Plu|ra|lịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. philosophische Lehre, nach der die Wirklichkeit aus vielen selbstständigen Wesen besteht, die insgesamt keine Einheit bilden; Ggs Monismus
2. Auffassung, dass der Staat aus vielen Macht- bzw. Interessengruppen besteht; Ggs Singularismus
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Plu|ra|lịs|mus, der; -:
1. (bildungsspr.)
a) innerhalb einer Gesellschaft, eines Staates [in allen Bereichen] vorhandene Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender u. miteinander um Einfluss, Macht konkurrierender Gruppen, Organisationen, Institutionen, Meinungen, Ideen, Werte, Weltanschauungen usw.:
weltanschaulicher, kultureller P.;
b) politische Anschauung, Grundeinstellung, nach der ein Pluralismus (1 a) erstrebenswert ist:
ein radikaler P.
2. (Philos.) philosophische Anschauung, Theorie, nach der die Wirklichkeit aus vielen selbstständigen Prinzipien besteht, denen kein gemeinsames Grundprinzip zugrunde liegt:
sie ist eine Vertreterin des [philosophischen] P.
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Pluralịsmus
der, -, Begriff zur Bezeichnung vielgliedriger Ordnungen und Anschauungen besonders in der Philosophie, der Soziologie und der Politikwissenschaft.
In der Philosophie bezeichnet Pluralismus die Annahme mehrerer voneinander unterschiedener und selbstständig bestehender Prinzipien der Wirklichkeit, die nicht voneinander, von einem einzigen Prinzip oder von zwei entgegengesetzten Prinzipien ableitbar sind, im Unterschied zum Monismus oder Dualismus; auch die gleichberechtigte Geltung mehrerer voneinander unterschiedener Standpunkte oder Normensysteme im Rahmen menschlicher Gemeinschaft. Der Pluralismus stützt sich in metaphysischer, ontologischer und logischer Hinsicht auf die Mannigfaltigkeit des Wirklichen, die eine Mehrheit oberster Grundbestimmungen und die Annahme unterschiedlicher Seinselemente oder logischer Kategorien erfordert. Der Begriff geht auf C. Wolff zurück. Allgemein methodologisch bedeutet Pluralismus ein wissenschaftliches Verfahren (Methodenpluralismus), das sich einer Vielzahl von Methoden bedient, die dem jeweiligen Gegenstand der Untersuchung angepasst sind.
In der philosophischen Tradition überwiegt bis zur Neuzeit die monistische oder dualistische Denkweise. Pluralismus findet sich jedoch bereits in der Antike, in der Welterklärung aus Elementen und Urkräften bei Empedokles oder aus Atomen bei den Atomisten (Demokrit, Epikur), im 17. Jahrhundert u. a. im Ordnungssystem der Monadenlehre bei G. W. Leibniz. Eine zentrale Bedeutung erhält der Pluralismus im Pragmatismus (W. James), dem zufolge die Welt nicht in abgeschlossener, in ein monistisches Prinzip integrierbarer Form gegeben ist, sondern sich dem menschlichen Erkennen und Handeln offen und werdend darbietet. - In der neueren Wissenschaftstheorie tritt H. Albert, anknüpfend an K. R. Popper und P. K. Feyerabend, für einen theoretischen Pluralismus ein, womit er, gegen die monistische Dogmatik von einzelnen Lehrgebäuden, die konstruktive Funktion hervorhebt, die alternativen wissenschaftlichen Konzeptionen für die Entwicklung neuer Problemlösungen und für den allgemeinen Erkenntnisfortschritt zukommt. Der ethische Pluralismus (die pluralistische Ethik) geht, anders als universalistische Ethiken, davon aus, dass das menschliche Handeln von unterschiedlichen, voneinander unabhängigen Moralsystemen oder Prinzipien bestimmt ist (u. a. vertreten von F. Nietzsche, M. Weber und A. Gehlen).
In Politikwissenschaft und Soziologie wird Pluralismus als normativer (Sollzustände angebender) oder empirischer (Istzustände bezeichnender) Begriff für vielgliedrige politische Ordnungen verwendet, in denen politische Macht durch Recht und institutionelle »checks and balances« gezähmt ist, die einzelnen Bürgern oder Interessenverbänden ein hohes Maß an Autonomie und politischer Beteiligung gewähren und offen für Konflikte und Konsensbildung zwischen den Interessen und Ideen sind. Die pluralistische Gesellschaft ist gekennzeichnet durch die Vielgestaltigkeit und Komplexität ihres gesellschaftlichen und politischen Lebens. Der Einzelne gewinnt Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume, da er nicht einem einheitlichen Willen unterworfen ist, auf der anderen Seite ist er zur Angleichung, zur Konformität, zur sozialen Standardisierung gedrängt, da er in ein vielseitiges Geflecht von sozialen Beziehungen einbezogen ist.
Die frühe Pluralismustheorie wendet sich besonders gegen die Souveränitätsansprüche des Staates. So geht H. Laski in seiner frühen Forschungstätigkeit von der Pluralität der Souveränitäten in der Gesellschaft aus: Beeinflusst von der philosophischen Pluralismuslehre, von der Genossenschaftslehre O. von Gierkes und vom britischen Gildensozialismus billigt er dem Staat nur die Rolle eines Verbandes unter Verbänden zu. Pluralismustheorien grenzen sich auch von der klassisch-liberalen Auffassung ab, dass dem Staat eine Gesellschaft gegenübersteht, die nur aus allein für sich existierenden Individuen besteht: Demgegenüber betonen sie die eigenständige Bedeutung »intermediärer«, d. h. im Zwischenbereich von Einzelmensch und Staat existierender und handelnder Gruppen. Die Pluralismustheorie wendet sich auch gegen monistischen politischen Ordnungen. Sie bezieht eine Frontstellung gegen die Klassenkampftheorie des Marxismus ebenso wie gegen die Ideologie und totalitäre Praxis faschistischer oder kommunistischer Regierungssysteme.
In der modernen Politikwissenschaft wird Pluralismus vorrangig als empirischer Begriff gebraucht. In der Staatsformenlehre dient er zur Kennzeichnung von Strukturmerkmalen politischer Systeme (Demokratie im Gegensatz zu Diktatur) und in der neueren Verbände- und Policy-Forschung (Analyse von Staatstätigkeit) zur Kennzeichnung bilateraler, gering zentralisierter und transsektoral (bereichsübergreifend) gering koordinierter Interessenvermittlung zwischen Staat und Verbänden. Am häufigsten findet der Pluralismusbegriff Verwendung zur Charakterisierung einer bestimmten Form der politischen Willensbildung und eines bestimmten Typus von Demokratie. Hierbei bezeichnet Pluralismus- so die angloamerikanische Schule des Gruppenpluralismus- die Prozesse der Interessenartikulation, Interessenbündelung und Entscheidungsfindung, die von einem allgegenwärtigen Kräftemessen und dem relativen Gleichgewicht organisierter Interessen (»countervailing powers«) sowie der Organisierbarkeit prinzipiell aller Interessen beherrscht sind. Im Unterschied zum gruppenpluralistischen Ansatz stellen neuere Pluralismustheorien Machtkonzentrationen im Verbände- und Parteiwesen sowie in den Beziehungen zwischen Verbänden, Parteien und Staat fest.
Die Pluralismustheorien sind einflussreich, aber auch umstritten. Konservativen Kritikern zufolge unterminiert der Pluralismus die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des Staates, macht den Staat zum Beuteobjekt partikularer Interessen, erzeugt Unregierbarkeit und macht eine auf Gemeinwohl gerichtete Politik unmöglich. Marxistische Kritiker werfen dem pluralistischen Gesellschaftsentwurf die Unterschätzung von Machtasymmetrien zwischen ökonomisch herrschenden und wirtschaftlich abhängigen Klassen vor - so Vertreter der kritischen Theorie (z. B. C. Offe). Anhänger der »Neuen politischen Ökonomie« (M. Olson) weisen auf die Vernachlässigung von Asymmetrien zwischen spezialisierten, gut organisierbaren und konfliktfähigen Interessen und allgemein schwer organisierbaren und kaum konfliktfähigen Interessen hin. Auch die in der neueren Verbände- und Policy-Forschung vertretene Auffassung, dass pluralistische Systeme der Interessenvermittlung für Sozialintegration sorgten, jedoch erheblich sachliche Problemlösungsdefizite aufwiesen, vermindert die Durchschlagskraft der normativen Pluralismustheorien.
Neue Entwicklungen der Pluralismustheorie (z. B. W. A. Kelso) haben der Kritik durch Differenzierungen von drei Pluralismusbegriffen und Pluralismustheorien Rechnung zu tragen versucht: 1) die Theorie des Laissez-faire-Pluralismus (die im Bannkreis des vielfach kritisierten Gruppenpluralismusmodells bleibt), 2) die Theorie des »korporativen Pluralismus« (die Oligopol- und Monopolbildungen kennt) und 3) die Theorie des »gesteuerten sozialen Pluralismus«, die dem Staat eine aktive, dem Gesamtwohl förderliche Rolle als Wächter, Vermittler und Prioritätensetzer im Interessenkonflikt beimisst. Darüber hinaus haben sich pluralistische Willensbildungsprozesse - entgegen Erwartungen ihrer Kritiker - durch eine bemerkenswerte Offenheit und Anpassungselastizität gegenüber neuen und allgemeinen Interessen ausgezeichnet.
C. Offe: Polit. Herrschaft u. Klassenstrukturen, in: Politikwissenschaft, hg. v. G. Kress u. a. (Neuausg. 31975);
H. H. von Arnim: Gemeinwohl u. Gruppeninteressen (1977);
A. Gehring: Freiheit u. P. (1977);
A. Schwan: Grundwerte der Demokratie. Orientierungsversuche im P. (1978);
W. Steffani: Pluralist. Demokratie (1980);
Patterns of corporatist policy-making, hg. v. G. Lehmbruch u. a. (London 1982);
M. Olson: Die Logik des kollektiven Handelns (a. d. Engl., 21985);
P. L. Berger u. T. Luckmann: Modernität, P. u. Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen (1995).
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Plu|ra|lịs|mus, der; -: 1. (bildungsspr.) a) innerhalb einer Gesellschaft, eines Staates [in allen Bereichen] vorhandene Vielfalt gleichberechtigt nebeneinander bestehender u. miteinander um Einfluss, Macht konkurrierender Gruppen, Organisationen, Institutionen, Meinungen, Ideen, Werte, Weltanschauungen usw.: gesellschaftlicher, weltanschaulicher, kultureller, methodologischer P.; der P. der Interessengruppen; Die Entstehung der Verbände als sichtbarer Ausdruck des gesellschaftlichen P. ist eine notwendige Begleiterscheinung der Massengesellschaft (Fraenkel, Staat 256); Der Präsident ist ... angetreten, ... eine auf politischem P. basierende Demokratie zu schaffen (Freie Presse 3. 1. 90, 4); b) politische Anschauung, Grundeinstellung, nach der ein ↑Pluralismus (1 a) erstrebenswert ist: ein radikaler P. 2. (Philos.) philosophische Anschauung, Theorie, nach der die Wirklichkeit aus vielen selbstständigen Prinzipien besteht, denen kein gemeinsames Grundprinzip zugrunde liegt: sie ist eine Vertreterin des [philosophischen] P.
Universal-Lexikon. 2012.