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Bürgerinitiative
Interessengemeinschaft; Initiativgrupppe; Aktionsgruppe; Selbsthilfegruppe

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Bür|ger|ini|ti|a|ti|ve ['bʏrgɐ|inits̮i̯ati:və], die; -, -n:
Zusammenschluss von Bürgern und Bürgerinnen mit dem Ziel, bestimmte Vorhaben, die die Gemeinde oder der Staat nicht im Sinne der Bürger löst, durch Widerstand zu Fall zu bringen:
eine Bürgerinitiative ins Leben rufen, gründen.

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Bụ̈r|ger|in|i|ti|a|ti|ve 〈[-tsjati:və] f. 19Vereinigung von Bürgern zur Durchsetzung bestimmter Forderungen u. Interessen; Sy Bürgerbewegung ● eine \Bürgerinitiative gründen

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Bụ̈r|ger|in|i|ti|a|ti|ve , die:
Zusammenschluss von ↑ Bürgern (1) u. Bürgerinnen mit dem Ziel, bestimmte Probleme, die die Gemeinde od. der Staat nicht im Sinne der Bürger[innen] löst, durch [spektakuläre] Aktionen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken u. dadurch Druck auf die behördlichen Stellen auszuüben:
eine B. gründen.

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Bürgerinitiative,
 
eine in großer Vielfalt in Erscheinung tretende Form der Beteiligung des einzelnen Bürgers am öffentlichen Leben; Bürgerinitiativen sind locker organisierte, meist zeitlich und räumlich begrenzte, von politischen Parteien und Verbänden unabhängige Zusammenschlüsse von Bürgern zur Verfolgung von Interessen ihrer Mitglieder, bestimmter Bevölkerungsgruppen oder in bestimmten Fällen auch der Bevölkerung insgesamt. Sie bemühen sich durch unmittelbare Selbsthilfe oder durch Ausübung politischen Druckes um Abhilfe im Sinne ihres meist ganz konkreten, bewusst begrenzten Anliegens im Zusammenhang mit politischen Maßnahmen, öffentlichen Planungen oder Unterlassungen, (vermeintlichen oder tatsächlichen) Missständen und befürchteten Fehlentwicklungen in der soziokulturellen wie in der natürlichen Umwelt.
 
In den angelsächsischen Ländern, besonders den USA, machen die Bürger schon lange von ihrem verfassungsmäßig garantierten Recht Gebrauch, über das Verbands- und Parteiwesen hinaus sich zur Verfolgung bestimmter konkreter Interessen zusammenzuschließen. Die Schweizer Bundesverfassung gibt dem einzelnen Bürger v. a. mit dem Volksrecht der »Initiative« (Art. 120 und 121) die Möglichkeit, direkt auf die Entwicklung und Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten Einfluss zu nehmen. In der Bundesrepublik Deutschland gab es bis in die späten 60er-Jahre hinein kaum Versuche, auf bestimmte politische und administrative Entscheidungen der Gemeinde, des Landes oder des Bundes direkt einzuwirken. Zeitgleich mit den Studentenunruhen, der außerparlamentarischen Opposition (APO) und dem Aufruf der ersten sozialliberalen Bundesregierung unter W. Brandt (1969-1972), »mehr Demokratie zu wagen«, entstanden 1969/70 schließlich immer mehr Bürgerinitiativen und wuchsen schnell zu einer Bewegung an. In ihren Aktivitäten kopierten sie teilweise die Aktionsformen der APO. Die Schätzungen über die Zahl der Bürgerinitiativen und der an ihnen beteiligten Bürger schwanken stark. Umfragen bestätigen, dass die Bevölkerung den Bürgerinitiativen ein hohes Maß an Vertrauen und Teilnahmebereitschaft entgegenbringt; zahlenmäßig zeigt sich in den Bürgerinitiativen ein Aktivitätspotenzial, das das der Parteien erreicht und sogar übertrifft. Auch in Österreich und in der Schweiz - über die von der Verfassung vorgesehene Volksinitiative hinaus, von der in den letzten Jahren reger Gebrauch gemacht wurde - zeigt sich eine erhöhte Bereitschaft, seine unmittelbare »Betroffenheit« von Maßnahmen der Legislative und Exekutive durch die Mitarbeit in Bürgerinitiativen auszudrücken.
 
Die Gründe, die die Welle von Bürgerinitiativen ausgelöst haben, sind vielschichtig; so wird sie u. a. zurückgeführt auf die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher Wachstums- und Modernisierungsprozesse (z. B. zunehmende Umweltbelastung, umstrittene Sanierungsmaßnahmen v. a. im städtischen Bereich, Zerstörung gewachsener Landschaften, Großverkehrsprojekte), die immer deutlicher hervortretende Konflikthaftigkeit der Kommunalpolitik, die zunehmenden Eingriffe des Staates und der Gemeinden in das Leben der einzelnen Bürger, die wachsende Staats- und Parteienverdrossenheit, Krisenerscheinungen der repräsentativen Demokratie oder die Verbreitung »postmaterieller Wertvorstellungen« (Selbstverwirklichung, Ausweitung der Informations-, Mitsprache- und Mitwirkungsrechte). Der Beschluss, eine Bürgerinitiative zu gründen oder ihr beizutreten, wurde meist durch persönliche Betroffenheit oder durch alternative Lebensvorstellungen, die Eingang in die Alternativkultur fanden, ausgelöst. Wo sich solche theoretische Einsichten in programmatischen Forderungen an die Politik verdichteten, hat sich ein Teil der Bürgerinitiativen daraufhin (in verschiedenen Ländern) zu rechtlich anerkannten selbstständigen Körperschaften und bis hin zu parteiähnlichen Strukturen entwickelt; Bürgerinitiativen waren z. B. wesentlich an der Herausbildung »grüner« Parteien beteiligt.
 
Hauptaktionsfeld der Bürgerinitiativen ist seit ihrer Entstehung die Kommunalpolitik. Unter ihnen dominieren heute nach wie vor jene, die sich konkrete, meist eng begrenzte Ziele gesetzt haben (»Ein-Punkt-Bewegungen«); sie haben ihren Schwerpunkt in Großstädten und Ballungsräumen und sind thematisch v. a. im Bereich Wohnen, Verkehr, Umweltschutz und Entsorgung, Schulen, Jugendfragen und Kinderbetreuung tätig. Darüber hinaus gibt es jedoch Bürgerinitiativen mit erweitertem Zielhorizont; sie wenden sich gegen - oft überregional bedeutsame - Planungs- und Bauvorhaben wie Autobahnstrecken, Kernkraftwerke, Flughäfen oder militärische Anlagen.
 
Bürgerinitiativen nutzen grundsätzlich alle Formen der politischen Einflussnahme. Als besonders typisch gilt jedoch, dass sie den direkten Zugang zu den politischen und administrativen Entscheidungsträgern suchen und bemüht sind, eine breite Öffentlichkeit für ihr Anliegen zu interessieren. Sie bevorzugen dabei Demonstrationen und öffentliche Versammlungen, Unterschriftensammlungen und Verteilung von Flugblättern; häufiger wird aber auch der Weg der gerichtlichen Klage beschritten. In ihrer großen Mehrheit verhalten sich die Bürgerinitiativen gewaltfrei. Des Öfteren kommt es - z. B. bei Blockaden oder Boykottaktionen - zu begrenzten Rechts- oder Ordnungsverstößen, von den Initiatoren selbst oft »Regelverstöße« genannt. Demonstrative »Regelverstöße« oder gar Gewalttätigkeiten, beispielsweise anlässlich von Protestaktionen von Atomkraftgegnern (z. B. beim Transport von Atommüll zum Zwischenlager Gorleben) werden jedoch nur von wenigen Bürgerinitiativen beziehungsweise von einer Minderheit innerhalb dieser ausgeübt. Die Bewertung von bestimmten begrenzten Regelverletzungen, z. B. Verkehrsbehinderungen, war in letzter Zeit wiederholt Diskussionsgegenstand. (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zu Sitzdemonstrationen, Gewalt).
 
Neben den Bürgerinitiativen, die andere, meist die öffentliche Hand, zum Handeln in einer bestimmten Angelegenheit veranlassen wollen, entstanden Initiativen, die selbst handeln. Die Hauptaktionsform dieser Initiativen ist die »Selbsthilfe«. Sie werden entweder ausschließlich für sich selbst tätig (z. B. Kinderladeninitiativen) oder für andere (z. B. in Schularbeitszirkeln für Ausländerkinder), sind meist im sozial-kulturellen Bereich angesiedelt und betreiben oft eigene Einrichtungen (Beratungsstellen, Treffpunkte). Nach außen werden solche Initiativen gewöhnlich nur dann aktiv, wenn sie sich um (finanzielle) Förderung bemühen oder die Interessen ihrer Klienten anwaltlich vertreten.
 
Mittlerweile haben sich viele Bürgerinitiativen zu örtlichen, regionalen oder bundesweiten Bündnissen zusammengeschlossen, z. B. im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e. V. (BBU). Aus Bürgerinitiativen entstanden überörtliche Vereinigungen und Initiativen, die sich allgemeine Ziele (Natur-, Umwelt-, Lebensschutz), aber auch konkrete Aufgaben (z. B. Bekämpfung des Waldsterbens, Abschaffung von Tierversuchen, Reduzierung des Fluglärms) setzen.
 
Die Bürgerinitiativen haben jedoch nicht nur für die Verbreitung und Durchsetzung ihrer materiellen Anliegen gesorgt; sie lösten darüber hinaus Bemühungen aus, das bestehende System der Willensbildung und Entscheidungsfindung zu verbessern, es zum Bürger hin durchlässiger zu machen. Da der direkten Bürgermitwirkung im System der repräsentativen Demokratie Grenzen gesetzt sind, wurden Anstrengungen unternommen, die Bürgernähe der Träger des Repräsentativsystems, besonders die Parlamente, zu stärken, v. a. gegenüber der Verwaltung; außerdem wurden Bezirks- und Ortschaftsverfassungen eingeführt. Als Hauptadressat der Bürgerinitiativen leiteten die Gemeinden über ihre gesetzlichen Pflichten hinaus freiwillige Maßnahmen zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung ein. Nach Umfragen nutzen jedoch nur 20 % der Bürger in Deutschland das vorhandene Beteiligungsangebot.
 
Die kontrovers und oft heftig geführte Diskussion um die Legalität der Oppositionsrolle der Bürgerinitiativen in der repräsentativen Demokratie spitzt sich häufig auf die Frage der Legitimität des Mehrheitsprinzips als stets verbindliche Entscheidungsregel in der Demokratie zu, d. h. auf die Frage der strikten Unterordnung der Minderheit unter parlamentarisch legitimierte Beschlüsse der Mehrheit.
 
Literatur:
 
B. Armbruster: Lernen in B.n. Ein Beitr. zur handlungsorientierten polit. Bildungsarbeit (1979);
 
B.n in der Gesellschaft. Polit. Dimensionen u. Reaktionen, bearb. v. O. Rammstedt (1980);
 B. Guggenberger: B.n in der Parteiendemokratie. Von der Ökologiebewegung zur Umweltpartei (1980);
 U. Thaysen: Bürger-, Staats- u. Verwaltungsinitiativen (1982);
 F. Kaiser: Bürger-Initiative Nachbarschaft (1984);
 K. Kress u. K.-G. Nikolai: B.n. Zum Verhältnis von Betroffenheit u. polit. Beteiligung der Bürger (1985);
 P. C. Mayer-Tasch: Die Bürgerinitiativbewegung (51985);
 A. Taudt: Die Stellung der B.n im Verf.-System des Grundgesetzes der Bundesrepublik Dtl. (1986);
 I. Kroll: Vereine u. B.n heute (1991);
 K. Singer: Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen (1992);
 G. Marchner: Bis an die Wurzeln. Regionale Initiativen im alpenländ.-mitteleurop. Raum (Innsbruck 1993);
 
Fund raising für die Umwelt, Beitrr. v. R. Hassler u. a. (1994);
 H.-J. Sippel: Ratgeber für Initiativen u. Projekte (41994).

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Bụ̈r|ger|ini|ti|a|ti|ve, die: Zusammenschluss von Bürgern (1) mit dem Ziel, bestimmte Probleme, die die Gemeinde od. der Staat nicht im Sinne der Bürger löst, durch [spektakuläre] Aktionen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken u. dadurch Druck auf die behördlichen Stellen auszuüben: eine B. ins Leben rufen, gründen.

Universal-Lexikon. 2012.