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Wahrnehmung
Bewusstsein; Rezeption; Kognition

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Wahr|neh|mung 〈f. 20das Wahrnehmen

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Wahr|neh|mung, die; -, -en:
1. das Wahrnehmen (1):
die W. eines Geräuschs, von Gerüchen;
die menschliche W.;
die sinnliche W. (Wahrnehmung mit den Sinnen);
optische, akustische -en;
es ist eine häufige W. (man nimmt häufig wahr), dass …;
die W. machen (wahrnehmen), dass …;
die Psychologie der W.
2. das Wahrnehmen (2):
die W. eines Termins, einer Aufgabe, einer Chance, eines Angebots;
in W. seiner Interessen (Amtsspr.; indem man seine Interessen wahrnimmt);
jmdn. mit der W. seiner Geschäfte betrauen.

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I
Wahrnehmung
 
[althochdeutsch wara neman, eigentlich »einer Sache Aufmerksamkeit schenken«], ein psychophysischer Prozess, in dessen Ablauf die physikalischen und chemischen Reize an den Sinnesorganen zu einer Repräsentation der Umwelt verarbeitet werden. Diese ermöglicht es dem Organismus, sich in der Umwelt zurechtzufinden.
 
Psychologie:
 
Beim naiven Wahrnehmungskonzept wird angenommen, dass Wahrnehmen ein passives Hinnehmen der Reize an den Sinnesorganen ist, wobei sich die »richtige« Repräsentation der Umwelt beim Beobachter automatisch und zweifelsfrei ergibt. Dieser Sicht widerspricht u. a. das Vorkommen von Wahrnehmungstäuschungen. Außerdem erklärt dieses Konzept nicht, wie die Repräsentation zustande kommt und nach welchen Kriterien sie als richtig gilt. Nach heutiger Sicht ist Wahrnehmung ein aktiver Konstruktionsprozess, bei dem mithilfe von Gestaltprinzipien (Gestaltgesetze) und unter Mitwirkung des Gedächtnisses aus zeichenhaften Codes der Sinnesreize eine zweckmäßige Repräsentation der Umwelt und der Rolle des eigenen Körpers darin aufgebaut wird. Die dem Organismus zunächst unbekannte und sich im Laufe seiner Entwicklung auch gelegentlich ändernde Beziehung zwischen den Codes der Sinnesreize und den Gegebenheiten der Umwelt wird im tätigen Umgang mit der Umwelt erfasst. Dabei dient Wahrnehmung zunächst der direkten Handlungssteuerung (»Zweck« der Repräsentation), darüber hinaus aber beim mit Bewusstsein begabten Organismus auch der Reflexion.
 
Insgesamt wird nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt der Realität von der Wahrnehmung erfasst. Der menschliche Gesichtssinn ist z. B. nur für Licht im Wellenlängenbereich von 400 bis 750 nm sensibel, und das Dreifarbensehen reduziert die Zahl von physikalisch möglichen Farben in diesem Bereich auf einen dreidimensionalen Farbraum, in dem viele physikalisch verschiedene Farben die gleiche Wahrnehmung hervorrufen (Trichromasie, Farbensehen). Dieser Ausschnitt ist jedoch im Laufe der Evolution so dem vitalen Interesse des Organismus angepasst worden, dass die zum Überleben notwendige Information darin enthalten ist. So entwickelte sich z. B. das Dreifarbensehen aus dem Zweifarbensehen bei Primaten aus der Notwendigkeit, reife Früchte von unreifen und vom Blattgrün zu unterscheiden. Trotz der Beschränkung der Sinnesinformationen auf einige wenige physikalische Dimensionen ergibt sich insgesamt eine überaus große Informationsmenge, die nicht vollständig verarbeitet werden kann. Von der Fülle der verfügbaren Sinnesinformation wird nur bewusst wahrgenommen, was in den Fokus der Aufmerksamkeit fällt. Dabei wird die Wahrnehmung insbesondere auf handlungsrelevante Aspekte der Umwelt gelenkt. Die von den Sinnesorganen aufgenommene Information wird von reiznahen Codierungsformen schrittweise zu bedeutungshaltigen kategorialen Informationen transformiert. Die hierbei zum Tragen kommenden Kategorien reichen von einfachen Gestaltelementen (z. B. Kanten als Bildelementen) bis zu komplexen Wahrnehmungsinhalten (z. B. der Erkenntnis, dass ein Bild eine Musikkapelle darstellt). Sie sind teils angeboren (z. B. Kantendetektoren im visuellen Cortex), teils erlernt. Dabei werden auch die angeborenen Kategorien erst in der Auseinandersetzung mit dem Reizmaterial der Umwelt endgültig ausgeprägt. Dies geschieht zum Teil bereits pränatal oder in den ersten Lebensmonaten. Mithilfe dieser Kategorien gelingt es der Wahrnehmung, auch unterbestimmte Szenen zu analysieren, z. B. Objektfarbe und Beleuchtungsfarbe zu trennen, obwohl diese im auf das Auge treffenden Licht konfundiert sind (Farbkonstanz, Konstanzphänomene).
 
Die Erforschung der Wahrnehmung fand von Anfang an interdisziplinär statt. Dabei entstand aus dem Zusammenwirken von Philosophie, Physiologie und Physik die neue Disziplin der experimentellen Psychologie. Galt das Hauptaugenmerk zunächst der Beziehung von Reizstärke und Empfindungsstärke (z. B. fechnersches Gesetz, stevenssche Potenzfunktion), woraus sich die modernen Methoden der Skalierung entwickelten, so rückten bald die in komplexem Reizmaterial wahrnehmbaren Strukturen in den Vordergrund (Gestaltpsychologie). Nach der Überwindung des Behaviorismus und dem Erstarken der Kognitionspsychologie wurde bei der Wahrnehmung die Rolle präexistenter, im Gedächtnis gespeicherter Schemata thematisiert. Die kognitive Wahrnehmungspsychologie untersucht die wechselseitigen Einflüsse von Wahrnehmung, kategorialer Repräsentation, Gedächtnis, Denken, Motivation und Bewertung.
 
Heutige Forschung zur Wahrnehmung bedient sich neben klassischen Verhaltensexperimenten psychophysiologischer Messverfahren wie der Elektroenzephalographie sowie bildgebender Verfahren (funktionelle Kernspintomographie, Positronenemissionstomographie), um die beteiligten Prozesse und Strukturen aufzuklären. Wichtige Beiträge steuern darüber hinaus Neurophysiologie, Neuropathologie und andere Neurowissenschaften bei. Mit der Verfeinerung der Untersuchungsmethoden werden zunehmend die dynamischen Aspekte der Wahrnehmung akzentuiert. So wird ein Grundprinzip der Gestaltpsychologie, die Gliederung einer visuellen Szene in einzelne Gestalten und das Abgrenzen dieser Gestalten gegeneinander, erklärt durch zeitliche Synchronisation beziehungsweise Desynchronisation der Aktivität von entsprechenden Neuronenpopulationen. Die Theoriebildung erfolgt, neben klassischer Modellierung, mit Simulationen neuronaler Strukturen, mit denen v. a. Prozesse der Selbstorganisation, z. B. das Entstehen von topisch geordneten Karten in den frühen sensorischen Verarbeitungsgebieten, erklärt werden können. Die angewandte Wahrnehmungsforschung zielt auf Ergonomie in komplexen Wahrnehmungssituationen (z. B. Cockpitgestaltung), auf Wahrnehmungshilfen (z. B. Hörgeräte) sowie auf die Erbringung wahrnehmungsähnlicher Leistungen durch Computer beziehungsweise computergesteuerte autonome Systeme (Roboter). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse wirken ihrerseits wieder auf die Grundlagenforschung zurück. (Hören, Sehen, soziale Wahrnehmung)
 
In der Philosophie ist Wahrnehmung ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie. Unterschiedliche Momente der Wahrnehmung sind der Sinneseindruck (Perzeption) und bewusstes Erfassen (Apperzeption), die sinnliche Empfindung (als Materie der Wahrnehmung) und Vorstellung (z. B. Erinnerungsbilder an zuvor Wahrgenommenes). Erst auf der Basis von Empfindung - Wahrnehmung - Vorstellung können Gegenstände reflektiert und im Urteil rational bestimmt werden; ein Irrtum ist nicht der einer Wahrnehmung, sondern eines Urteils. Wahrnehmung richtet sich sowohl auf konkrete Gegenstände via ihrer jeweiligen Gegebenheitsweise (Ansichten und Rücksichten, Blickwinkel, Ausschnitte, Perspektiven) als auch auf dem Bewusstsein Immanentes (Gedächtnisinhalte, Gefühle, Erwartungen u. a.). Der Begriff der Wahrnehmung wird immer dann thematisiert, wenn es um die erkenntnistheoretische Grunddifferenz zwischen Innen- (Subjektbereich) und Außenwelt (Objektbereich) geht. Die wichtigsten Fragen sind hier: 1) Ist alle Erkenntnis im Wahrnehmungsakt beschlossen (Sensualismus, Empirismus); 2) kommt der Wahrnehmung bereits a priori ein gewisses (konstitutives) »Mehr« in Bezug auf den Gegenstand zu, das über die bloße Sinnesempfindung hinaus quasi vorrational (vorprädikativ) in Richtung Erkenntnis verweist (Phänomenologie); 3) geben sich die Gegenstände selbst erst wirklich aufgrund eines autonomen Denkprozesses (Rationalismus) zu erkennen; 4) nehmen andere dasselbe wahr?
 
Schon Parmenides (5. Jahrhundert v. Chr.) stellte fest, dass entgegen der These der Identität von Denken und Sein das real Erscheinende trügerisch (Sinnentrug) ist. Seine physikalische Erkenntnislehre entschied, dass wir Gleiches (äußere Wärme/Kälte) nur durch Gleiches (innere Wärme/Kälte) wahrnehmen. Eine umgekehrte Assoziationspsychologie lehrte Anaxagoras, wonach wir nur durch Entgegengesetztes der Wahrnehmungsqualitäten zur Erkenntnis gelangen (Warmes außen durch Kaltes innen und umgekehrt). Demokrits Atomismus vertrat die Auffassung, dass Atome aus der Materie austreten und quasi als kleinste Wahrnehmungspartikel in unsere Sinnesorgane eindringen. Diese Vorstellung begünstigte den Empirismus bis in die Gegenwart, wonach der rein passive Eindruck des Empfundenen eine intuitive und zweifelsfreie, vom Verstand unabhängige Wahrnehmung ist, durch die uns unmittelbar ein Teil der Außenwelt gegeben ist (Abbildtheorie). Seit Protagoras ist das Argument der Unvollkommenheit der Wahrnehmung Triebfeder allen Relativismus beziehungsweise Skeptizismus. Für Platon ist die Wahrnehmung (griechisch aisthesis) nicht wahrheitsfähig und führt, da sie nur das Werden, nicht aber das ewig Seiende, die Ideen, erfasst, allenfalls zur bloßen Meinung. Erst mit Aristoteles wird der Sinneswahrnehmung ein relatives Gewicht eingeräumt. Sie ist der qualitative Übergang von der potenziellen Wahrnehmungsfähigkeit zur aktuellen Wahrnehmung mittels des wahrgenommenen Gegenstands. Wir nehmen immer nur Einzeldinge wahr, mithin ist Wahrnehmung noch kein wahres, substanzielles Wissen, aber mit ihr beginnt das Wissen. - Seit dem neuzeitlichen Subjektivismus steht die Problematik um die adäquate Bestimmung der Wahrnehmung ganz unter dem Einfluss des Subjekt-Objekt-Problems. Für I. Kant ist Wahrnehmung zugleich empirisches Bewusstsein. Sie ist die mit Bewusstsein verbundene Erscheinung der Welt. Aus ihr wird Erfahrung jedoch erst durch Subsumierung der Wahrnehmung unter Verstandesbegriffe. In Auseinandersetzung mit dem Psychologismus des 19. Jahrhunderts sucht die Phänomenologie entgegen der Grundthese des Relativismus die Fundierung der Philosophie gerade über die (deskriptive) Analyse der Wahrnehmungsakte, da diese all unseren Erkenntnisleistungen zugrunde liegen. Für E. Husserl ist das aktuell in der Wahrnehmung Gegebene nicht, wie es u. a. die Elementenpsychologie W. Wundts vorausgesetzt hatte, ein isoliertes, punktuelles Wahrnehmungspartikel neben unzähligen anderen, sondern entspricht einem Kern, der stets umgeben ist von Horizonten (Innen-/Außenhorizont), die in sich und über sich hinausweisen und die Welt intentional als den umfassendsten Horizont der Wahrnehmung je schon mit vergegenwärtigen. Der Gegenstand stellt sich dar in »Abschattungen«, das Bewusstsein hat »unscharfe« aktuelle Ränder im Sinne eines potenziellen »Mehr«. B. Waldenfels unterscheidet mit Husserl drei konstitutive Bedeutungsmöglichkeiten von Wahrnehmung: Wahrnehmung ist 1) etwas wahrnehmen, 2) etwas als etwas meinen und 3) »dass etwas, das ich als etwas meine, mir als solches gegeben ist«. Für Husserl ist dem Wahrnehmungsakt selbst bereits ein logisch-konstitutives Moment mitgegeben. Wahrnehmung und Erfassen des Wesens eines Gegenstands fallen in der Wesensschau zusammen. Letzte Instanz im Sinne einer passiven Synthesis ist das Urteil in Evidenz. Insgesamt postuliert Husserl den Vorrang eines sinnlich-materialen beziehungsweise lebensweltlichen Apriori vor dem rationalen Wissenschaftsapriori.
 
Literatur:
 
Handbook of perception and human performance, hg. v. K. R. Boff u. a., 2 Bde. (New York 1986);
 F. Wilkening: Zur Rolle des Wissens in der W., in: Wissenspsychologie, hg. v. H. Mandl u. a. (1988);
 G. Prauss: Einf. in die Erkenntnistheorie (31993);
 A. Ziemke: Was ist W.? (1994);
 E. B. Goldstein: W.-Psychologie. Eine Einf. (a. d. Amerikan., 1997);
 I. Rock: W. Vom visuellen Reiz zum Sehen u. Erkennen (a. d. Amerikan., Neuausg. 1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Wahrnehmungen des Menschen
 
Wahrnehmungen sind Konstanzleistungen
 
II
Wahrnehmung,
 
der Prozess der Informationsgewinnung aus Reizen, die entweder aus der Umwelt (äußere Wahrnehmung) oder dem eigenen Körper (innere Wahrnehmung) stammen. Die Wahrnehmung lässt sich durch folgende Feststellungen näher charakterisieren: 1. Wir nehmen nur einen kleinen Ausschnitt der physikalischen Signale wahr, leben also in einer von vielen möglichen Wahrnehmungswelten. 2. Selbst diesen wahrgenommenen Ausschnitt der physikalischen Welt bildet unsere Wahrnehmung nicht in gleicher Gestalt ab. 3. Die verhaltenssteuernde Bedeutung (Semantik), die einer Wahrnehmung zukommt, ist aus physikalischen Bedingungen nicht ableitbar.
 
Es muss davon ausgegangen werden, dass die Wahrnehmungsprozesse eine Entwicklung durchlaufen, sich also die Wahrnehmungswelt eines Kindes (je nach Alter) von der Wahrnehmungswelt Erwachsener unterscheidet. Um in der Wahrnehmungsentwicklung gestörte oder von Störungen bedrohte Kinder zu fördern, wurden entsprechende Trainingsprogramme konzipiert. - Wahrnehmungstraining.

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Wahr|neh|mung, die; -, -en: 1. das Wahrnehmen (1): die W. eines Geräuschs, von Gerüchen; die menschliche W.; die sinnliche W. (Wahrnehmung mit den Sinnen); optische, akustische -en; ... musste ich gewahr werden, dass die Kleine sich ... in mich verliebt hatte, und das war natürlich nicht meine W. allein (das bemerkte natürlich nicht nur ich; Th. Mann, Krull 242); es ist eine häufige W. (etw. häufig Festzustellendes), dass ...; ... um uns unsere -en mitzuteilen (Nossack, Begegnung 340); die W. machen (wahrnehmen, bemerken), dass ...; Welcher Bürger hat -en gemacht, die zur Aufklärung dieser Schandtat führen können? (Freie Presse 30. 12. 89, 8); die Psychologie der W. 2. das Wahrnehmen (2): die W. eines Termins, einer Aufgabe, einer Chance, eines Angebots; Die W. der Funktionen einer parlamentarischen Opposition (Fraenkel, Staat 230); in W. seiner Interessen (Amtsdt.; indem man seine Interessen wahrnimmt); jmdn. mit der W. seiner Geschäfte betrauen.

Universal-Lexikon. 2012.