéris: Le monde de B. (Paris 1973);
 F. Wolfzettel: B.-Forsch. 1967-1977, in: Romanist. Ztschr. für Lit.-Gesch., Jg. 2-3 (1978/79); R. Beilharz: B. (1979);
 J. Carl: Unters. zur immanenten Poetik B.s (1979);
 W. Eitel: B. in Dtl. (1979);
 
H. de B., hg. v. H.-U. Gumbrecht (1980);
 M. Laurencin: La vie quotidienne en Touraine au temps de B. (Paris 1980);
 
B., l'invention du roman, Colloque 1980, hg. v. L. Frapier-Mazure (Paris 1982);
 W. Jung: Theorie u. Praxis des Typischen bei H. de B. (1983);
 F. Marceau: B. et son monde (Paris 1986);
 G. Picon: H. de B. (a. d. Frz., 34.—36. Tsd. 1994);
 R. Pierrot: H. de B. (Paris 1994).
 
Zeitschrift: L'Année Balzacienne (Paris 1960 ff.).
 
 2) Jean Louis Guez de, französischer Schriftsteller, * Angoulême 1597, ✝ ebenda 18. 2. 1654; verfasste in Form von an Freunde gerichteten Briefen gelehrte Abhandlungen über moralisch-philosophischen Fragen. Sein Stil galt zu seiner Zeit als vorbildlich und weist voraus auf die französische Klassik.
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Stendhal, Balzac, Flaubert: Der Roman als Spiegel der Gesellschaft
 

Universal-Lexikon. 2012.