erotische Literatur,
Sammelbezeichnung für literarische Werke, in denen die sinnlichen Aspekte der Liebe Hauptthema sind; erotische Literatur ist somit vom weiter gefassten Begriff der Liebesdichtung zu unterscheiden; die Grenze zu den als Pornographie bezeichneten Werken ist fließend.
Die Absichten erotischer Literatur reichen von der Darstellung reiner Sinnenfreude bis zu ganzen, von der Erotik (tatsächlich oder angeblich) beherrschten Lebensläufen, von Fallschilderungen bis zur oft bewusst in Erotisches eingebetteten Gesellschaftskritik. Die Geschichte der erotischen Literatur ist eng verbunden mit ihrer Zensierung und der gerichtlichen Verfolgung vor dem Hintergrund wechselnder sexueller Moralvorstellungen. Die immer wieder versuchte Unterdrückung zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der erotischen Literatur und hat häufig zu erfundenen Namen von Figuren, Autoren, Verlegern und Erscheinungsorten sowie, vor Einführung der begrenzten Freigabe pornographischer Werke, vielerorts auch zu einem »Handel unter dem Ladentisch« geführt.
II
Sammelbegriff für literarische Werke, in denen die verschiedensten Dimensionen des Erotischen dargestellt werden. Der Begriff der erotischen Literatur bezeichnet keine besondere literarische Gattung, er verweist auf die Liebe als existenzielles Thema der Kunst in ihrer spezifisch sinnlichen Ausprägung (was die erotische Literatur vom weiter gefassten Begriff der Liebesdichtung unterscheidet), wobei die Frage nach Dominanz oder Nichtdominanz des Sexus von unterschiedlicher Bedeutung ist.
Die Intention der erotischen Literatur reicht von der Darstellung reiner Sinnenfreude bis zu lebensprogrammatischen Bekundungen, Fallschilderungen und zu hinter Erotischem versteckter Gesellschaftskritik. Die Geschichte der erotischen Literatur ist aufs Engste mit der Geschichte ihrer Zensur und gerichtlichen Verfolgung vor dem Hintergrund wechselnder Tabuisierung der Sexualsphäre verknüpft. Die immer wieder versuchte Unterdrückung der erotischen Literatur, ein nicht selten daraus resultierendes Ausweichen auf den bibliophilen Druck mit Titel-, Autor-, Verleger- und Ortsfiktionen und Handel unter dem Ladentisch förderten wesentlich den Eindruck der Rarität. - Die Grenze zu den als Pornographie bezeichneten Werken ist fließend.
Berühmte Beispiele erotischer Literatur stammen aus Indien (»Kamasutra«, vermutlich 1. Jahrhundert n. Chr., sowie andere Lehrbücher), China (»Jin-ping-mei«, 16. Jahrhundert, und von Li Yu: »Jou-pu-tuan«), Japan (Ihara Saikaku, »Yonsosuke, der dreitausendfache Liebhaber«, 1682), dem Orient (»Tausendundeine Nacht«, entstanden seit dem 8. Jahrhundert, endgültige Fassung wohl 16. Jahrhundert; »Der blühende Garten« des Scheich Nefzawi) und Teilen des Alten Testaments (»Hohes Lied«). Die abendländische Literatur bietet seit der Antike v. a. in den romanischen Ländern eine Fülle erotischer Literatur. Sie wurde in Griechenland eingeleitet um 100 v. Chr. durch die von Aristides von Milet verfassten »Milesische Geschichten«, die reiche Nachfolge fanden (als Einlagen noch bei G. Petronius und L. Apuleius). Sie kennt auch den Romantyp des »Logos erotikos« in Form einer nach zahlreichen abenteuerlichen Reisen und überstandenen Gefahren zumeist glücklich endenden Liebesgeschichte bei Antonios Diogenes, Xenophon von Ephesos, Heliodor von Emesa, Chariton von Aphrodisias, Achilleus Tatios, Longos und dem unbekannten Verfasser des »Apollonius von Tyrus«. Neben diesen auch unter dem Begriff Erotiker zusammengefassten Autoren stehen Lukian mit seinen »Hetärengesprächen« und Aristainetos mit seinen »Erotischen Briefen«. In der römischen Literatur zählen zur erotischen Literatur außer Petronius und Apuleius (»Metamorphosen«, später unter dem Titel »Der goldene Esel«) Catull, Ovid (»Ars amatoria«) und Martial.
Das Mittelalter kannte die Schwankliteratur, Frankreich speziell das Fabliaux. Aus der Renaissance sind für Italien neben G. Boccaccio (»Das Dekameron«, italienisch 1348-53) und P. Aretino (»Kurtisanengespräche«, italienisch 1533-36) v. a. M. Bandello und P. Fortini zu nennen; für Frankreich Margarete von Navarra, das Blason des 16. Jahrhunderts, der Abbé Brantôme, F. V. Béroalde de Verville, später J. de La Fontaine (»Contes«, 1665-86); für Spanien F. Delicado. Das »galante Zeitalter« (18. Jahrhundert) verzeichnet zahlreiche Autoren erotischer Literatur: C.-P. J. de Crébillon der Jüngere, P. A. F. Choderlos de Laclos, J.-B. Louvet de Couvray, N. Restif de la Bretonne, ferner D. Diderot in Frankreich; in Italien besonders G. G. Casanova, dessen Memoiren als erotische Literatur gelesen wurden und viele Nachahmer fanden. Einen Grenzfall bilden die Werke des Marquis de Sade (in seiner Tradition später O. Mirbeau: »Der Garten der Qualen«, französisch 1899). Verfasser englischer erotischer Literatur waren u. a. G. Chaucer (»Canterbury-Erzählungen«, um 1387-1400), J. Wilmot, Earl of Rochester, J. Cleland (»Fanny Hill«, 1749-50). Für Deutschland sind zu nennen: aus dem 17. Jahrhundert die späte schlesische Barockdichtung, aus dem 18. Jahrhundert J. G. Schnabel, C. M. Wieland, G. A. Bürger, auch Goethe (»Römische Elegien«, 1795; »Venezianische Epigramme«, 1795) und Schiller (»Venuswagen«, 1782), besonders aber W. Heinse (»Ardinghello«, 1787). Es folgten im 19. Jahrhundert die »Tolldreisten Geschichten« (französisch 1832-37) von H. de Balzac, in England die Romane E. Sellons, die zu ihrer Zeit einen Skandal auslösenden Gesänge und Balladen A. C. Swinburnes (englisch 1866-89) sowie die Psychologie der Erotik in der Dichtung der Dekadenz und des Impressionismus (L. von Sacher-Masoch, »Venus im Pelz«, 1870; A. Schnitzler, »Reigen«, 1900). Auf Sexualität konzentrierte Werke erschienen häufig anonym oder pseudonym, so »Die Geschichte einer wiener Dirne« von Josefine Mutzenbacher (Pseudonym, 1906) oder die Tagebücher über »Viktorianische Ausschweifungen« (englisch 1890) von Walter (Pseudonym eines unbekannten Autors). Im 20. Jahrhundert wurde die Erotik, ausgehend von der Auffassung des Geschlechtlichen als ungebrochener Urkraft, zunehmend als eine der Natur des Menschen entsprechende Sensibilität gedeutet. So war sie für G. Apollinaire (»Die elftausend Ruten«, französisch 1907) Vorbote einer neuen, vom kosmopolitischen Geist geprägten Zeit, der D. H. Lawrence mit seinem bis 1960 in England verbotenen Roman »Lady Chatterley« (englisch 1928) nachhaltig Ausdruck verlieh, indem er Erotik und Sexualität zum zentralen Vermittler zwischen Instinkt und Intellekt des natürlichen, gegen soziale und religiöse Zwänge aufbegehrenden Menschen machte. Während G. Bataille, der sich des Themas auch theoretisch annahm, Erotik noch als einen Inbegriff der Totalität des Seins verstand, nahmen sich andere Autoren ihrer Teilaspekte an. Pauline Réage (Pseudonym) wurde mit der masochistischen »Geschichte der O.« (französisch 1954) bekannt, V. Nabokov schuf mit »Lolita« (englisch 1955) den Typus der verführerischen Kindfrau. Aufsehen erregten auch die Schilderung der zum Teil lesbischen Erfahrungen katholischer Vassar-Absolventinnen in Mary McCarthys »Die Clique« (englisch 1963) und die persönliche Bekenntniserotik Anaïs Nins. Bei vielen Autoren ist die Sexualität auch und besonders Träger sozialkritischer Intentionen: J. Genets Homoerotik richtet sich gegen die verachtete bürgerliche Gesellschaft, H. Miller nutzt Obszönität kreativ zur Umwertung des puritanisch-konservativen Weltbildes. Seit den 50er-Jahren erscheint verstärkt erotische Literatur von Frauen, u. a. von Emmanuelle Arsan, Jeanne de Berg (Pseudonym), Erica Jong, Gail Green und Kathy Acker.
P. Englisch: Gesch. der e. L. (1927, Nachdr. (1987);
H. Schlaffer: Musa iocosa (1971);
Liebe als Lit., hg. v. R. Krohn (1983);
G. Seesslen: Lex. der e. L. (1984);
E. L. in Dtl.: 1928-1936, Erg. zu Hayn-Gotendorf, hg. v. W. von Murat (1986);
Lex. der e. L. Autoren, Werke, Themen, Aspekte, hg. v. K. W. Pietrek, Losebl. (1992 ff.);
F. Bayer u. K. L. Leonhardt: Selten u. gesucht. Bibliogrr. u. ausgew. Nachschlagewerke zur e. L. (1993);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
galante Dichtung: Erotische Literatur
Universal-Lexikon. 2012.