Amazoni|en,
das riesige, größtenteils mit tropischem Regenwald bedeckte, in der Regenzeit weithin überschwemmte Amazonastiefland (die »Hyläa« Amazonien von Humboldts); etwa 5,8 Mio. km2. Das Klima ist im größten Teil Amazoniens innertropisch feuchtheiß mit einer Luftfeuchtigkeit von 80-90 % bei mittleren Jahrestemperaturen von 26 ºC und jährlichen Niederschlägen von bis zu 3 000 mm. Die Hyläa stellt trotz der massiven menschlichen Eingriffe noch heute das größte zusammenhängende tropische Waldgebiet der Erde dar. Je nach Überflutung des Bodens tritt es in verschiedenen Formen auf: Die großflächigen, auch bei Mittelwasser der Flüsse regelmäßig überfluteten Flussuferwälder (Igapó) wechseln mit Tieflandsregenwäldern ab, deren Böden durch Hochwasser unbeeinflusst bleiben, und gehen in den gebirgigen Randlagen Amazoniens in die überaus artenreichen Bergregenwälder über.
Die Tierwelt ist geprägt durch sehr großen Artenreichtum an Insekten und Vögeln; fast die Hälfte aller bekannten Vogelarten (allein etwa 310 Kolibriarten) besiedelt v. a. das obere Blätterdach des Waldes. Größere Landtiere sind selten (Puma, Sumpfhirsch). Da große Bereiche Amazoniens regelmäßig überflutet sind, sind viele Tiere an das Leben in Bäumen angepasst, einige Tiere (Affen, Opossums sowie bestimmte Ameisenbären- und Stachelschweinarten) haben einen Greifschwanz ausgebildet; andere sind dem Leben im und am Wasser angepasst, z. B. Tapir, Wasserschwein, Seekuh, Alligator, Anakonda und das einzige ganz im Wasser lebende Beuteltier der Erde, der Yapok, eine Beutelratte.
Mit dem Bau der etwa 5 600 km langen Transamazônica und anderer Fernstraßen begann 1970 die systematische Erschließung Amazoniens. Brasilien schuf 1966 die Planungsregion »Amazônia Legal«, ein Gebiet von 5 Mio. km2 (der von mehreren Anrainerstaaten 1978 geschlossene Amazonasvertrag bezieht sich auf einen Raum von 13 Mio. km2). Bis 1975 sollten 1 Mio. Familien, v. a. aus dem ständig von Dürren bedrohten Nordosten Brasiliens, längs der Transamazônica angesiedelt werden. Aber nur 10 000 Familien kamen, viele wanderten ab, und heute verfällt die Straße auf weiten Strecken. Statt der staatlichen Agrarkolonisation mit kleinbäuerlichen Betrieben wird zunehmend die Rinderzucht durch meist internationale Konzerne und Großgrundbesitzer begünstigt, was eine verstärkte Rodung der Wälder zur Folge hat.
Heute liegen Schwerpunkte der Entwicklung in Amazonien im goldfündigen Gebiet zwischen den Flüssen Tapajós und Tocantins, wo seit 1980 ein Goldrausch ausgebrochen ist (monatliche Förderung etwa 1 500 kg Gold), besonders aber in Rondônia, dem jüngsten Bundesstaat Brasiliens, und im Gebiet von Carajás. Rondônia gilt heute als der »Wilde Westen« Brasiliens: In einer Zeit von fünf Jahren entstanden im Regenwald Siedlungen mit bis zu 60 000 Einwohner. Nach den erfolglosen staatlichen Ansiedlungsversuchen findet heute mit Weltbankfinanzierung eine zweite, praktisch ungelenkte Agrarkolonisation statt. Es wird geschätzt, dass 25 % des Regenwaldes in Rondônia und dem benachbarten Mato Grosso inzwischen zerstört sind. In Amazonien gehen jährlich zwischen 10 000 und 20 000 ha Waldfläche verloren, und es droht die Vernichtung des gesamten Regenwaldes. Eine 1985 verkündete Agrarreform, die bis zum Jahr 2000 Landverteilung an 7 Mio. Familien vorsah, wurde bis 1995 nur zu einem Bruchteil umgesetzt, sodass die hieraus zunächst befürchtete großräumige Zerstörung ausblieb. Der 1995 neu beschlossene Agrarreformplan (für die Ansiedlung von nur noch 280 000 Familien bis 1999) konzentriert sich in erster Linie auf Konfliktfälle in den Herkunftsgebieten des Südens, Südostens und Nordostens Brasiliens, sodass der Druck auf Amazonien von daher zunächst als gemildert gelten kann. Akute Gefahr droht von einer anderen Seite: Die verkehrsmäßige Anbindung Amazoniens an den nationalen Binnenmarkt und an den karibischen und pazifischen Raum wird von der brasilianischen Regierung von Präsidenten Cardoso (Amtszeit: 1995-99) im Rahmen eines ehrgeizigen integrierten Entwicklungsprogramms durch den Bau und Ausbau von Straßen (darunter Wiederherstellung der Transamazônica), Eisenbahnstrecken und Wasserstraßen im Großmaßstab betrieben.
1967 wurden im Bergland von Carajás riesige Eisenerzvorkommen entdeckt, dazu bedeutende Mangan-, Kupfer-, Nickel- und Bauxitlagerstätten. Zur Erschließung der Region wurde die 890 km lange Carajás-Bahn (1985 eröffnet) zum Hafen Itaqui gebaut und dort der Tiefwasserhafen Ponta da Madeira angelegt (1985 erste Erzverschiffung), am Tocantins das viertgrößte Wasserkraftwerk der Erde (Stausee 2 420 km2) errichtet und 1984 eingeweiht. Neben dem nationalen Projekt Ferro-Carajás wird unter internationaler Beteiligung mit dem Projekt Groß-Carajás ein Raum von 900 000 km2 in die Wirtschafts- und Landesplanung der Zukunft einbezogen. Parallel zum Bau von Hüttenwerken und Aluminiumschmelzen (zwei bereits in Belém) läuft die Erschließung von Agrarland.
Derartig tief greifende Änderungen der Lebensbedingungen in großen Gebieten treffen v. a. die in Amazonien noch lebenden etwa 100 000 Indianer schwer; wenn sie ihre Stammesgebiete verteidigen, werden sie zudem als Fortschrittshindernis angesehen und oft vertrieben oder sogar ausgerottet. Zahlreiche Stämme sind vom Aussterben bedroht, etwa 100 leben in Reservaten. Im von privater Hand geschaffenen Xingu-Nationalpark (seit 1961; seit 1970 im Zuge der Erschließung von Amazonien verkleinert) leben 15 Indianerstämme; der Park gilt als positives Beispiel brasilianischer Indianerpolitik. Die in der neuen Verfassung von 1988 vorgesehene Demarkation sämtlicher Reservate (557 auf insgesamt 909 000 km2) bis 1993 wurde bis 1995 nur zu 51 % umgesetzt; für die verbleibenden indigenen Gebiete soll aber nach dem Willen der Cardosoregierung ein Widerspruchsrecht für die von der Demarkation betroffene nichtindigene Bevölkerung vorgesehen werden, was der Invasion von Reservaten Vorschub leisten und damit eine weitere Existenzbedrohung für die indigene Bevölkerung darstellen wird.
Die möglichen negativen Auswirkungen der Erschließung Amazoniens auf das ökologische Gefüge des Kontinents und das Klima der Erde fordern zunehmend auch internationale Kritik heraus. Dennoch schreitet diese Entwicklung in schnellem Tempo fort, obgleich durch wirtschaftliche Rezession, Wegfall von Steueranreizen ab 1991 und zurückgehende Zuwanderungsraten bedingt, die Regenwaldvernichtung auf 11 000 km2 (1990/1991) jährlich halbiert werden konnte. Letzten Endes geht es dabei nicht nur um die Ausbeutung von Rohstoffquellen und die Schaffung neuen Siedlungsraumes: Auch die Überlegung, dass sich Fremdmächte in Zukunft gewaltsam Zutritt zu dieser Region oder gar Territorialrechte verschaffen könnten, wenn es nicht gelingt, Amazonien siedlungspolitisch, wirtschaftlich und verkehrstechnisch in den brasilianischen Staatsverband zu integrieren, spielt eine gewisse Rolle. Denn bis 1757 (Einrichtung von Kapitanaten) eine Art Niemandsland, wurden Brasiliens genauere Grenzen in Amazonien zum Teil erst im 20. Jahrhundert festgelegt, und die Entwicklung eines Raumes, der als größtes Süßwasserreservoir und wichtigster Kohlenstoffbinder der Erde gilt, ist auch international von immer größerem Interesse. Ein »Internationales Pilotprogramm zum Schutz der tropischen Regenwälder in Brasilien« wurde 1990 vom G-7-Weltwirtschaftsgipfel beschlossen; in mehreren Phasen soll die Gesamtsumme von über 1,5 Mrd. US-$ und Amazonien zur Demarkation von Indianerschutzgebieten und Einrichtung von Nationalparks aufgewendet werden. Ob sich dieses internationale Programm praktisch umsetzen lässt, ist angesichts der innerhalb Brasiliens häufig divergierenden Politik von Zentral- und Landesregierungen eine offene Frage.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Amazonas · Amazonasindianer · Brasilien · Südamerika
The Amazon. Limnology and landscape ecology of a mighty tropical river and its basin, hg. v. H. Sioli: (Dordrecht 1984);
D. J. Mahar: Government policies and deforestation in Brazil's Amazon region (Washington, D. C., 1989);
D. Oberndörfer: Schutz der trop. Regenwälder durch Entschuldung (1989);
A. Mensch - Natur - Entwicklung?, hg. v. W. Endlicher (1992);
R. Schönenberg: Konflikte u. Konfliktregulation in A. (1993);
Pilot program to conserve the Brazilian rain forests, hg. v. World Bank (Washington, D. C., 1994);
G. Kohlhepp: A. im Spannungsfeld von Umweltpolitik u. Regionalentwicklung, in: Brasilien - Land der Zukunft; hg. v. R. Sevilla u. a. (1995);
Brazilian perspectives on sustainable development of the Amazon region, hg. v. M. Clüsener-Godt u. a.(1995);
Wolfgang Müller: Die Indianer A.s. Völker u. Kulturen im Regenwald (1995).
Universal-Lexikon. 2012.