Li|te|ra|tur|ge|schich|te 〈f. 19〉
1. Geschichte der Literatur
2. geschichtl. Darstellung der Literatur in Buchform
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Li|te|ra|tur|ge|schich|te, die:
1. <o. Pl.>
b) Literaturwissenschaft.
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Literaturgeschichte,
die Darstellung geschichtlicher Entwicklungen entweder der Nationalliteraturen oder der Weltliteratur. Zur Literaturgeschichte gehören auch die Darstellungen einzelner Epochen und die Geschichte einzelner Gattungen in ihren Zusammenhängen und Wechselbeziehungen. Literaturgeschichtsschreibung hat die Aufgabe, das jeweils Dargestellte in umfassendere (auch theoretische) Bezugsrahmen einzuordnen, und führt - v. a. in älteren Epochen - über das Problem der Wertung auch zu einer gewissen Kanonbildung.
Als Kataloge kanonischer Werke finden sich literaturgeschichtliche Darstellungen seit der Antike. Der historische Aspekt ist bei diesen Übersichten oft nur eine sekundäre Folge, z. B. von bibliothekarischen Bestandsaufnahmen (Kallimachos, 3. Jahrhundert v. Chr., Alexandria) oder Sammlungen mustergültiger Texte im Dienste der Rhetorik und Poetik (Quintilian, 1. Jahrhundert v. Chr.). Von weit reichender Bedeutung war die Vitensammlung Suetons »De viris illustribus« (2. Jahrhundert). An sie knüpfte Hieronymus (4. Jahrhundert) mit seinem Werk gleichen Titels an, in dem er Schriften heidnischer Autoren (Literatura) und christlicher Verfasser (Scriptura) unterschied. Dieses für das Mittelalter vorbildhafte Werk gilt als erste christliche Literaturgeschichte. Fortgeführt wurde es von Gennadius von Marseille (5. Jahrhundert) und in dessen Tradition von Sigebert von Gembloux (11. Jahrhundert), Honorius Augustodunensis (um 1100) und Konrad von Hirsau (12. Jahrhundert). Zur systematischen Bereicherung der Literaturgeschichte trugen seit dem 8. Jahrhundert die »Accessus ad auctores« bei, in denen im Allgemeinen die Biographie eines Einzelautors sowie formale und inhaltliche Aspekte eines seiner Werke für den Lehrgebrauch erläutert wurden. Die bedeutendste lateinische Schulliteraturgeschichte des Mittelalters ist das »Registrum multorum auctorum« Hugo von Trimbergs (1280). Im 13. Jahrhundert finden sich mit den zum Teil Uc de Saint-Circ (* um 1200, ✝ nach 1250) zugeschriebenen Troubadourbiographien (um 1230) Belege einer volkssprachlichen Literaturgeschichtsschreibung. Von großer Bedeutung, v. a. auch für die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte mittelalterlichen Schrifttums, sind die »Literaturexkurse« in der höfischen Epik, so z. B. im »Tristan« (um 1210) Gottfried von Straßburgs und im »Alexander« (13. Jahrhundert) Rudolf von Ems'. Nach G. Boccaccios 1360 entstandener Dantebiographie »Vita di Dante« (gedruckt 1477) sind dann für das 15. Jahrhundert besonders der - und a. erstmals seit dem 10. Jahrhundert Otfried von Weißenburgs »Evangelienbuch« erwähnende - »Catalogus illustrium virorum germanorum« (1489) des Trithemius und die manchmal als erste romanische Literaturgeschichte bezeichnete Vorrede des Marqués de Santillana zu seinem dichterischen Werk »Proemio e carta al Condestable de Portugal« (entstanden zwischen 1445 und 1449, herausgegeben 1779) zu nennen. - Die humanistisch inspirierte Gelehrsamkeit von Renaissance und Barock brachte u. a. in England (J. Bale, »Illustrium maioris Britanniae scriptorum. .. summarium«, um 1550; P. Sidney, »The defence of poesie«, herausgegeben 1595, auch unter dem Titel »Apologie for poetrie«), Frankreich (Étienne Pasquier, * 1529, ✝ 1615, »Des recherches de la France«, 11 Teile, 1560-1621; Jean de Nostredame, 16. Jahrhundert, »Les vies des plus anciens et célèbres poètes qui ont fleuri du temps des comtes de Provence«, 1575; C. Fauchet, * 1530, ✝ 1602, »Recueil de l'origine de la langue et poésie française, ryme et romans«, 1581), Spanien (J. de Mariana, * 1536, ✝ 1624, »Historiae de rebus Hispaniae libri XX«, 1592; F. Cascales, »Tablas poéticas«, 1617) und Deutschland (M. Opitz, »Aristarchus, sive de contemptu linguae teutonicae«, 1617) literaturgeschichtliche Beiträge hervor, die sich zunehmend um eine umfassende Würdigung der behandelten Autoren und Werke bemühten, bevor das erwachende archivarisch-historiographische Interesse des ausgehenden 17. Jahrhunderts sowie die Erkenntnissuche von Aufklärung und Vorromantik zu enzyklopädischen und interpretierenden Darstellungen führten (Nicolás Antonio, * 1617, ✝ 1684, »Bibliotheca hispana«, 1672; »Bibliotheca hispana vetus«, 1696; »Bibliotheca hispana nova«, 1696; Daniel Georg Morhof, * 1639, ✝ 1691, »Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie«, 1682; »Polyhistor, sive de notitia auctorum et rerum commentarii«, 2 Teile, 1688-92; P. Bayle, »Dictionnaire historique et critique«, 2 Bände, 1696/97; Ludovico Antonio Muratori, * 1672, ✝ 1750, »Rerum italicarum scriptores«, 25 Bände, 1723-51; »Histoire littéraire de la France«, 1773 ff. [bisher 41 Bände]; Giovanni Maria Mazzuchelli, * 1707, ✝ 1765, »Gli scrittori d'Italia«, 6 Bände, 1753-63; Georg Christoph Hamberger, * 1726, ✝ 1773, »Zuverlässige Nachrichten von den vornehmsten Schriftstellern. ..«, 4 Bände, 1756-64; J. G. Herder, »Versuch einer Geschichte der Dichtkunst«, 1765; S. Johnson, »The lives of the most eminent English poets«, 4 Bände, 1781; u. a.).
Ab 1800 nahm die Zahl der Literaturgeschichten sowohl unter nationalliterarischen als auch unter komparatistischen Gesichtspunkten ständig zu. Für Deutschland sind in diesem Zusammenhang u. a. die folgenden Autoren und Werke zu nennen: F. Schlegels Überblicksdarstellung »Geschichte der alten und neuen Literatur. Vorlesungen, gehalten zu Wien im Jahr 1812« (1815, 2 Bände), A. W. Schlegels »Geschichte der deutschen Sprache und Poesie« (herausgegeben 1913) und die erste als Lese- und Hausbuch angelegte Literaturgeschichte von August Koberstein (* 1797, ✝ 1870) »Grundriß zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur« (1827, 51872-74 in 5 Bänden, herausgegeben von K. Bartsch). Einen Markstein in der Entwicklung der deutschen Literaturgeschichtsschreibung stellte die »Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen« (1835-42, 5 Bände, 41853, unter dem Titel »Geschichte der deutschen Dichtung«, 51871-74, herausgegeben von K. Bartsch) des Historikers G. G. Gervinus dar, in der die Literatur bewusst vor dem Hintergrund der politischen Geschichte gesehen wird. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl der Literaturgeschichten, zum Teil mit popularisierender Tendenz, beträchtlich zu. K. Goedeke schuf mit seinem »Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung« (1. Auflage 1859-81, 3 Bände, ersetzt durch 2. und 3. Auflage 1884 ff.) das grundlegende Nachschlagewerk der deutschen Literatur. Ein Höhepunkt der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ist W. Scherers »Geschichte der deutschen Literatur« (1879-83, 161927; daneben seit 1918 erweitert herausgegeben von O. Walzel, 41928).
Insbesondere nach der Reichsgründung von 1871 geriet die deutsche Germanistik zunehmend in den Einflussbereich national-konservativer Bestrebungen, die ihren Niederschlag z. B. in der umfassenden »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« J. Nadlers fanden (1912-18, 3 Bände; 41938-41 in 4 Bänden unter dem Titel »Literaturgeschichte des deutschen Volkes«). Neben der Orientierung an einer völkisch bestimmten Geschichtsbetrachtung spielten in der Literaturgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts die »Grundbegriffe« H. Wölfflins (»offene Form« - »geschlossene Form«; »Klassik« - »Manierismus«), die Modellhaftigkeit der Goethezeit sowie die auch aus pragmatischen Gründen (Schulausbildung) notwendige Kanonbildung eine wichtige Rolle. Diese Akzente blieben zunächst nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, wobei die Vertreter eines Kanons der Literaturgeschichte zunehmend in die Defensive gerieten. Insbesondere Schule und akademischer Unterricht erforderten zudem kleinere, auf Übersichten zielende Darstellungsformen (F. Martini, H. O. Burger, G. Fricke u. a.).
Eine Neuorientierung für die Literaturgeschichte ergab sich aus der Mitte der 60er-Jahre einsetzenden Kritik, Methodendiskussion und Neubegründung der Literaturwissenschaft unter dem Einfluss neomarxistischer Theorien, der Rezeption des französischen Strukturalismus, der Linguistik, der Sozialgeschichtsschreibung und, in neuerer Zeit v. a. auch im Rahmen der Rezeptionsästhetik (H. R. Jauss), der Mentalitätsgeschichte.
Als Folge dieser Neubestimmung, die auch wie der Germanistentag 1966 die Aufarbeitung der ideologischen Verzerrungen bisheriger Literaturgeschichtsschreibung umfasste, stellen gegenwärtige Literaturgeschichten Literatur im Rahmen sozialhistorischer und kultur- beziehungsweise geistesgeschichtlicher Wechselprozesse dar, innerhalb deren einzelne Werke, aber auch Gattungen, Ästhetiken und Autoren als jeweilige Konkretisation eines Ensembles sozialer, historischer, individueller, kultureller und nicht zuletzt mentalitätsgeschichtliche Faktoren erscheinen können.
R. Wellek: The theory of literary history, in: Études dédiées au Quatrième Congrès de Linguistes (Prag 1936, Nachdr. Nendeln 1968);
Gesch. der dt. Lit. von den Anfängen bis zur Gegenwart, begr. v. H. de Boor u. a., auf mehrere Bde. ber. (1-101949 ff.);
Reallex. der dt. L., begr. v. P. Merker u. a., 5 Bde. (1-21958-88);
L. zw. Revolution u. Reaktion. Aus den Anfängen der Germanistik 1830-1870, hg. v. B. Hüppauf (1972);
Über Literaturgeschichtsschreibung, hg. v. E. Marsch (1975);
R. Escarpit: Histoire de l'histoire de la littérature, in: Histoire des littératures, hg. v. R. Queneau, Bd. 3: Littératures françaises, connexes et marginales (Neuausg. Paris 1978);
Dt. Lit. Eine Sozialgesch., hg. v. H. A. Glaser, auf zahlr. Bde. ber. (1980 ff.);
Hansers Sozialgesch. der dt. Lit., hg. v. R. Grimminger, auf zahlr. Bde. ber. (1980 ff.);
F. Wolfzettel: Einf. in die frz. Literaturgeschichtsschreibung (1982);
Gesch. der dt. Lit. vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, hg. v. V. Žmegač, 3 Bde. (21984-85);
J. Fohrmann: Das Projekt der dt. L. Entstehung u. Scheitern einer nat. Poesiegeschichtsschreibung zw. Humanismus u. Dt. Kaiserreich (1989);
V. Žmegač u. a.: Kleine Gesch. der dt. Lit. (31989);
Gesch. als Lit., hg. v. H. Eggert u. a. (1990);
R. C. Holub: Crossing borders. Reception theory, poststructuralism, deconstruction (Madison, Wis., 1992);
H. R. Jauss: L. als Provokation (101992);
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Li|te|ra|tur|ge|schich|te, die: 1. <o. Pl.> a) ↑Geschichte (1 a) der Literatur: fast alle waren Autoren des Insel-Verlages, den Anton und Katharina Kippenberg zu einem Literaturreich ausbauten, das in der jüngeren L. kaum ein Gegenstück hat (Welt 23. 7. 65, 7); b) Literaturwissenschaft. 2. Werk, das die geschichtliche Darstellung einer ↑Literatur (2) enthält.
Universal-Lexikon. 2012.