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Selbstverwirklichung
Selbst|ver|wirk|li|chung ['zɛlpstfɛɐ̯vɪrklɪçʊŋ], die; -, -en:
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch Förderung, Entwicklung der in der eigenen Person angelegten Fähigkeiten:
das Spannungsfeld zwischen Beziehungsstress und weiblicher Selbstverwirklichung; viele wünschen sich Selbstverwirklichung am Arbeitsplatz.

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Sẹlbst|ver|wirk|li|chung 〈f. 20; unz.〉 Verwirklichung, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit u. der eigenen Fähigkeiten

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Sẹlbst|ver|wirk|li|chung, die (bes. Philos., Psychol.):
Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in jmdm. selbst angelegt sind.

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Selbstverwirklichung
 
[zu englisch »self-realization« und »self-actualization«], die erstrebte Entfaltung und Ausschöpfung persönlicher Möglichkeiten, ein Begriff, der den Menschen in seinem Selbstverständnis und seiner Zielorientierung im Hinblick auf sein Menschsein und seine Individualität bezeichnet, wobei die prozesshafte Erweiterung des individuellen Entfaltungsspielraums der Person einerseits hinsichtlich eigener Potenziale, andererseits in Spannung zu Fremdbestimmungen im Blickfeld steht. Die damit verbundenen Vorstellungen ordnen sich ein in die neuzeitliche Bewegung der Individualisierung und des mit ihr korrespondierenden Strebens nach Emanzipation von Abhängigkeiten natürlicher, ökonomischer, moralischer sowie metaphysisch-religiöser Art. Daneben formuliert ein zur Modeformel verkürzter Begriff der Selbstverwirklichung häufig einen subjektiven Anspruch, der aus der bloßen Gegebenheit individueller Bedürfnisse die Legitimation ihrer Befriedigung ableitet und dadurch betont einseitig die Rechte des Einzelnen hervorhebt.
 
Nicht zuletzt mit der Entstehung und Verbreitung der humanistischen Psychologie seit den 1960er-Jahren, in der die Selbstverwirklichung eine zentrale Rolle einnimmt, ist Selbstverwirklichung als Programm zu großer Popularität gelangt. Diese erklärt sich aber weniger aus den philosophischen und psychologischen Bedeutungsgehalten des Begriffs als aus seiner Eignung, sowohl einem verbreiteten Lebensgefühl Ausdruck zu verleihen als auch eine (gleichermaßen vage wie provisorisch bleibende) Lebensorientierung zu bieten. Der Wunsch nach »Echtheit« (Authentizität) gehört ebenso dazu wie der Wille zur Selbstbestimmung (Autonomie) und die Suche nach Kreativität. Einem Konglomerat von personbezogenen Zielvorstellungen und Bedürfnissen korrelieren Entfremdungen in der kulturellen Lebenswelt. Der Wandel zur modernen Industriegesellschaft hat dem Einzelnen zwar einerseits einen Freiraum für seine eigene Lebensgestaltung verschafft, der historisch wohl ohne Parallelen sein dürfte, ihn damit aber andererseits in einen unübersichtlich großen Markt versetzt mit unzähligen und äußerst widersprüchlichen Angeboten an Gütern, Sinnorientierungen, Lebensstilen, moralischen u. a. Werten, zwischen denen er wählen muss.
 
Weil sein Leben immer weniger durch Familie, Zugehörigkeit zu einem Stand, einer sozialen Schicht, Religion, Geschlecht und Nationalität endgültig definiert, begleitet und gedeutet wird, bleibt das Individuum in wichtigen Lebensentscheidungen (z. B. in der Berufswahl, in der Bindung an einen Partner) und in kritischen Situationen (z. B. bei Krankheit, beim Verlust von Angehörigen) immer stärker auf sich selbst angewiesen. Die Kehrseite der Erweiterung individueller Freiheiten ist der Verlust einer Einbettung in stützende und in ihrer Wertsetzung übereinstimmende soziale Geflechte sowie eine damit einhergehende Vereinzelung. Die zeitgenössische Wertschätzung des Begriffs der Selbstverwirklichung spiegelt somit auch das Bewusstsein von Defiziten, wie sie hervorgerufen werden z. B. durch soziale Fremdbestimmung, durch eine umfassende Funktionalisierung in der Berufs- und Arbeitswelt, durch die Verkürzung des Menschlichen auf kontrollierbare Leistung und des Lebendigen auf wissenschaftliche Rationalität sowie durch den Verlust glaubwürdiger Sinnstiftung in einer Zeit fortschreitender Säkularisierung.
 
 Philosophiegeschichte
 
Problemgeschichtliche »Vorläufer« der Selbstverwirklichung sind insbesondere die Lehre vom »wahren Glück« (griechisch eudaimonia) und die Vorstellung von der Vervollkommnung des Menschen. Beide reichen in die griechische Antike zurück; sie stimmen darin überein, dass sie von einer vorgegebenen Bestimmung und Fähigkeit des Menschen ausgehen, sich in seinem Wissen, in seiner Selbststeuerung, in seinem Ausdruck, in den Werken von Kunst, Arbeit, Sprache, Technik und schließlich auch in seinen Beziehungen zu anderen Menschen sowie zu der Gemeinschaft, der er angehört, zu entfalten; unter Voraussetzung einer Freiheit zu wählen kann das Bestimmtwerden durch den jeweiligen Augenblick, durch die spontanen Regungen der eigenen Subjektivität und das nur materiell Konsumierbare grundsätzlich aufgebrochen werden. Was das »gute Leben« im Sinne der klassischen Ethik ausmacht, ist nicht rekonstruierbar als verfügbares Objekt des individuellen Bedürfnisses oder als punktuelle Handlung, sondern nur als Verhalten des Einzelnen zu seinem Leben insgesamt und zu sich als einem sozialen Wesen mit der Fähigkeit, über sich selbst hinauszuwachsen (Selbsttranszendenz). In der klassischen ethischen Tradition von Aristoteles über Augustinus und Thomas von Aquino (hier v. a. in einer Theorie der Selbstliebe) bis hin zu C. Wolff, in modifizierter Gestalt noch bis zu I. Kant und G. W. F. Hegel galt wahres Glück als das eigentliche Ziel der Entfaltung des tugendhaften Menschen. V. a. Kant hielt dieser Traditionslinie das Prinzip der Universalisierbarkeit der subjektiven Maxime (kategorischer Imperativ) entgegen und erklärte damit den Menschen und zugleich die ganze Menschheit als Zwecke an sich selbst.
 
Liegt in der Lehre vom wahren Glück der Akzent stärker auf dem Ziel und dessen Erkenntnis, so lenkt die Idee der Vervollkommnung des Menschen (griechisch entelecheia, lateinisch perfectio) die Aufmerksamkeit stärker auf den Weg, der dazu beschritten werden muss. Mittels Erziehung, Bildung, lebensgeschichtlich in wachsendem Maß auch durch Beachtung der Pflichten sich selbst und anderen gegenüber kann sich jeder Mensch der Gestalt annähern, die er als höchste und beste Möglichkeit in sich findet. Selbstverwirklichung ist aus dieser Sicht aber weder ein Prozess, der die Realisierung eines rein subjektiven Zieles bedeutet, noch eine Bewegung, die von der Gesellschaft ausgeht und von ihr allererst ermöglicht wird; sie liegt primär in der Bestimmung des Menschen begründet. Für W. von Humboldt, der im 18./19. Jahrhundert an die griechische Antike und das humanistische Ideal freier Persönlichkeitsentfaltung anknüpfte, stellt die Selbstverwirklichung des Menschen, der ein autonomes Ganzes ist, immer zugleich einen Beitrag zur Verwirklichung der gesamten Menschheit dar.
 
Die Aufforderung, diese Möglichkeit in sich wahrzunehmen, begleitet das europäische Denken vom »Erkenne dich selbst!« des delphischen Orakels über das stoische Ideal der Selbsterhaltung und -entfaltung, die antik-mittelalterlichen Tugendlehren sowie die christliche Tradition der Gewissenserforschung bis hin zu der in der deutschen Klassik viel zitierten antiken Sentenz »Werde, der du bist!«. In der neuzeitlichen Fassung dieses Gedankens der Selbststeigerung durch Selbsterziehung kommt die Schlüsselrolle allerdings der Aktivierung der individuellen Autonomie zu (in je anderer Weise etwa bei G. W. Leibniz, G. E. Lessing, J.-J. Rousseau).
 
Der idealistische Gedanke von Selbst, Selbstsein und Selbstwerden, wie er v. a. in der Philosophie nach Hegel eine zentrale Rolle erhielt und im 20. Jahrhundert durch die Existenzphilosophie erneut Relevanz gewann, hebt sich von früheren anthropologischen Konzeptionen dadurch ab, dass er die Realisierung des Selbst nicht als faktisches Einholen einer naturhaft vorgegebenen Struktur versteht, sondern als etwas, das sich im Entwerfen, Begreifen und Aneignen eigener Möglichkeiten erst konstituiert. Dies ist v. a. in J. G. Fichtes Ichphilosophie ausgeprägt, insofern dort selbst noch das Bewusstsein als reine Tathandlung, als völliger Akt der Freiheit, gedacht ist; das Ich ist darin vorhanden, dass es sich selbst setzt. S. Kierkegaard wendet diese Selbsterzeugung des Ich ganz ins Existenzielle und gelangt so zu einer wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Selbstwerdungsethik: Der Mensch ist umso mehr Selbst, je mehr er angesichts seiner durch Abgrund, Tod, Zerrissenheit und Angst gekennzeichneten Existenz Freiheit und Selbsterkenntnis verwirklichen kann. Im Vollzug der Selbstwerdung durch ein Sich-selbst-Wählen und durch Entscheidung sieht Kierkegaard gleichermaßen einen Grundvollzug menschlichen Daseins und die ethische Grundaufgabe des Menschen.
 
Auch bei K. Marx spielt der Gedanke der Selbstrealisation eine wichtige Rolle. Während aber Kierkegaard bereits im Noch-nicht-selbst-Sein des Einzelnen die grundlegende Herausforderung menschlichen Existierens sieht, deren Entdeckung, Annahme und Lösung ethischer Entscheidungen obliegt, deutet Marx die Nichtübereinstimmung im Menschen oder - idealistisch ausgedrückt - die Differenz zwischen Notwendigkeit und Freiheit als Widerstreit zwischen individuellem Dasein und gattungsmäßigem Wesen und analysiert sie als durch die sozioökonomischen Verhältnisse bedingte Entfremdung. Vor diesem Hintergrund besagt Selbstverwirklichung v. a. gesellschaftlich-strukturelle Befreiung der menschlichen Grundkräfte und der individuellen Fähigkeiten und deren Aneignung in der Arbeit. Die Selbstverwirklichung der gesellschaftlichen Individuen kann folglich erst dann eintreten, wenn ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse (v. a. Arbeitsteilung und Privateigentum an Produktionsmitteln) aufgehoben sind und die Klassenherrschaft überwunden ist. Der Kommunismus sei - so Marx in den frühen »Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten« - die »Reintegration oder Rückkehr des Menschen in sich, als Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung«.
 
Demgegenüber geht die sozialwissenschaftliche Diskussion bereits von den hegelschen Frühschriften aus, in denen sich der Anspruch auf Selbstverwirklichung des gesellschaftlichen Menschen sowohl begründet als auch im Konkurrenzkampf und in der Absetzung zum Postulat der Selbstverwirklichung der jeweils anderen formuliert findet (J. Habermas). Michael Theunissens (* 1932) Unterscheidung zwischen einem traditionell »teleologischen« und einem gängig gewordenen »experimentellen« Verständnis von Selbstverwirklichung macht den vollzogenen Bedeutungs- und Bewusstseinswandel deutlich. Während im modernen experimentellen Sinne Selbstverwirklichung lediglich eine subjektivistische und damit willkürliche Bedeutung hat, kommt Theunissen zu der Behauptung, dass »die Forderung, uns selbst zu verwirklichen, allein als Postulat einer Realisierung von Allgemeinheit ethischer Verbindlichkeit hat«. Zugrunde liegt dabei eine Idee der Freiheit, der gemäß ein Mensch wirklich frei erst zusammen mit allen anderen sein könnte. Die heute geforderte Selbstverwirklichung konkretisiert sich nach Theunissen daher »in der Bekümmerung um die weltweite Ausbeutung der Natur, in der Betroffenheit vom Hunger in der Welt, in der Sorge um den Weltfrieden«.
 
Ein ganz anderes Verständnis wird den Begriffen des Selbst und der Selbstverwirklichung in der Mystik und in den spirituellen Lehren des Ostens zugrunde gelegt. Begriffe wie Selbst, Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, Selbstverwirklichung weisen hier auf den Ort der Gotteserfahrung oder -erkenntnis im Menschen, worin sich dieser zugleich in seinem eigentlichen Wesen realisiert. Selbstverwirklichung ist hier vielfach (etwa bei J. Tauler, in anderer Weise im Buddhismus und Hinduismus) als ein Weg der Selbstentäußerung oder -entsagung beschrieben.
 
 »Selbstverwirklichung« in der Psychologie
 
Eine zentrale Kategorie stellt Selbstverwirklichung in jenen psychologischen Positionen dar, die als humanistische Psychologie zusammengefasst werden (Charlotte Bühler, A. H. Maslow u. a.). Ihre Gemeinsamkeit besteht weniger in einem einheitlichen theoretischen Fundament als in dem Ziel, die Vorherrschaft des deterministisch-mechanistischen Menschenbildes in der psychologischen Forschung zu korrigieren, indem sie den Menschen in seiner Personwürde und das individuelle Erleben in den Mittelpunkt ihrer Forschungen rücken. Viele Autoren berufen sich ausdrücklich auf Kierkegaard und die Existenzphilosophie (M. Heidegger, K. Jaspers, J.-P. Sartre). Selbstverwirklichung meint infolgedessen das Bestreben, das eigene Potenzial an Begabungen, Kräften, Gefühlen, Hoffnungen, auch an spezifischer Besonderheit zu verwirklichen (Maslow spricht deshalb auch von »Selbstaktualisierung«), und zwar nicht primär als Erreichen punktueller Ziele und bloß momentan, sondern im individuellen Lebenslauf als Ganzem.
 
In den Persönlichkeitstheorien der humanistischen Psychologie erscheint Selbstverwirklichung als Vollzug einer inneren Wachstumstendenz, die als Motivationsbasis sämtlicher Aktivitäten beeinflusst. Im Gegensatz zur klassischen Psychoanalyse und zum Behaviorismus gehen die humanistischen Psychologen von der Auffassung aus, dass der Mensch zwar von Bedürfnissen bestimmt ist (Maslow z. B. unterscheidet zwischen physiologischen Grundbedürfnissen und psychischen Wachstumsbedürfnissen), aber immer in einem schöpferischen Spannungsfeld zur Umwelt steht, als ein aus Leib, Seele und Geist bestehender, ganzheitlicher Organismus nicht losgelöst von seiner gesamten Lebenssituation (seinem Verhältnis zum Universum als Ganzem) begriffen werden kann. Dieser menschlichen Grundsituation entspricht als Zielvorstellung eine Selbstfindung, die durch Befreiung von Zwängen der heteronomen Übernahme und Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen und Rollen wie auch von dem bloßen Drang, anderen Menschen zu gefallen, gekennzeichnet ist und damit eine Entwicklung von Selbstbestimmung, Offenheit anderen Menschen sowie neuen Erfahrungen gegenüber ermöglichen soll. C. R. Rogers und E. Fromm zufolge kann das humanistische Konzept der Selbstverwirklichung die Basis für eine Gesellschaft »neuer Menschen« bilden, die durch Qualitäten wie zwischenmenschliche Wertschätzung, Kreativität und Gerechtigkeit geprägt ist.
 
Bereits vor der humanistischen Psychologie, die wegen ihrer Brauchbarkeit als Grundlage therapeutischer Beratung (Gestalttherapie, Gesprächstherapie, themenzentrierte Interaktion u. a.) Anerkennung gefunden hat, der aber auch Individualismus, anthropologischer Optimismus und ein Zug zur Irrationalität vorgeworfen werden, hat C. G. Jung 1928 den Begriff der Selbstverwirklichung im Sinne der Individuation in die psychologische Diskussion eingeführt. Eine unvergleichbare Individualität, die durch das »Selbst« vorgegeben ist, entsteht Jung zufolge erst dadurch, dass die bewusste Persönlichkeit (das Ich) Inhalte des Unbewussten akzeptiert und assimiliert. Während das Selbst in der humanistischen Psychologie, etwa bei Rogers, v. a. die (bewusste) Persönlichkeit eines Menschen meint, besagt »Selbst« bei Jung den Gesamtumfang aller bewussten und unbewussten psychischen Phänomene. Insofern aber immer nur Teile des Unbewussten bewusst gemacht werden können, stellt das Selbst ein nicht endgültig einholbares Postulat dar. Selbstverwirklichung, wie sie meistens durch einen Leidensdruck im Sinne eines Prozesses psychischer Selbstregulierung in Gang gesetzt wird, zielt auf ein »weiteres Bewusstsein«; es tritt nach Jung als eine Beziehungsfunktion zutage, welche die Persönlichkeit in eine verpflichtende und unauflösbare Gemeinschaft mit der Welt versetzt.
 
V. Frankl, der Begründer der Existenzanalyse, sieht den Menschen nicht wie S. Freud durch das Lustprinzip noch wie A. Adler durch ein Geltungsstreben, sondern durch den Willen, Sinn zu erfüllen und Werte zu verwirklichen, bestimmt. Selbstverwirklichung ist dabei nach Frankl Wirkung der Sinnerfüllung und dieser gegenüber sekundär; in dem Maße, in dem der Mensch etwa in der Hingabe an eine Sache oder in der Liebe zu einem Menschen Sinn erfüllt, verwirklicht er auch sich selbst; in einem Streben nach Selbstverwirklichung, das rein selbstbezogen ist und tatsächlich oft als Alibi für egoistisches oder egozentrisches Verhalten dient, hat er diese wie auch sich selbst schon verfehlt.
 
 Chancen und Grenzen der Selbstverwirklichung
 
Die verschiedenen Konzepte der Selbstverwirklichung gehen gemeinhin davon aus, dass der Mensch nicht schon durch die Tatsache seines Daseins das ist, was er sein kann; sein Selbst erst hervorzubringen, gehört vielmehr zu seiner existenziellen Grundbefindlichkeit. Die Fähigkeit und der innere Drang zur Selbstbildung wird nicht als mechanische Entwicklung aufgefasst, in der ein festgelegtes allgemeines Muster oder ein von Anfang an fertiges individuelles Programm fortschreitend expliziert würde. Vielmehr richtet sie sich auf ein konkretes, individuelles Personbild, das aus der Offenheit der eigenen Anlagen und Möglichkeiten und in wechselseitigem Austausch mit Bezugspersonen, Erziehern und Umwelt nach und nach ausgeformt wird. Demnach erfolgt Selbstbildung im Lebenslauf mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in verschiedenen Lebensphasen und mit Neuorientierungen in Übergängen, wobei krisenhafte Zuspitzungen, auch ein Stillstand im Selbstwerden oder ein Scheitern darin, die eigenen Kräfte zur Darstellung zu bringen, nicht ausgeschlossen sind.
 
Die Thematisierung des Aufbaus und der Entfaltung der Persönlichkeit unter dem Stichwort Selbstverwirklichung ist allerdings nie gegen die Möglichkeit geschützt, als Legitimation oder sogar Aufforderung zur Zentrierung der Wirklichkeitsbezüge auf die eigene Person missverstanden zu werden. Gerade die Eingängigkeit dieses Begriffs und seine Ausrichtung nach innen erlauben es, die Idee der Selbstverwirklichung als Rechtfertigung und gar ethischer Verbrämung für narzisstische Ichbezogenheit zu benutzen. Insoweit stellt auch das sozialwissenschaftliche Konzept der Individualisierung ein durchaus zwiespältiges Muster für die Realisierungschancen von Selbstverwirklichung dar. Gerade angesichts zunehmend vernetzter Risiken und Gefahren (U. Beck) bleiben den Individuen - eben im Zusammenhang gewachsener Ansprüche auf Selbstverwirklichung - politisch und sozial immer weniger Chancen zur Verwirklichung dieses Anspruchs. In diesem Maße kann »Selbstverwirklichung« dann zum Thema ideologischer Besetzungen oder zum Etikett für Produktwerbung und vermeintlich individuelle Konsumstile werden.
 
Wo der Maßstab einer nur auf sich selbst bezogenen und in Selbstbehauptung aufgehenden Selbstverwirklichung verabsolutiert wird, können Begrenztheit, Misserfolg, Versagen, Krankheit, Leid und Sterben nur noch als Scheitern des Selbstprojekts und somit als Selbstverlust beurteilt und verarbeitet werden. Nicht zuletzt von Theologen wird deshalb kritisiert, dass mit einem solchen Verständnis von Selbstverwirklichung etwa die Möglichkeit von Schuld, die Erfahrung, trotz Schuld zur Hoffnung auf Liebe berechtigt zu sein, und das Angewiesensein auf die Gnade Gottes weitgehend ausgeblendet werden (E. Jüngel, W. Pannenberg).
 
Selbstverwirklichung steht in einem dialogischen Spannungsverhältnis zu den Erwartungen anderer, zu den wechselseitigen Abhängigkeiten und der sozialen Vernetztheit des einzelnen Lebens. Die Einsicht nicht nur in die einengenden und beschränkenden Funktionen von Gesellschaft, sondern auch die Anerkennung ihrer produktiven Kräfte und im positiven Sinn regulativen Momente kann die Selbstverwirklichung einem Egozentrismus entziehen. Als Voraussetzung für Selbstverwirklichung als humanen Grundsatz erscheint dabei die Anerkennung der prinzipiellen Kontingenz des menschlichen Daseins (und seiner negativen Möglichkeiten) sowie des Grundsatzes der Solidarität.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Alternativkultur · Anthropologie · Autonomie · Bildung · Emanzipation · Eudämonismus · Existenzphilosophie · Freiheit · Glück · Individuation · Individuum · Lebensqualität · New Age · Risikogesellschaft · Säkularisierung · Selbst · Selbstbestimmungsrecht · Sinn · Solidarität · Verantwortung
 
Literatur:
 
H. Krämer: S., in: Die Frage nach dem Glück, hg. v. G. Bien (1978);
 C. G. Jung: Die Beziehungen zw. dem Ich u. dem Unbewußten (121980);
 H. Barz: Stichwort: S. (1981);
 R. Huber: Zur Psychologie der S. (Diss. Zürich 1981);
 E. Tugendhat: Selbstbewußtsein u. Selbstbestimmung (21981);
 M. Theunissen: S. u. Allgemeinheit (1982);
 J. Fuchs: S. u. Selbstentfremdung, in: Stimmen der Zeit, Bd. 202 (1984);
 M. Eisenstein: S. u. Existenz - eth. Perspektiven pastoralpsycholog. Beratung unter besonderer Berücksichtigung S. Kierkegaards (1986);
 
Kreativität u. Leistung - Wege u. Irrwege der S., hg. v. K. Adam (1986);
 
S. Chancen, Grenzen, Wege, hg. v. K. Hilpert (1987);
 G. Gerhardt: Kritik des Moralverständnisses (1989);
 P. Paulus: S. u. psych. Gesundheit (1994);
 H. Quitmann: Humanist. Psychologie (31996);
 C. R. Rogers: Entwicklung der Persönlichkeit (a. d. Engl., 111997).

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Sẹlbst|ver|wirk|li|chung, die (bes. Philos., Psych.): Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in jmdm. selbst angelegt sind.

Universal-Lexikon. 2012.