naturwissenschaftlicher Fortschritt
Im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts avancierte die Physik immer mehr zur Leitwissenschaft, sodass sich im 20. Jahrhundert die Meinung durchsetzen konnte, sie sei die Naturwissenschaft schlechthin. Dementsprechend richtete sich das Verständnis des Materiellen und Natürlichen primär nach dieser Wissenschaft, deren Wirklichkeitsverständnis bis ins 18. Jahrhundert noch einigermaßen geschlossen erschien. Die Seinslehre der klassischen Physik setzte die Existenz materieller Partikel und zwischen ihnen wirkender Kräfte voraus, die sich nach kausal vorbestimmten Gesetzen berechnen ließen. Nicht leicht konnte in diese Konzeption dann die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende Feldtheorie eingeordnet werden, weil Felder gerade dort wirken, wo die sie verursachenden Körper sich nicht befinden. Eine weitere Schwierigkeit im Verständnis des Physikalisch-Realen ergab sich aus der im 19. Jahrhundert entwickelten Theorie des Elektromagnetismus, wonach elektrische und magnetische Felder im selben Sinne ihre Quellen haben wie Gravitationsfelder, sich aber auf diese nicht reduzieren lassen. Ende des 19. Jahrhunderts hatte man sich jedoch auch an die Existenz solcher Seinsgrößen gewöhnt und betrachtete die Physik im Wesentlichen als vollendet.
Als der junge Max Planck am Ende des 19. Jahrhunderts seinen Lehrer Philipp von Jolly fragte, was er studieren solle, riet ihm dieser von der Physik ab, weil es dort nichts mehr zu entdecken gebe. Es war aber gerade Planck, der durch seine Entdeckung der gequantelten, das heißt nur in diskreten Größen messbaren Natur der Energie dazu beitrug, die klassische Physik zu revolutionieren, indem er das alte Axiom »die Natur macht keine Sprünge« außer Kraft setzte. Überhaupt war die Entwicklung der Physik im 20. Jahrhundert dadurch gekennzeichnet, dass sie Grundkonzepte infrage stellte oder aufhob, die zuvor als Apriori-Wahrheiten gegolten hatten, wie zum Beispiel die euklidische Geometrie des dreidimensionalen Anschauungsraumes oder das Kausalitätsprinzip.
Die erste große Umwälzung des Jahrhunderts wird durch Einsteins »spezielle Relativitätstheorie« (1905) gekennzeichnet. Einstein hatte entdeckt, dass im Bereich großer Distanzen und Geschwindigkeiten die Transformationsregeln der klassischen Physik nicht mehr gelten. So addieren sich hier Geschwindigkeiten nicht mehr linear, sondern nähern sich der Grenzgeschwindigkeit des Lichtes an. Die Gleichzeitigkeit von Ereignissen wird aufgehoben und hängt vom Bewegungszustand des Beobachters ab. Je nach dessen Perspektive treten »Zeitdilatationen« (Dehnungen der Zeit) und »Längenkontraktionen« (Schrumpfungen der Länge) auf, durch die selbst die fundamentalen Zeit- und Raumbestimmungen fraglich werden. Eine weitere Konsequenz aus der speziellen Relativitätstheorie ist die Gleichwertigkeit von Masse und Energie, die sich demnach ineinander umwandeln lassen, ferner der durch die Grenzgeschwindigkeit des Lichtes hervorgerufene Zusammenhang, dass kausale Wirkungen nur noch innerhalb eines kegelförmigen Bereichs stattfinden können oder auch die Tatsache, dass die Bestimmung der Masse (eines Materieteilchens) nun von seiner jeweiligen Geschwindigkeit abhängig ist.
Die nächste große Revolution wurde durch Einsteins »allgemeine Relativitätstheorie« (1915) hervorgerufen. In dieser Theorie hob Einstein die Differenz zwischen träger und schwerer Masse auf, indem er die Kraftwirkungen materieller Partikel als »Verbiegungen« eines nichteuklidischen Raumes auffasste, die gewissen Feldgrößen äquivalent waren. In seiner eigenen Lesart signalisierte dieser Übergang zugleich den Übergang von einer Teilchen- zu einer Feldontologie. Das heißt, das Physikalisch-Reale erschien nun nicht mehr als ein starres Wirklichkeitsklötzchen, sondern das Feld galt als primär Seiendes, relativ zu dem die Existenz von Partikeln als etwas Abgeleitetes erschien. Daraus wurden verschiedentlich spiritualistische Konsequenzen gezogen, so als habe sich die konkrete Materie im Verlauf der physikalischen Entwicklung in »Geist« aufgelöst. Es ist aber fraglich, ob solche Spekulationen zwingend aus der Physik folgen, da man Felder auch als rein materielle Objekte interpretieren kann.
Nicht weniger umstürzlerisch waren die Ergebnisse der Quantenmechanik, die unabhängig voneinander von Werner Heisenberg (1925) und Erwin Schrödinger (1926) entdeckt wurde. Die Quantenmechanik bezieht sich zunächst auf Objekte in der atomaren Dimension. Die wesentlichen Eigenschaften, die sie dabei gegenüber der herkömmlichen Physik auszeichnet, sind das Auftreten diskreter Zustandsgrößen, das Durchbrechen des Determinismus im Sinne einer kausalen Vorbestimmtheit allen Geschehens, das Auftreten von Komplementaritäten und der Welle-Teilchen-Dualismus. Während um die Erde kreisende Satelliten alle Energieniveaus, das heißt alle (homogen) möglichen Bahnen, einnehmen können, kann ein Elektron, wenn man es sich als um den Atomkern kreisend vorstellt, nur auf ganz bestimmten Bahnen laufen, das heißt seine Energiezustände sind gequantelt. Weiter zeigte sich, dass die Gesetze der Quantenmechanik nicht für den Einzelfall gelten, sondern nur für statistische Gesamtheiten. Man kann also zum Beispiel nicht präzise vorhersagen, wann ein bestimmtes (einzelnes) radioaktives Atom zerfallen wird, sondern muss sich mit (summativen) Wahrscheinlichkeiten zufrieden geben. Darüber hinaus trat in der Welt der Quanten das Phänomen der »Unbestimmtheit« auf. Zum Beispiel erwies es sich als unmöglich, zugleich Ort und (!) Impuls eines Teilchens scharf zu messen. Zwischen diesen Größen herrscht ein Verhältnis der »Komplementarität«. Ebenso machte sich in diesem Zusammenhang ein weiteres Paradox im »Welle-Teilchen-Dualismus« bemerkbar, insofern es hier von der Versuchsanordnung abhängt, ob sich ein zu bestimmendes Objekt als Welle oder als Teilchen zeigt.
Eine Vereinigung von allgemeiner Relativitätstheorie und Quantentheorie ist bis heute nicht befriedigend gelungen. Zudem zeigte sich, dass es, je weiter man in die Elementarbereiche der Materie vorstieß, noch neue Kräfte, etwa die »starke« und »schwache Wechselwirkung« gibt. Heute strebt man eine »vereinigte Feldtheorie« an, die es gestatten würde, alle bekannten Kräfte aus einem einzigen Formalismus abzuleiten. Trotz weiterer umstürzender Entdeckungen ab der Mitte des 20. Jahrhunderts markieren doch Relativitäts- und Quantentheorie eine entscheidende Wende in der Entwicklung der Physik, ja vielleicht sogar in der gesamten kulturellen Welt, denn es dürfte kein Zufall sein, dass sich ungefähr zur selben Zeit, als sich in der Physik die lebensweltlich verankerten Vorstellungen auflösten, ähnliche Revolutionen auch im gesellschaftlichen und künstlerischen Bereich stattfanden: So gelangte um 1910 Wassily Kandinsky zur selben Zeit, als Arnold Schönberg anfing, atonal zu komponieren, zur abstrakten Malerei; kurz darauf brachen in Europa die monarchischen Systeme zusammen, und der Sozialismus erstarkte.
Seit den Sechzigerjahren gerieten Phänomene stärker ins Zentrum der Physik, die mit Begriffen wie »Selbstorganisations-« und »Chaostheorie« bezeichnet werden. Es stellte sich nämlich heraus, dass es einen großen Bereich »nichtlinearer Effekte« gibt, bei denen winzige, in den Ausgangsbedingungen nicht mehr messbare Differenzen zu sehr gravierenden Konsequenzen führen können, bis dahin, dass ein (bestehendes) System ins Chaos abstürzt oder aus dem Chaos spontan komplexe Strukturen hervorgehen. In diesem Zusammenhang zeigten sich weitere, über die Quantentheorie hinausgehende Formen der Unbestimmtheit, die in den Bereich zwischen Makro- und Mikrokosmos hineinreichen, wie überhaupt sich Chaos- und Selbstorganisationstheorien primär in diesem Bereich abspielen. Deshalb und weil ihre Objekte sehr komplex sind, lässt sich von hier aus eine Brücke zur Biologie schlagen, umso mehr, als dass sich schon in der nichtlinearen Dynamik »Unberechenbarkeiten« bemerkbar machen, die an geschichtliche, eng miteinander verzahnte (evolutive) Prozesse erinnern. Auf diese Weise scheint ein Brückenschlag von den Natur- zu den Geisteswissenschaften wieder möglich.
Da die konstitutive Bedeutung des Geschichtlichen in der Biologie immer deutlicher zutage tritt, was von vielen Autoren als ein Hinweis auf ihre Eigenständigkeit gegenüber der Physik gedeutet wird, ergeben sich hier interessante Querverbindungen, wobei es in der Zukunft sogar geschehen könnte, dass die Biologie schließlich zur Leitwissenschaft avanciert, mit bislang noch nicht überschaubaren Konsequenzen für das Selbstverständnis des Menschen.
Dr. Hans-Dieter Mutschler
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Universal-Lexikon. 2012.