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Rechtspositivismus
Rechts|positivismus,
 
Auffassung vom Recht, die dieses mit den positiven, d. h. vom Gesetzgeber gesetzten oder als Gewohnheits- oder Richterrecht geltenden Normen gleichsetzt. Der Rechtspositivismus lässt formale Kriterien der Rechtsentstehung, -durchsetzung oder -wirksamkeit für die Kennzeichnung sozialer Normen als »Recht« genügen, ohne - wie das Naturrecht - eine inhaltliche Bezugnahme und Parallelität zu außergesetzlichen Rechtserkenntnisquellen (göttliche Gebote, Naturgesetze, Vernunft, Idee der Gerechtigkeit, Menschenrechte) als notwendig zu postulieren. Dabei betonen neuere Vertreter des Rechtspositivismus einschränkend, dass mit der Annahme solcher formaler Kennzeichnungskriterien weder die Frage nach einer ethischen Rechtfertigung der Rechtsinhalte noch die Entscheidung für oder gegen die Rechtsbefolgung präjudiziert sei. Zu differenzieren ist v. a. zwischen der Perspektive des Richters und der des Verfassungs-, Gesetz- oder Verordnungsgebers.
 
Als Antithese zum Naturrecht tauchte der Rechtspositivismus schon bei den Sophisten auf. Als in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland Historismus und historische Rechtsschule die vernunftrechtliche beziehungsweise idealistischen Systeme von I. Kant, J. G. Fichte und G. W. F. Hegel verdrängten, eröffneten sie gleichzeitig das Feld für den Rechtspositivismus. Die historische Betrachtungsweise konnte die Rechtsentstehung zwar erklären, neue rechtliche Regelungen aber nicht begründen. Hinzu traten die starke Beachtung der Naturwissenschaften und der Aufschwung des allgemeinen wissenschaftlichen Positivismus (A. Comte). In Deutschland versuchte die Begriffsjurisprudenz alle Rechtssätze aus einem lückenlosen System abzuleiten, und die allgemeine Rechtslehre bemühte sich, die Rechtsphilosophie zu verdrängen. Verschiedentlich verengte sich der Rechtspositivismus sogar zum Gesetzespositivismus, der nur noch das positive Gesetz als Rechtsquelle anerkannte. Um die Wende zum 20. Jahrhundert entstanden jedoch mit Freirechtsschule, Neukantianismus und Neuhegelianismus Gegenbewegungen.
 
In England hat der Rechtspositivismus mit der analytischen Rechtstheorie J. Austins und Herbert Lionel Adolphus Harts (* 1907, ✝ 1993), in den Vereinigten Staaten und Skandinavien mit dem juristischen Realismus (Legal Realism) weite Verbreitung gefunden. In Österreich entwickelte H. Kelsen mit seiner »reinen Rechtslehre« eine positivistisch-wertfreie Beschreibung des Rechts als eines Systems von Sollenssätzen. Donald Neil MacCormick (* 1941) und Ota Weinberger (* 1919) haben in jüngster Zeit einen institutionalistischen Rechtspositivismus entwickelt.
 
In Deutschland wurde der Rechtspositivismus nach 1945 teilweise für den Gehorsam gegenüber den nationalsozialistischen Unrechtsgesetzen verantwortlich gemacht. Die schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts vorhandenen Gegenströmungen traten daher in den Vordergrund, etwa der Gedanke, dass positives (d. h. gesetztes) Recht wegen seines Inhalts legislatives Unrecht sein könne (G. Radbruch). Zum Teil fanden für kurze Zeit naturrechtliche Gedanken Eingang in die Rechtsprechung, doch schon bald entwickelte sich eine Pluralität von Positionen, deren Auseinandersetzungen bis heute unvermindert anhalten.
 
Literatur:
 
Eberhard Schmidt: Ges. u. Richter (1952);
 T. Tsatsos: Zur Problematik des R. (1964);
 
Naturrecht oder R.?, hg. v. W. Maihofer (31981);
 N. Hoerster: Zur Verteidigung des R., in: Neue Jurist. Wochenschr., Jg. 39, H. 40 (1986); E.-J. Lampe: Grenzen des R. (1988).

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Rẹchts|po|si|ti|vis|mus, der (Rechtsspr.): Rechtsauffassung, die die Existenz eines Naturrechts leugnet u. als Recht nur das bestehende Recht bzw. dessen wertungsfreie Auslegung anerkennt.

Universal-Lexikon. 2012.