* * *
Ideo|lo|gie [ideolo'gi:], die; -, Ideologien [ideolo'gi:ən]:1. an eine soziale Gruppe o. Ä. gebundene Weltanschauung, Grundeinstellung, Wertung:
die Ideologie der Herrschenden; eine Ideologie vertreten.
2. politische Theorie, in der bestimmte Ideen der Erreichung politischer und wirtschaftlicher Ziele dienen:
politische Ideologien.
Zus.: Parteiideologie, Staatsideologie.
* * *
Ideo|lo|gie 〈f. 19〉
1. Gesamtheit der Anschauungen u. des Denkens einer bestimmten gesellschaftl. Schicht
2. polit. Theorie, polit. Anschauung
● die \Ideologie des Bürgertums, des Kapitalismus, des Kommunismus [<Ideo... + grch. logos „Kunde, Darstellung“]
* * *
Ideo|lo|gie , die; -, -n [frz. idéologie, eigtl. = Ideenlehre, gepr. von dem frz. Philosophen A. L. C. Destutt de Tracy (1754–1836), zu griech. idéa ↑ (Idee) u. ↑ -logie]:
a) an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. Ä. gebundenes System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen u. Wertungen:
eine bürgerliche, demokratische I.;
die I. der herrschenden Schicht;
die -n einer Zeit;
eine I. vertreten;
jmdm. seine I. aufzuzwingen versuchen;
b) politische Theorie, in der ↑ Ideen (2) der Erreichung politischer u. wirtschaftlicher Ziele dienen (bes. in totalitären Systemen):
eine faschistische, kommunistische I.;
politische -n;
c) weltfremde Theorie.
* * *
I Ideologie,
das an eine soziale Gruppe, eine Kultur oder dergleichen gebundene System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Werthaltungen.
II
Ideologie
[französisch, zu griechisch idéa »Gestalt«, »Beschaffenheit«, ursprünglich »Erscheinung«, von ideĩn »sehen«, »erkennen«, »wissen« und. ..logie] die, -/...'gi |en, in der französischen Philosophie (A. L. C. Destutt de Tracy) gebildeter theoretischer, dann auch in den allgemeinen Sprachgebrauch aufgenommener Begriff, der in wörtlicher Entsprechung zunächst Wissenschaft von den Ideen, dann aber auch System oder Menge von Ideen, schließlich die Anordnung und das Hervorbringen von Vorstellungen zur Interpretation der Welt in einer bestimmten (z. B. interessegeleiteten und damit verfälschenden) Sichtweise bedeutet.
Schon diese verschiedenen Schattierungen weisen darauf hin, dass es für die Begriffsbestimmung von Ideologie keine eindeutige Definition gibt, dass es sich hierbei vielmehr um ein operatives Konzept handelt, das in jeweils unterschiedlichen historischen und politischen Situationen, in der allgemeinen Sprache und in unterschiedlichen wissenschaftlichen Fragestellungen und gesellschaftstheoretischen Entwürfen eine jeweils eigene Gestalt, einen eigenen Begriffsumfang und eine je nach Standort verschiedene Wertzuschreibung erfahren kann. Eine allen Verwendungsweisen von Ideologien gemeinsame Grundvorstellung mag darin bestehen, dass es sich bei der Beschäftigung mit Ideologien jeweils um die Betrachtung des Verhältnisses einer Vorstellungswelt zu einer - wie immer aufgefassten - wirklichen Welt handelt; es geht also um die Betrachtung von Ideen, Aussagen, Welt- und Denkmodellen im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen (gruppenspezifischen), historischen, politischen oder ökonomischen Grundlagen und Auswirkungen, wobei die Zuordnungen und Erklärungen, nicht zuletzt die Bewertungen dieser Relation (anhand von Kriterien wie Wahrheit, Angemessenheit, Notwendigkeit oder Plausibilität) große Unterschiede aufweisen können. Die Frage nach der Ideologie zielt also auf »den Zusammenhang von Bewusstsein und Gesellschaft« (H.-J. Lieber), wobei die mögliche Verselbstständigung (auch »Verdinglichung«) des Bewusstseins mitgesehen wird. Dies impliziert 1) eine Differenz zwischen Bewusstsein und Gesellschaft, 2) eine wie immer aufgefasste (z. B. kausale oder analoge) Relation der beiden, 3) das Postulat einer möglichen Übereinstimmung, 4) schließlich die Möglichkeit der Überprüfung, Kontrolle und Kritik des Verhältnisses von Ideologie und Realität. - Somit werden in einer gesellschaftswissenschaftlichen relevanten Fragestellung auch die grundsätzlichen Positionen und Probleme der Erkenntnistheorie (E. Topitsch) berührt.
Im allgemeinen Sprachgebrauch hat der Begriff Ideologie eine negative Färbung, insoweit als unter Ideologie eine unbegründete, willkürliche oder durch Interesse verzerrte, keineswegs also allgemein gültige (gar »richtige«) Deutung der Wirklichkeit im Lichte des jeweils eigenen (also partikularen) Ideensystems verstanden wird. In diesem Sinn werden als Ideologien auch die weltanschaulichen Lehren bezeichnet, deren Anerkennung durch die Bevölkerung in totalitären Systemen erzwungen wird. Mitunter dient der Begriff Ideologie auch zur Bezeichnung einer praxisfernen, an einer »reinen Lehre« orientierten und deshalb unzureichenden oder verfälschenden Auffassung der Wirklichkeit.
Im wissenschaftsorientierten, aber auch im politischen Gebrauch lassen sich dagegen ein kritischer, ein neutraler und ein positiver Ideologiebegriff unterscheiden.
Geschichte des Ideologieproblems
Das Ideologieproblem ist älter als das Wort Ideologie. Insoweit es sich bei der Fragestellung der Ideologie um die Frage nach der Abhängigkeit des Denkens von materiellen (historischen, sozialen, ökonomischen, anthropologischen) Gegebenheiten sowie um die Frage der Fundierung des Denkens in diesen Gegebenheiten und um die materielle Bedeutung von Ideen handelt, gehört das Ideologieproblem in den spezifischen Zusammenhang der Entwicklung und Legitimation neuzeitlichen Denkens, insbesondere in den Zusammenhang der Erkenntnistheorie und Wissenssoziologie. Erst in dem Maße, wie sich das neuzeitliche Wissen seiner Grundlagen in der Absetzung von einem theologisch (durch Gott) »garantierten Wirklichkeitsbegriff« (H. Blumenberg) versichern muss und sich unter diesem Anspruch in ein kritisches, prüfendes »Wissenwollen« verwandelt, tritt die Notwendigkeit in den Blick, die alten Deutungsmuster, ihre Wirksamkeit, aber auch ihre verfälschenden und irreführenden Funktionen zu untersuchen.
In politischer und sozialer Hinsicht bringt die mit der neuzeitlichen, dann »bürgerlichen Gesellschaft« verbundene Entfaltung von Gruppendifferenzierung und Individualität Partikularinteressen und als spezifisch moderne Erfahrung eine »Pluralisierung der Lebenswelten« (A. Schütz) hervor, die ihrerseits die Fragen nach der Machart und Gültigkeit der nunmehr als differierend empfundenen Weltinterpretationen aufwerfen und damit über die Notwendigkeit der Ideologiekritik das Ideologieproblem stellen. Die spezifische Problemlage von Ideologiekritik und Ideologie ist also ihrerseits an die Entfaltung aufklärerischer Kritik und an die Emanzipation und Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Als erste historische Gruppierung versteht sich die bürgerliche Gesellschaft zugleich als Repräsentant der »Menschheit« und formuliert infolgedessen einerseits ihre Partikularinteressen im Sinne allgemein menschliche Maßstäbe, so wie sie andererseits in vorhergehenden »universal« angenommenen Denkmustern und Weltdeutungen das jeweils verborgene Partikularinteresse aufzuspüren geneigt ist. Schließlich etabliert sich mit Aufklärung und Bürgertum eine Vorstellung »bürgerlicher Öffentlichkeit« (J. Habermas), womit sich für Ideologieproduktion und Ideologiekritik ein eigenständiges Forum ausmachen lässt.
Vorläufer einer kritischen Beschäftigung mit dem Ideologieproblem sind F. Bacon, der zur Begründung seiner neuen Wissenschaft im Sinne einer prüfenden, auf Tatsachen aufbauenden Methodisierung von einer Kritik der Vorurteile (»idola«) ausging, ferner der materialistische und sensualistische Zweig der französischen Aufklärungsphilosophie (P. H. T. d'Holbach, C. A. Helvétius), dem es in der Kritik an den die Gesellschaften beherrschenden Ideensystemen (insbesondere der Religion) um die Entlarvung der hinter diesen Ideen stehenden und durch die Ideologie verdeckten Machtinteressen (»Priestertrug«) ging. Anders als diesen geht es - in der Anknüpfung an J. Locke - für A. L. C. Destutt de Tracy in der Begründung von Ideologie als Wissenschaft (1796) um die Fundierung einer abgesicherten Theorie der sinnlichen Wahrnehmung, auf deren Basis dann in Frankreich nach der Revolution von 1789 insbesondere Erziehung und Unterricht eine entsprechende Ausgestaltung und Verbesserung im Hinblick auf das Ziel einer »sozialen Harmonie« erfahren sollten; eine Programmatik, die, wenn auch noch aufklärerisch fundiert, in ihrer Orientierung an gegebenen Sinneserfahrungen und in ihrem Bemühen um soziale Verbesserung die Gruppe der Ideologen um Destutt de Tracy zu Vorläufern des sozialwissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts machte.
Gegen deren aufklärerischen, insbesondere antireligiösen Impuls bezog zu Beginn des 19. Jahrhunderts Napoleon I. Stellung, der im Zuge der Etablierung seiner politischen Herrschaft die Programmatik der Ideologen nunmehr als überzogene, praxisferne und untaugliche Spekulation ablehnte. Seit dieser Zeit dient der Begriff Ideologie als Kampfbegriff in einem pejorativen Sinne zur Kennzeichnung eines unbegründeten, auf Spekulationen aufbauenden Hangs zur Vervollkommnung der Gesellschaft ohne reale Bezüge. In Deutschland knüpft dabei die Verwendung des Begriffs weniger an die französische Diskussion an als vielmehr an die Denunziation der deutschen Aufklärer und Republikaner als politische Fantasten und realitätsferne Denker, wie sie v. a. in konservativer Sichtweise formuliert worden war.
Auch im weiteren Verlauf der Geschichte bleiben der Ideologiebegriff und das Ideologieproblem an die Auseinandersetzung um die Rolle gesellschaftlicher Aufklärung gebunden. Mit der Entwicklung der Sozialwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert und insbesondere seit der mit dem Werk von K. Marx verbundenen Verlagerung der philosophischen Ideologieforschung auf das Feld der Gesellschaftswissenschaften wird nunmehr Ideologie zum Thema wissenschaftstheoretischer Erörterungen und gewinnt damit ihre moderne charakteristische Vielgestaltigkeit.
Theorien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts
In seiner kritischen Bedeutung wird der Ideologiebegriff bei Marx bestimmt und hat über ihn noch Anteil an der auf den Fortschritt von Erkenntnis und Gesellschaft zielenden Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Gegenüber den Annahmen gruppeninteressierten Betrugs aber, wie sie für die Vorstellungen der französischen Materialisten kennzeichnend waren, formulierte Marx in Übernahme der Geschichtsphilosophie G. W. F. Hegels und auf der Basis der Auseinandersetzung mit L. A. Feuerbachs Religionskritik einen Begriff von Ideologie, der die Merkmale falsches Bewusstsein, historische Notwendigkeit und Praxisbedeutung in der gesellschaftlichen Realität miteinander verknüpft. Ideologie im Sinne von Marx ist demnach das Denken einer bestimmten sozialen Gruppe (Klasse) zu einer bestimmten Zeit auf der Grundlage der materiellen (ökonomischen) Verhältnisse und steht in Wechselbeziehung mit diesen. Insofern dieses Denken die Orientierung in der jeweils für diese Gruppe bedeutungsvollen Welt bietet, ist es notwendig, insofern es aber die partikulare Sicht der Gruppe als universale ausgibt, ist es falsches, verzerrtes Bewusstsein, das in der Öffentlichkeit der Infragestellung (Ideologiekritik) bedarf. Die Falsifikation findet dagegen im weiteren Verlauf des Geschichtsprozesses selbst statt. Insofern schließlich Ideologie der Aneignung der Welt, der Vermittlung der herrschenden Weltsicht dient, hat sie einen praktischen, stabilisierenden, gegenüber dem Geschichtsverlauf aber auch retardierenden (reaktionären) Charakter.
Im Anschluss an Marx hat die marxistische Ideologiekritik einerseits den illusorischen Charakter eines sich von materiellen Bedingungen unabhängig denkenden Bewusstseins hervorgehoben (F. Engels, F. Mehring), andererseits die positive, bewusstseinsbildende, damit auch Welterfahrung und politisches Handeln strukturierende Funktion »richtigen« Bewusstseins als positiven Begriff von Ideologie akzentuiert (z. B. in Lenins Konzeption der Partei für die Herausbildung eines »proletarischen Bewusstseins«). Schließlich gibt es im Marxismus des 20. Jahrhunderts den Versuch, den Begriff der Ideologie aus dem Reibungsverhältnis der vorherrschenden Bewusstseinsformen zum Verlaufsgang sozialer Entwicklungen zu bestimmen, Ideologiekritik also am Maßstab der jeweils werdenden gesellschaftlichen Totalität zu betreiben; dies gilt für die Ideologiekonzeptionen von G. Lukács, E. Bloch und den westlichen Marxismus, während die »kritische Theorie« der Frankfurter Schule (M. Horkheimer, T. W. Adorno) angesichts einer totalen Ideologie und einer ebenso totalitären gesellschaftlichen Entwicklung den Maßstab ihrer Ideologiekritik nur noch aus der Negation des bestehenden »Verblendungszusammenhangs« zu gewinnen vermag.
In ähnlich kritischem Verständnis wie Marx, aber mit der Sicherheit dessen, der auf der Höhe der Wissenschaft seiner Zeit gegen eine überwundene Position Stellung bezieht, behandelte A. Comte das Phänomen der Ideologien. Für ihn sind Ideologien die zurückliegenden und gegenwärtigen Sozialutopien, die sich einer empirischen Prüfung entziehen und dadurch unrealistische, dysfunktionale Vorstellungen innerhalb des sozialen Entwicklungsgangs bestärken. Wurde im Rahmen solcher kritischer Betrachtung den Ideologien vom Standpunkt der Vernunft aus (am Maßstab des wissenschaftlichen Fortschritts bei Comte, am Maßstab des geschichtlichen Fortschritts bei Marx) der Prozess gemacht, so tritt besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Betrachtung der Ideologie als Hort und Residuum der Unvernunft in den Blick, wobei nunmehr aber den in den Ideologien zum Ausdruck kommenden irrationalen Motiven, Bedürfnissen und Betrugsabsichten eine historische oder anthropologische Notwendigkeit, mitunter sogar eine positive Bewertung zugesprochen wird. Diese in der Aufklärungskritik F. Nietzsches ausgeführte Perspektive findet sich in kulturkritischer oder sozialwissenschaftlicher Wendung bei S. Freud, L. Klages, T. Lessing, folgenreich bei V. Pareto und G. Sorel. Ideologie wird hier als ein für Massengesellschaften und deren Irrationalismen notwendiger Begründungszusammenhang verstanden, der die individuellen Egoismen und Interessen scheinhaft zu binden vermag oder überdeckt und so Gesellschaften beherrschbar machen kann.
Sowohl die Wissenssoziologie K. Mannheims als auch der amerikanische Strukturfunktionalismus (T. Parsons) sehen von den weltanschaulichen, anthropologisch-biologischen und auch kulturkritischen Implikationen der zuvor genannten Ideologietheorien ab und betrachten Ideologien im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit beziehungsweise Stabilität der jeweiligen Gruppe und Gesellschaft. Mannheim universalisiert den marxistischen Ideologiebegriff, lässt den Gesetzescharakter historischen Fortschritts und das in diesen gebundene Wahrheitskriterium weg und bezeichnet so mit dem Begriff der Ideologie das auf der »Seinsverbundenheit des Wissens« und der »standortgebundenen Aspektstruktur des Denkens« beruhende Weltbild jeweiliger sozialer Gruppen. Er nimmt also mit einem neutralen Ideologiebegriff eine für alle sozialen Gruppen gleichermaßen vorhandene jeweils spezifische »totale« Ideologie an, der einzig die gleichsam uninteressierte Betrachtung einer »frei schwebenden« sozialwissenschaftlichen Intelligenz zu entgehen vermag. Der amerikanische Strukturfunktionalismus akzentuiert in einer ebenfalls neutralen Betrachtung, darin an M. Weber und den Positivismus anknüpfend, die sozialstabilisierende Bedeutung von Ideologie, die gegenüber wissenschaftlichen Aussagen als »System öffentlich geäußerter Überzeugungen« (F. X. Sutton, N. Harris) oder als »System von Ideen, das sich nach der bewertenden Interpretation der Gemeinschaften richtet« (Parsons), abgesetzt werden. Ideologien besitzen also Geltung, ohne dass sie die Gültigkeitsmerkmale wissenschaftlicher Aussagen erfüllen können. In dieser Perspektive dienen Ideologien der Legitimation von Wertsystemen und geben Orientierungen, die Handeln und z. B. Wertentscheidungen ermöglichen.
Diskussion seit 1945
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Massenmobilisierungen der beiden Weltkriege, des europäischen Faschismus, besonders des Nationalsozialismus, und nicht zuletzt des Stalinismus, konkurrierten in der Nachkriegsdiskussion zunächst zwei unterschiedliche Konzepte: Zum einen wandte sich der »totale Ideologieverdacht«, in Fortführung des Ansatzes von Mannheim, aber auch in der Aufnahme von Elementen der »kritischen Theorie« und in der Weiterführung bestimmter massensoziologischen Konzepte vom Ende der 20er-Jahre (T. Geiger), gegen jede »Ideologisierung« im Sinne einer umfassenden Weltanschauung und im Rahmen des »kritischen Rationalismus« gegen die Ausweitung und Übertragung von wissenschaftlichen oder sonstwie begründeten Teilaussagen auf die gesamte Lebenswelt (K. R. Popper, H. Albert). Darüber hinaus wurde im Rahmen neomarxistischer Gesellschaftsanalyse die Ideologie in westlichen Industriegesellschaften unter dem Aspekt der »Eindimensionalität« und der »repressiven Toleranz« untersucht (H. Marcuse). Zum anderen wurde im Vertrauen auf die nach dem Zweiten Weltkrieg beträchtliche Skepsis der handelnden Individuen gegenüber politischen Programmen, auf die zunehmende wissenschaftliche Durchdringung der sozialen und politischen Erscheinungen sowie im Vertrauen auf die Ausrichtung des sozialen Handelns an ökonomische Rationalitätskriterien das »Ende der Ideologien« (D. Bell) diskutiert, ein Ansatz, der sich selbst wiederum den Vorwurf der Ideologie zuzog.
Ausgehend davon, dass derzeit im Weltmaßstab Ideologiebedarf, Ideologieproduktion, Ideologieverdacht und Ideologiekritik auf den unterschiedlichsten Ebenen Themen und Bearbeitungsobjekte darstellen (Werbeagenturen, politische Programme und Parteien, Staatenbündnisse, multinationale Konzerne, von der Alltagssprache bis zu ausgearbeiteten Weltauffassungen), lässt sich die gegenwärtige Diskussion anhand der Frage skizzieren, ob das Phänomen der Ideologie unter dem Maßstab von Wahrheit diskutiert wird oder nicht (R. Boudon). Während eine auf Marx aufbauende Ideologietheorie bis hin zu Habermas am Konzept einer historisch und sozial einzulösenden Wahrheit festhält und Parsons (sowie in gewissem Sinn R. Aron) die Wahrheit dem Bereich wissenschaftlicher Sprache zuschreibt und demgegenüber Ideologie absetzt, glauben andere gegenwärtige Ideologietheorien auf den Begriff der Wahrheit verzichten zu können. Für N. Luhmann haben Ideologien als Wertsysteme den Sinn, Wertsetzungen zu ermöglichen, sind aber ihrerseits in dieser Funktion austauschbar. C. Geertz bestimmt Ideologie als rethorischen Akt mit dem Ziel der Mobilisierung; E. Shils sieht Ideologie als besonderen (v. a. rigideren) Typ eines Überzeugungssystems; für J.-F. Lyotard schließlich handelt es sich bei der Konstituierung von Ideologie gegenüber Wissenschaft und Wahrheit um den besonderen Fall eines Sprachspiels, dem seinerseits keine Wahrheitskriterien zugrunde liegen, sondern die Struktur anderer »großer Erzählungen«. Sie gelten, solange sie geglaubt werden und die Funktion wahrnehmen, das »soziale Band« gesellschaftlicher Interaktion zu festigen. - Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 scheint auch die Konfrontation der Ideologien zunächst beendet. Neben dem (neutralen) wissenssoziologischen Ideologiebegriff finden sich jedoch noch immer ideologiekritischen Ansätze (z. B. bei P. Bourdieu), die die einseitige Orientierung an »westlichen« Vorstellungen, industriegesellschaftlichen Leitbildern und technologischen Fortschritt als Ideologie entlarven. Im Hinblick auf mögliche Konfliktlinien des 21. Jahrhunderts wird auch die (ihrerseits dem Ideologieverdacht ausgesetzte) Vorstellung vertreten, dass die Konfrontation der Ideologien durch einen »Kampf der Kulturen« (S. P. Huntington) abgelöst werde.
C. Geertz: Ideology as a cultural system, in: Ideology and discontent, hg. v. D. E. Apter u. a. (London 1964);
D. Bell: The end of ideology (New York 1965);
T. Geiger: I. u. Wahrheit (21968);
E. Shils: The concept and function of ideology, in: International encyclopedia of the social sciences, hg. v. D. L. Sills (New York 1968, Nachdr. 1972);
N. Harris: Die Ideologien in der Gesellschaft (1970);
E. Topitsch: Sozialphilosophie zw. I. u. Wiss. (31970);
R. Münch: Gesellschaftstheorie u. I.-Kritik (1973);
I.-Lehre u. Wissensoziologie, hg. v. H.-J. Lieber (1974);
R. Sorg: I.-Theorien (1976);
E. Lemberg: Anthropologie der ideolog. Systeme (1977);
I.-Kritik u. Wissenssoziologie, hg. v. K. Lenk (81978);
K. Mannheim: I. u. Utopie (61978);
Analyse de l'idéologie, hg. v. G. Duprat, 2 Bde. (Paris 1980-83);
J. Habermas: Erkenntnis u. Interesse (61981);
J. Habermas: Technik u. Wiss. als I. (Neuausg. 1984);
K. D. Bracher: Zeit der Ideologien (Neuausg. 1985);
H.-J. Lieber: I. Eine historisch-systemat. Einf. (1985);
J.-F. Lyotard: Das postmoderne Wissen (Graz 1986);
R. Boudon: I. Gesch. u. Kritik eines Begriffs (a. d. Frz., 1988);
T. Eagleton: I. Eine Einf. (a. d. Engl., 1993);
* * *
Ide|o|lo|gie, die; -, -n [frz. idéologie, eigtl. = Ideenlehre, gepr. von dem frz. Philosophen A. L. C. Destutt de Tracy (1754-1836), zu griech. idéa (↑Idee) u. ↑-logie]: a) an eine soziale Gruppe, eine Kultur o. Ä. gebundenes System von Weltanschauungen, Grundeinstellungen u. Wertungen: eine bürgerliche, demokratische I.; die I. der herrschenden Schicht; die -n einer Zeit; eine I. vertreten; jmdm. seine I. aufzuzwingen versuchen; Der Film ist eine Analyse des Krimis und seiner I. (Hörzu 38, 1974, 68); Insofern hier die Störung des Geistes durch Vorurteile als Wesen der I. erscheint (Fraenkel, Staat 137); Dass die europäische Kultur ... zur bloßen I. entartete (Adorno, Prismen 12); b) politische Theorie, in der Ideen (2) der Erreichung politischer u. wirtschaftlicher Ziele dienen (bes. in totalitären Systemen): eine faschistische, kommunistische I.; politische -n; eine Gewerkschaftsbewegung, die ... unter Ablehnung jeder sozialistischen I. ihre Macht ... zur Wirkung brachte (Fraenkel, Staat 28); Dieser Nationalismus ... übersteigerte sich in der I. von dem rassebedingten, weltgeschichtlichen deutschen Führungsanspruch (Fraenkel, Staat 203); c) weltfremde Theorie: Wir haben von dieser aufgeschwollenen I. (= in Bezug auf die Liebe) heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie (Musil, Mann 940).
Universal-Lexikon. 2012.