Bụ̈r|ger|be|we|gung 〈f. 20〉 = Bürgerinitiative
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Bürgerbewegung,
zusammenfassende Bezeichnung für verschiedene Gruppierungen und Vereinigungen engagierter Bürger, die mit Forderungen nach Einflussnahme auf die politische Willensbildung außerhalb parlamentarischer Institutionen und mit kritischen Diskussionsangeboten auf gesellschaftliche Defizite, insbesondere bezüglich der Bürgerrechte, hinweisen und unter Wahrnehmung von Bürgerverantwortung Veränderungen anmahnen. Als Bürgerbewegungen im engeren Sinnwerden die in einem breiten politischen Spektrum von liberal-demokratisch bis (links-)alternativ orientierten oppositionellen beziehungsweise informellen Gruppen verstanden, die sich in den sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas, v. a. seit den 70er-/80er-Jahren in ihrem Kern als Demokratiebewegungen herausbildeten. Sie bemühten sich unter den Bedingungen »geschlossener Gesellschaften« in ihren Ländern um die Durchsetzung von Menschen- beziehungsweise Bürgerrechten sowie um die Herstellung von Öffentlichkeit, Demokratie und politischer Pluralismus. In fließenden Übergängen sehr häufig aus Bürgerrechtsbewegungen hervorgegangen, blieben die nur lose miteinander verbundenen Gruppen der Bürgerbewegung lange Zeit gesellschaftlich marginalisiert, bis sie im Herbst 1989 zu Initiatoren der siegreichen gewaltfreien Revolutionen wurden, die den Systemwechsel erzwangen. Ihr Beitrag zur Erprobung neuer Formen der Demokratie und der direkten politischen Mitgestaltung beziehungsweise Einflussnahme auf die politische Entscheidungsfindung (u. a. durch die Praxis des »runden Tisches«) blieb weitgehend folgenlos.
Unterschiedliche Meinungen bestehen darüber, ob Ziele und Beweggründe der Bürgerbewegung auf eine Stärkung der Demokratie hinauslaufen; die Befürworter nennen als Belege dafür die größere Beteiligung der Bürger, eine direktere politische Einflussnahme sowie die Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch Formen außerparlamentarischer Arbeit. Wird unter Bürgerbewegung die Interpretation des Gemeinwohls durch die Bürger verstanden, so lässt sich eine Linie bis zu den Unruhen und Rebellionen außerhalb der ständischen Institutionalisierung seit der frühen Neuzeit ziehen (P. Blickle). Die Kritiker der Industriegesellschaft und des modernen Staates, die sich innerhalb pluralistisch strukturierter Staaten in Bürgerinitiativen, Parteien, Vereinen und Verbänden (z. B. Gewerkschaften) artikulieren können, weisen auf die Eigendynamik der Bürokratie hin, z. B. im Verbund mit mangelndem Datenschutz; sie sehen v. a. die Selbstentfaltung des Bürgers in seinen Rechten gefährdet. Nicht selten führen Unzufriedenheit mit Entscheidungen von Legislative und Exekutive, die den Bürger in seiner Lebenswelt direkt betreffen, zur Bildung von Bürgerbewegungen oder Bürgerinitiativen.
Bürgerbewegungen im kommunistischen Machtbereich
In den nach 1945 der sowjetischen Vorherrschaft unterworfenen Staaten Mittel- und Osteuropas waren nach der Eliminierung beziehungsweise Zerschlagung der bürgerlichen Parteien zunächst v. a. die Kirchen Träger eines fundamentalen Widerstandes gegen die 1947/48 etablierten KP-Regime (u. a. Kardinal J. Mindszenty, Bischof F. Tomášek, Kardinal S. Wyszyński); später forderten daneben häufig einzelne Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle, nicht selten in einem zermürbenden Kampf mit der Staatsmacht, elementare Bürgerrechte und Freiheiten ein. Obwohl sich z. B. Bulgarien, Rumänien und Ungarn im Pariser Frieden vom 10. 2. 1947 direkt verpflichtet hatten, die Menschenrechte und insbesondere die bürgerlichen Freiheiten zu garantieren, musste deren Verletzung in diesen Ländern 1949-53 auf UN-Vollversammlungen wiederholt scharf kritisiert werden. Letztlich fügten sich die westlichen Staaten aber - wie auch 1953/56, 1968 und 1980/81 - unter der Maßgabe, den Weltfrieden zu erhalten, gewissen politischen Gegebenheiten.
Erst im Gefolge der Entspannungspolitik in den 70er-Jahren konnten sich im Ostblock verstärkt Bürgerbewegungen beziehungsweise Bürgerrechtsbewegungen entwickeln, deren Mitglieder (oft »Dissidenten« genannt) die Partei- und Staatsführungen ihrer Länder aufforderten, die formell in den nationalen Verfassungen verankerten Grund- und Menschenrechte zu achten sowie rechtsstaatliche Normen im Verkehr der Behörden mit dem Staatsbürger einzuhalten oder einzuführen. Einzeln oder in kleinen, zumeist auf informelle Zirkel von nonkonformistischen Intellektuellen, Künstlern, Anwälten beziehungsweise Vertretern des kirchlichen Lebens beschränkten und nur lose miteinander verbundenen Basisgruppen beriefen sich die Bürgerrechtler bei ihren Bemühungen um eine den Herrschaftspraktiken der KP entgegengestellte »Zivilgesellschaft« auf die menschen- und bürgerrechtlichen Forderungen der »Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa« (KSZE) und ihrer »Schlussakte« (Helsinki, 1975). Mit der KSZE-Nachfolgekonferenz in Belgrad (1977/78) und ihrem »Abschlussdokument« erfuhr die Bürgerbewegung im kommunistischen Herrschaftsraum erneut starke Impulse und eine erhebliche Ausweitung. Es entstanden, v. a. Ende der 80er-Jahre, in zahlreichen Ländern so genannte nationale Helsinki-(Überwachungs-)Komitees beziehungsweise -Gruppen. Mit Eingaben an die Behörden, Demonstrationen, Untergrundpublikationen oder Interviews gegenüber Journalisten v. a. aus dem westlichen Ausland suchten die Initiatoren der Bürgerbewegungen beziehungsweise Bürgerrechtsbewegungen ihre Ziele zu verwirklichen; insgesamt blieben sie aber bis Ende der 80er-Jahre Randgruppen der »staatssozialistischen« Gesellschaften.
Mit dem NATO-Doppelbeschluss vom 12. 12. 1979 entstanden erste unabhängige Friedenskreise auch im Ostblock; häufig gingen aus ihnen kleinere Oppositionsgruppen hervor, die aber weder über allgemein anerkannte Führungspersönlichkeiten noch über ein bedeutendes Kommunikationsnetz verfügten. Anfang der 80er-Jahre verbreiterte sich das Spektrum der Bürgerbewegungen; nach 1980 (Danziger Abkommen) erfolgte in Polen mit der »Solidarność«-Bewegung der Übergang von einer Bürgerrechtsbewegung zur Bürgerbewegung; sie erlangte große Ausstrahlung auf oppositionelle Gruppierungen in verschiedenen Ostblockländern. Neue politische Freiräume entstanden, als sich aus den im konspirativen Untergrund beziehungsweise in der Illegalität immer stärker mit eigenen informellen Strukturen formierenden Oppositionsgruppen (beziehungsweise parallel zu ihnen) heterogene thematische Einzelbewegungen entwickelten, die das staatlich verordnete Denken u. a. in den Problemkreisen Frieden, Menschenrechte, Umweltschutz, Stellung der Frauen sowie Dritte Welt unterliefen. Trotz der ideologischen sowie physischen Bekämpfung durch den totalitären Staat (u. a. Unterwanderungen der Bürgerbewegungen durch staatliche Geheimdienste, Verhaftungen und Arrestierungen, Ausbürgerungen und Verbannungen, Verhängung von Haftstrafen und Berufsverboten) und trotz vieler subtiler Varianten ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung (u. a. Kontakt- und Bildungsverbote) konnten die Bürgerbewegungen die erkämpften Möglichkeiten ihrer Betätigung behaupten; gleichwohl blieben ihr Wirkungskreis sowie ihre Mobilisierungsfähigkeit zunächst noch eng begrenzt. Als Mitte der 80er-Jahre in vielen Ländern deutliche Symptome für eine wachsende Systemkrise des Realsozialismus sichtbar wurden, nahm ab 1985/86, auch unter dem Eindruck der von M. S. Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleiteten Reformpolitik des »neuen Denkens« und beginnender Demokratisierung (»Glasnost« und »Perestroika«), der Widerstand in der Bevölkerung gegen die Bevormundungen des Staates zu. Als unter Gorbatschow den Ostblockländern ein größerer politischer Spielraum eingeräumt wurde, nutzten insbesondere Polen und Ungarn dies ab 1988/89 zu ersten vorsichtigen demokratischen Reformen. Der nach der Überwindung des »Systems der Angst« bald massenhaft erwachende Wille der Bürger zu demokratischer Erneuerung, ihr Ausbruch aus den »geschlossenen Gesellschaften« verordneter Unmündigkeit, führte schließlich zur Erosion der kommunistischen Staatsmacht: In den in mehreren Ostblockländern ausbrechenden landesweiten Massenbewegungen gingen die Bürgerrechtsbewegungen beziehungsweise Bürgerbewegungen voran; ihr Handeln und Beispiel löste die von zunehmender Zivilcourage und Bürgergeist getragenen breiten Demokratiebewegungen aus, die sich mit ihrer Anlagerung an die ehemals zersplitterten »ursprünglichen« Bürgerbewegungen zu wirklich umfassenden Bürgerbewegungen ausgeweitet hatten. Als der Sturz der »staatssozialistischen« Regime herbeigeführt war, wurden die ursprünglichen Bürgerbewegungen häufig an den Rand gedrängt, teilweise aber auch in den staatlichen Neuaufbau integriert.
In der Sowjetunion wurden bis zum Tod Stalins (1953) jegliche Ansätze demokratischer beziehungsweise oppositioneller Bewegung und der nationale Widerstand nichtrussischer Völker gegen die Russifizierung mit brutaler Staatsgewalt unterdrückt; Andersdenkende aller politischen Richtungen, teilweise ganze Bevölkerungsschichten (u. a. Kulaken), zu »Konterrevolutionären« beziehungsweise »Volksfeinden« erklärt, waren staatliche Terrormaßnahmen wie Inhaftierung in Zwangsarbeitslagern (GULAG), Deportation und Verbannung ausgesetzt; viele Betroffene verloren dabei ihr Leben beziehungsweise wurden nach Schauprozessen hingerichtet (Große Tschistka). Erst mit der unter N. S. Chruschtschow eingeleiteten Entstalinisierung, die u. a. zur Verurteilung der stalinschen Verbrechen, zur Auflösung des GULAG und zur Rehabilitierung vieler unschuldiger Opfer beziehungsweise ganzer zwangsumgesiedelter Völker führte und mit einer zeitweiligen kulturpolitischen Liberalisierung (Tauwetter) einherging, waren eine erste kritische Auseinandersetzung mit der Stalinzeit und eine begrenzte Benennung gesellschaftlicher Defizite möglich; dabei traten zunächst v. a. Literaten (W. D. Dudinzew, A. I. Solschenizyn, J. A. Jewtuschenko) in Erscheinung.
Schon in den 50er-Jahren, verstärkt aber seit den 60er-Jahren entstanden kritische informelle Zirkel, in denen sich v. a. Studenten und Vertreter der jüngeren reformkommunistischen Intelligenzija engagierten. Als in der Amtszeit L. I. Breschnews (1964-82) die Entstalinisierung völlig zum Erliegen kam, verbreiteten regimekritische Schriftsteller und Intellektuelle unter Umgehung der staatlichen Zensur ihre Texte zunehmend im Samisdat oder Tamisdat (Ausland); es entstand eine »Schreibmaschinenkultur alternativen Denkens« (H. Altrichter), die der Staat mit Strafmaßnahmen zu unterdrücken suchte. Die Verhaftung der Schriftsteller A. D. Sinjawskij und J. M. Daniel im September 1965 (im Februar 1966 wegen »Diffamierung des Sowjetsystems« zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt) führte zu den ersten öffentlichen Aktionen sowjetischer Menschen- und Bürgerrechtler (am 5. 12. 1965 Demonstration auf dem Puschkinplatz in Moskau für ein öffentliches Gerichtsverfahren und die Einhaltung der Verfassung, Unterschriftenaktion innerhalb der russischen Intelligenz zur Unterstützung der Angeklagten; im Januar 1967 Veröffentlichung eines selbst erstellten Gerichtsprotokolls durch Alexander Iljitsch Ginsburg [* 1936, ✝ 2002] u. a. und Versendung an den KGB sowie Abgeordnete des Obersten Sowjets, um eine Neuaufnahme des Prozesses zu erwirken; 1968 Verurteilung der Initiatoren). Von der seitdem im Samisdat publizierten »Chronik der laufenden Ereignisse«, die über Grundrechtsverletzungen und nationale sowie religiöse Diskriminierungen in der UdSSR berichtete, erschienen mehr als 60 Nummern. 1970 entstand ein Komitee für Menschenrechte, dessen Mitbegründer A. D. Sacharow zur Symbolfigur der sowjetischen Bürgerrechtsbewegung wurde. Zusammen mit dem Historiker R. A. Medwedjew und dem Mathematiker W. Turtschin hatte er im selben Jahr an die sowjetische Führung einen Brief (»Memorandum«) mit der Forderung nach Demokratisierung gerichtet (u. a. Kandidatenwettbewerb bei Wahlen, Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit, Abschaffung der Zensur, umfassende Justizreform). Nach Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki durch die UdSSR (1975), in der sich diese auch zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten verpflichtete, gründete der Physiker J. Orlow im Mai 1976 die erste »Helsinki-Gruppe« im sowjetischen Machtbereich, der bald weitere folgten. Das politische Spektrum der Dissidenten reichte von Reformkommunisten beziehungsweise »Sozialisten«, die sich an Lenin orientierten (z. B. R. A. Medwedjew), über Vertreter einer liberal-demokratischen Strömung (z. B. Sacharow) bis zu traditionsorientierten »Neoslawophilen« (z. B. Solschenizyn); eine wichtige Rolle spielten christliche und - die sich gegen Russifizierung und ethnische Diskriminierung im sowjetischen Vielvölkerimperium wehrenden - nationalen Oppositionsgruppen in den einzelnen Unionsrepubliken (u. a. in der Ukraine, wo im Westteil des Landes separatistische Untergrundgruppen entstanden und schon 1961 ein unabhängiger ukrainischer Nationalstaat von Lew Lukjanenko gefordert wurde, wofür man ihn zunächst zum Tode verurteilte, später zu 15 Jahren Lagerhaft begnadigte). Gegen die sich in den 70er-Jahren verstärkende Bewegung nonkonformistischer Kräfte ging der sowjetische Machtapparat (insbesondere unter Einsatz des 1967-82 von J. W. Andropow geleiteten KGB) mit einem Komplex von Unterdrückungsmethoden vor: Dissidenten wurden zu Haftstrafen (z. B. W. K. Bukowskij, A. A. Amalrik) oder zur Zwangsarbeit verurteilt, in psychiatrischen Kliniken eingewiesen (z. B. S. A. Medwedjew 1970-73), ausgebürgert und ausgewiesen (z. B. Solschenizyn 1974, L. S. Kopelew 1981) oder verbannt (z. B. Sacharow und Jelena Bonner [* 1923] nach Gorkij [heute Nischnij Nowgorod]). Durch dieses repressive Vorgehen konnte die sowjetische Bürgerrechts- und Demokratiebewegung bis zum Beginn der 80er-Jahre weitgehend ausgeschaltet werden.
Nach der politischen Etablierung Gorbatschows (März 1985) wurden zwischen Ende 1986 und 1988 die meisten der aus politischen Gründen in Lagern Inhaftierten oder Verbannten entlassen (u. a. im Februar 1987 140 Häftlinge) und 1990 die Erlasse über die Ausbürgerung einer Reihe von Dissidenten aufgehoben; die Verfolgung religiöser Gruppen hörte auf. Gorbatschows »Revolution von oben« (Glasnost und Perestroika) griff einen Teil der Forderungen der Bürgerrechts- und Dissidentenbewegung auf und ließ die Entwicklung einer rasch an Breite gewinnenden Bürgerbewegung zu, die sich in der Entstehung einer großen Zahl von informellen Vereinigungen (darunter Ökogruppen, Vereine zum Schutz der vaterländischen Kultur, politischen Klubs und religiöse Seminare), in der Gründung unionsweiter Gesellschaften (z. B. der Vereinigung »Memorial« im Januar 1989 zur Aufdeckung der »weißen Flecken« in der Geschichte des Stalinismus), in der Herausbildung einer von den offiziellen Gewerkschaften losgelösten Arbeiterbewegung (Bildung von Streikkomitees beim ersten großen Ausstand der Bergarbeiter in den Schwerindustrierevieren von Kusbass, Donbass und Workuta im Sommer 1989; 30. 4.-2. 5. 1990 erster Kongress der unabhängigen Arbeiterbewegung und Gründung einer »Konföderation der Arbeit«, im Juni 1990 Schaffung eines Gewerkschaftsverbandes der Bergleute) und sogar in der Formierung einer Art Bürgerrechtsbewegung innerhalb der Sowjetarmee (im März 1990 Entstehung des »Bundes zum sozialen Schutz der Wehrbediensteten und ihrer Familienangehörigen«, kurz »Schild« genannt) äußerte. Diese breite Emanzipationsbewegung von unten lieferte die Grundlage für die Entstehung eines politischen Pluralismus und für die Konstituierung von politischen Bewegungen, Wahlbündnissen (z. B. 1990 »Demokratisches Russland«) und Parteien (am 9. 10. 1990 durch den Obersten Sowjet Verabschiedung eines Gesetzes, das den Rahmen für die Bildung nichtkommunistischer Organisationen festlegte). Die eng mit der Bürgerrechtsbewegung verbundene nationale Emanzipationsbewegung in der UdSSR konnte in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre schnell an Wirksamkeit gewinnen (zunächst v. a. im Baltikum, in Georgien und Armenien, dann allmählich auch in den anderen Unionsrepubliken); sie vertiefte die politische Systemkrise zum Zerfallsprozess der Sowjetunion. So entstand im Juni 1988 in Litauen die Bewegung »Sąjūdis«, im Oktober 1988 wurden »Volksfronten« in Estland (»Rahvarinne«) und Lettland (»Latvijas Tautas Fronte«) gegründet; alle drei entwickelten sich schnell zu der jeweils treibenden Kraft bei der Wiederherstellung der Unabhängigkeit ihrer Länder. Ausdrucksform der auf nationale Belange ausgerichteten Bürgerbewegung in Estland war u. a. 1988 die »Singende Revolution« (Höhepunkt am 9. 9. 1988, als sich auf dem Liederfeld der Haupstadt Tallinn 300 000 Esten versammelten). Zur Erinnerung an den 50. Jahrestag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts und v. a. zur Bekräftigung des Willens der Bevölkerung der baltischen Republiken nach erneuter Eigenstaatlichkeit bildeten mehr als eine halbe Mio. Menschen am 23. 8. 1989 eine circa 600 Kilometer lange Menschenkette, die die Haupstädte Tallinn, Riga und Vilnius miteinander verband.
In Polen sah sich die bis 1989 machtausübende kommunistische Partei (PVAP) einem v. a. 1956, 1966/68, 1970, 1976 und 1980 in Aktion tretenden Protestpotenzial der Bevölkerung und der einflussreichen katholischen Kirche gegenüber, die ihre Rolle als Ort nationale Identifikation bewahren konnte und zu einem Sammelbecken der Opposition wurde. Die der katholischen Kirche nahe stehende, 1957 gebildete kleine Abgeordnetengruppe »Znak« (»Zeichen«), der u. a. zeitweise T. Mazowiecki angehörte, unternahm früh den Versuch, im Sejm von der kommunistischen Staatsmacht abweichende Standpunkte zu vertreten, und wurde dadurch zu einer moralischen Instanz (u. a. 1968 erstmals in der polnischen Nachkriegsgeschichte Einbringung einer regimekritischen Interpellation). Bereits in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre waren mehrere von Studenten und jungen Intellektuellen ins Leben gerufene politische Diskussionsklubs entstanden, die Anfang der 60er-Jahre aufgelöst beziehungsweise verboten wurden. Am 23. 9. 1976 kam es zur Gründung des »Komitees zur Verteidigung der Arbeiter« (KOR), das zunächst Hilfe für die nach den Streiks vom Juni 1976 verfolgten Arbeiter organisierte, sich dann aber (1977-81) als »Komitee für gesellschaftliche Selbstverteidigung« zum Kern einer breiten Protestbewegung gegen die damalige Partei- und Staatsführung entwickelte. Führende KOR-Mitglieder waren Jan Józef Lipski (* 1926, ✝ 1991), J. Kuroń und Adam Michnik (* 1946). Aus dieser und anderen Initiativen (z. B. »Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte«, gegründet 1977) entwickelte sich im Zusammenhang mit der Streikbewegung vom Sommer 1980 die Gewerkschaftsorganisation Solidarność (Solidarität), der sich bis Herbst 1981 rd. 10 Mio. Mitglieder anschlossen und deren Vorsitzender bis 1990 L. Wałęsa war. Das am 13. 12. 1981 von General W. Jaruzelski verhängte Kriegsrecht (am 31. 12. 1982 ausgesetzt und am 22. 7. 1983 offiziell aufgehoben) verschärfte den Konflikt mit der Opposition. Die am 8. 10. 1982 suspendierte Solidarność, deren Aktivisten zumeist interniert oder verhaftet wurden, konnte zwar jahrelang in den Untergrund gedrängt, aber nicht ausgeschaltet werden. Unter den Bedingungen des Kriegsrechts wurden die im Samisdat herausgegebenen Publikationen (häufig sogar gedruckte Bücher, u. a. durch den Verlag »NOWa«) zum Massenphänomen. Die Entführung und Ermordung des regimekritischen Warschauer Priesters J. Popiełuszko durch Mitarbeiter des polnischen Sicherheitsdienstes führte 1984 zu Massendemonstrationen und schließlich zu einer Verurteilung der Täter. Angesichts der ungelösten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Krise (1988 Ausbrechen wilder Streiks, die bald das ganze Land erfassten) nahm die Regierung wieder Verhandlungen mit Vertretern der Solidarność (mit einem von Wałęsa geleiteten Bürgerkomitee) auf (Gespräche am »Runden Tisch« Februar bis April 1989). Nach Wiederzulassung der Solidarność am 17. 4. 1989 gelang ihr durch den Wahlerfolg ihres Bürgerkomitees bei den Parlamentswahlen im Juni 1989 eine Beteiligung an der Macht und die Einleitung eines gesellschaftlichen Reformprozesses (Polen, Geschichte). Auch die Solidarność wurde von einem politischen Differenzierungsprozess erfasst; aus ihr gingen mehrere Parteien hervor, sie blieb aber auch als Gewerkschaftsorganisation bestehen.
In der Tschechoslowakei, wo nach der Intervention der Staaten des Warschauer Pakts im August 1968 alle Reformideen des »Prager Frühlings« unter A. Dubček unterdrückt und ihre Anhänger verhaftet (z. B. O. Filip) oder ins Exil (z. B. O. Šik) getrieben wurden, trat ab 1977 eine Gruppe unter dem Namen Charta 77 (u. a. V. Havel und seine Frau Olga Havlova [* 1933, ✝ 1996], Jiří Dienstbier [* 1937], P. Kohout, J. Hájek, J. Gruša, M. Uhde) mit Petitionen politischen Inhalts an die Öffentlichkeit. Die staatlichen Repressalien drängten auch hier die Bürgerbewegung in den Untergrund, konnten aber eine rege Untergrundpublizistik und Kontakte mit dem westlichen Ausland nicht verhindern; die Bürgerbewegung weitete ihre Aktivitäten v. a. ab 1985/86 aus (u. a. Gründung neuer Bürgerrechtsgruppen: am 15. 10. 1988 die »Bewegung für Bürgerfreiheit«, am 5. 11. 1988 das Helsinki-Komitee). Am 15. 1. 1989 fanden Protestkundgebungen anlässlich des 20. Jahrestages der Selbstverbrennung des Studenten Jan Palach auf dem Prager Wenzelsplatz statt. Nach der am 17. 5. 1989 durch internationale Proteste erreichten Freilassung V. Havels (seit 20. 1. 1989 »wegen Rowdytums« inhaftiert) und der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an ihn (8. 6. 1989) sowie einer ersten Massendemonstration in Prag aus Anlass des Jahrestages der Niederschlagung des »Prager Frühlings« (21. 8.) formierte sich eine wachsende Opposition in der breitere Kreise erfassenden Bürgerbewegung; im Spätherbst 1989 wurde das verschiedene Gruppen vereinigende Bürgerforum zum Sprachrohr und Träger der das Regime stürzenden »sanften Revolution« (November/Dezember 1989).
In Ungarn war durch die Stagnation in der zweiten Hälfte der 70er-Jahre und deutliche Krisensymptome ab 1980/85 der stille Kompromiss der Bevölkerung mit dem System, das ihr (ab 1962/63) im Vergleich zu anderen Ostblockländern gewisse Freiräume eröffnet hatte, brüchig geworden. Die in den 70er-Jahren entstandene demokratisch-bürgerliche Opposition (häufig Schriftsteller und Künstler sowie Philosophen, Soziologen oder ehemaligen Aktivisten des Volksaufstandes von 1956) hatte im Kampf um die Wahrung der Menschenrechte im Anschluss an die Charta 77 aus der ČSozialistischen Sowjetrepublik (u. a. Unterschriftensammlungen) ab Ende 1981, unter Einfluss der Vorgänge in Polen, zugleich verschiedene Gedanken und Reformkonzepte zur Überwindung des Systems entwickelt, die zum Teil Eingang in staatliche Institutionen fanden (v. a. Akademie der Wissenschaften). Wichtige Vertreter der Bürgerbewegung wurden u. a. J. Antall, Á. Göncz, I. Csurka, S. Csoóri. Gleichzeitig entstanden Ökoprotestgruppen, die die 1985/86 in der Bevölkerung zunehmende Kritik am geplanten Kraftwerk Nagymaros formulierten (Massendemonstration am 12. 9. 1988). Durch Untergrundpublizistik kam es zu Kontakten unter den verschiedenen Oppositionsgruppen (u. a. Treffen von Monor, Juni 1985); 1987 erschien im Samisdat die für die Bürgerbewegung programmatische Schrift »Gesellschaftsvertrag«, die als Plattform auch die seitdem zunehmende Gegensätzlichkeit der inneroppositionellen Ansichten aufzeigte. Die im Vergleich zur Bürgerbewegung weniger radikale national-populistische Opposition wuchs 1987/88 zur landesweiten Bewegung. Mit dem wirtschaftlichen Niedergang am Ende der »Kádár-Ära« (von etwa 1980 bis 1988) waren auch innerhalb des Staatsapparates und der herrschenden KP kritische (»reformkommunistische«) Strömungen entstanden (um 1987 Verbindungsaufnahme zur populistischen Opposition, u. a. Treffen von Lakitelek); ab 1988/89 gewannen die Reformkommunisten die Führung. Der KP-interne Reformflügel um I. Poszgay und R. Nyers (die auch Mitglieder der im September 1988 gegründeten, am Club of Rome orientierten Bewegung »Neue Märzfront« waren) leitete die innerhalb des Ostblocks zunächst radikalste Umgestaltung des politischen und wirtschaftlichen Systems ein (ab 2. 5. 1989 Abbau der Grenzsperranlagen zu Österreich, am 10./11. 9. Öffnung der Grenzen für den Massenexodus Ausreisewilliger aus der DDR). Zwischen Januar/Februar und Oktober 1989 kam es zum schnellen Übergang zum politischen Pluralismus; ihn begleiteten zahlreichen Massendemonstrationen: u. a. am 15. 3. 1988 in Budapest für Versammlungs- und Pressefreiheit, am 27. 6. 1988 gegen die Unterdrückung der Rumänienungarn, im Oktober 1988 zum Jahrestag des Volksaufstandes von 1956 (am 2. 10. Amnestie für die Opfer), am 16. 6. 1989 (»Tag der nationalen Versöhnung«) beim postumen Staatsbegräbnis für I. Nagy. Erste Streiks fanden statt, z. B. am 23. 8. 1988 bei Fünfkirchen (Streikrecht am 23. 3. 1989 gesetzlich verankert). Vom 13. 6. bis 19. 9. 1989 führten die wichtigsten Gruppen der Bürgerbewegung mit Vertretern der USAP und der staatlichen Massenorganisationen Gespräche am »Runden Tisch«, die mit der Einigung auf die Durchführung freier Wahlen im Frühjahr 1990 endeten. Die Vielzahl der in der Bürgerbewegung entstandenen Gruppierungen ging in den zahlreichen 1988/89 neu gegründeten Parteien und politischen Vereinigungen auf (legalisiert nach dem Koalitionsgesetz vom 11. 1. 1989): Verband Junger Demokraten (14. 5. 1988; Jungdemokraten), Gewerkschaft Demokratischer Wissenschaftler (14. 5. 1988), Ungarisch Demokratisches Forum (Lakitelek 3. 9. 1988; breites heterogenes Bündnis der »Populisten«), Bund Freier Demokraten (13. 11. 1988; aus dem bisherigen Koordinierungsorgan der unabhängigen Gruppen »Netzwerk Freier Initiativen«), Unabhängige Partei der Kleinlandwirte (18./19. 11. 1988; Erstgründung 1909) sowie »Komitee für Historische Gerechtigkeit« (1956er), Demokratische Liga unabhängiger Gewerkschaften (19. 12. 1988; Dachverband inoffizieller Arbeitnehmerorganisationen), unabhängige Gewerkschaft »Arbeiter-Solidarität« (25. 2. 1989) u. a.
In der DDR forderten nach der Zerschlagung verschiedener fundamentaloppositioneller (bürgerlicher, studentischer u. a.) Widerstandsgruppen, der Verfolgung der »Jungen Gemeinde« und dem gescheiterten Aufstand vom Siebzehnten Juni 1953 seit den 60er-/70er-Jahren besonders einzelne intellektuelle Regimekritiker (z. B. der unter Hausarrest gestellte R. Havemann und W. Biermann [bis zu seiner Ausbürgerung 1976]) vehement die Beachtung der Bürgerrechte. Mitte/Ende der 70er-Jahre formierte sich deutlicher ein zumeist intellektuelles und jugendliches, systemkritisch und reformerisch eingestelltes Protestpotenzial, das sich der Verschleierung der gesellschaftlichen Defizite durch die SED-Propaganda entgegenstellte und die Durchsetzung elementarer Bürgerrechte einklagte. Als - entgegen der nach außen betonten »Friedenspolitik« und Dialogbereitschaft der DDR - Militarisierung und innenpolitische Dialogverweigerung (z. B. 1978 Einführung des Wehrkundeunterrichts trotz Widerstandes der Kirchen) anhielten, aber auch die verfehlte Wirtschafts- und Umweltpolitik sowie der gesellschaftliche Verfall (u. a. deutlich sichtbar an dem der Citybereiche der Städte) immer offensichtlicher wurden, entstanden verschiedene unabhängige und sich später auch thematisch profilierende alternative Friedens-, Umwelt-, Dritte-Welt- (u. a. »Hoffnung Nicaragua«) und Menschenrechtsgruppen, die sich zunächst v. a. als Teil einer »unabhängigen Friedensbewegung« begriffen. Engagiert, oft unter Einschränkung beziehungsweise Aufgabe ihrer beruflichen Karriere, formulierten ihre Mitglieder mit Mitteln des zivilen Ungehorsams den Bürgerprotest: (kirchliche) Friedenswerkstätten, Ökoseminare, Mahnwachen, Friedensdekaden und -gebete beziehungsweise Fürbittgottesdienste u. a. öffentlichkeitswirksame Aktionen wie z. B. der »Berliner Appell« von Havemann und R. Eppelmann (»Frieden schaffen ohne Waffen«, 1982) für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa und u. a. Abschaffung des Wehrkundeunterrichts, die Bewegung Schwerter zu Pflugscharen (mit Umschmiedeaktion von F. Schorlemmer 1983). Schon 1979 hatte Pfarrer Christoph Wonneberger (* 1944) in Dresden die landesweite Initiative »Sozialer Friedensdienst« gegründet, um besonders die Forderung der evangelischen Jugend nach einer Alternative zum Wehrdienst aufzunehmen (Sommer 1981 vom Staat endgültig zurückgewiesen). Am 13. 2. 1982 kam es zur ersten nichtstaatlich organisierten Massendemonstration in Dresden. Die 1985 u. a. von B. Bohley, Gerd Poppe (* 1941; mit anderen auch Koordinator zur osteuropäischen Opposition), Ulrike Poppe (* 1953), Wolfgang Templin (* 1948) und Werner Fischer (* 1950) gegründete »Initiative Frieden und Menschenrechte« (Abkürzung IFM) war die erste größere Organisation außerhalb des direkten Schutzes der evangelischen Kirche, die im Samisdat auch über Publikationsorgane verfügte (»Kontakte«, »grenzfall«). Unter dem Eindruck der starren Ablehnung der Reformpolitik von Gorbatschow durch die SED wuchs die v. a. demokratisch, ökologisch und sozial, aber kaum reformökonomisch orientierte Bürgerbewegung; es entstanden neue Arbeitskreise sowie übergreifende Vernetzungen und Dachverbände (u. a. schon 1982 das Netzwerk »Frauen für den Frieden«, 1986 die »Umweltbibliothek« an der Zionskirchgemeinde Berlin, das Netzwerk »Frieden konkret« und die Gruppe »Menschenrechte« in Leipzig, 1988 das »Netzwerk Arche« und die Arbeitskreise »Gerechtigkeit« und »Hoffnung«). Mit verstärkter Repression antwortete der »vormundschaftliche Staat« (so im Titel einer im Frühjahr 1989 publizierten Analyse von Rolf Henrich [* 1944]) auf die empfundene Bedrohung durch die zunehmend Öffentlichkeit suchende Bürgerbewegung; Teilnehmer am internationalen »Olof-Palme-Friedensmarsch« beziehungsweise parallel durchgeführten Gedenkmärschen (1987), am 1. »Pleißegedächtnismarsch« in Leipzig (1988) beziehungsweise am Schweigemarsch zur Leipziger Messe (März 1989) u. a. Protestaktionen waren Angriffen der Staatsmacht (v. a. der Stasi [MfS]) ausgesetzt, die bald auch zur Planung von »Internierungen« überging. Zum Signal wurde die Verhaftung von etwa 120 Personen, Mitglieder von Bürgerrechtsgruppen (»Kirche von unten«, IFM; u. a. Freya Klier [* 1950], Stefan Krawczyk [* 1955], Vera Wollenberger [* 1952; Name seit 1992 Lengsfeld], Fischer, Bohley, Templin), am Rande der staatlichen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 17. 1. 1988, nachdem sie die Freiheit der anders Denkenden (Rosa Luxemburg) und die Beachtung der Bürgerrechte gefordert hatten. Nach einer Veranstaltung in der Leipziger Nikolaikirche am 19. 2. 1988 zu »Leben und Bleiben in der DDR«, die sich besonders der Probleme der Ausreiseantragsteller annahm, stieg die Zahl der Teilnehmer der 1980/81 begründeten und seit 13. 9. 1982 unter inhaltlicher Verantwortung verschiedener kirchlicher Basisgruppen stattfindenden montäglichen Friedensgebete erheblich (wichtige Mitorganisatoren: die Pfarrer Christian Führer [* 1943] und Wonneberger [seit 1985 in Leipzig]). Mit der offensichtlichen Manipulierung der Kommunalwahlen vom 7. 5. 1989 wuchsen Wut, Enttäuschung und Unwillen der DDR-Bürger. Angesichts der Sprachlosigkeit und Handlungsunfähigkeit der SED-Führung gegenüber der Fluchtbewegung seit Sommer 1989 über Ungarn sowie die BRD-Botschaften in Prag und Warschau fanden Forderungen v. a. nach Meinungs-, Versammlungs- und Reisefreiheit innerhalb von wenigen Wochen in der DDR-Bevölkerung enormen Widerhall. Die Ausweitung der Friedensgebete in der Leipziger Nikolaikirche, neben der Gethsemanekirche in Berlin (Ost) und der Kreuzkirche in Dresden eine der frühen bedeutenden Stätten der friedlichen »Herbstrevolution«, zu anschließenden Massendemonstrationen ab 4./25. 9. 1989 führte bald zu ähnlichen, am 7./8. 10. von der Staatsmacht noch brutal bekämpften friedlichen Demonstrationen in der gesamten DDR, u. a. am 4.-8. 10. in Dresden, am 7./8. 10. in Berlin (Ost); ihren Wendepunkt fanden sie am 9. 10. 1989 in Leipzig. Als neue, landesweite Vereinigungen der Bürgerbewegung entstanden am 11./19. 9. 1989 das Neue Forum (Abkürzung NF; u. a. J. Gauck, J. Reich), »Demokratie Jetzt« (12. 9.; u. a. K. Weiss, Hans-Jürgen Fischbeck [* 1938] und W. Ullmann; am 10. 10. 1989 Veröffentlichung von »Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR«) sowie »Demokratischer Aufbruch« (1. 10. 1989; u. a. R. Eppelmann, Schorlemmer, Wolfgang Schnur [* 1944; im März 1990 als MfS-Mitarbeiter enttarnt, 1996 verurteilt]), die sich zum Teil später im Bündnis 90 zusammenschlossen. Nach einem illegalen Initiativaufruf vom 24. 7. wurde am 7. 10. 1989 die Sozialdemokratische Partei (Abkürzung zunächst SDP; u. a. M. Meckel, Martin Gutzeit [* 1952], Steffen Reiche [* 1960], Ibrahim Böhme [*1944; 1990 als MfS-Mitarbeiter enttarnt]) neu gegründet; unter Ausgliederung aus dem Neuen Forum entstand am 24. 11. 1989 die »Grüne Partei« der DDR (u. a. Wollenberger). Diese neuen Organisationen wurden von der schnell wachsenden Massenbewegung an ihre Spitze geschoben. Ein Höhepunkt war die von Künstlern organisierte Demonstration von mehr als 500 000 Menschen am 4. 11. 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin (Ost). Mit ihrer großen Resonanz in der DDR-Bevölkerung, die im Herbst 1989 den Mut zu ihrer »Selbstbefreiung« fand, erreichte die Bürgerbewegung eine Bedeutung, die sie zum Wegbereiter jener »nationaldemokratischen Revolution« machte, die schließlich - unabhängig von den Vorstellungen der Bürgerbewegung - in die Wiederherstellung der deutschen Einheit (3. 10. 1990; deutsche Geschichte) mündete. In diesem Prozess waren die Vertreter der Bürgerbewegung v. a. führend an der Auflösung des MfS und der Sicherung seiner Aktenbestände beteiligt.
In den anderen Ländern
wurde die Bürgerbewegung zunächst ebenso v. a. von wenigen politisch engagierten Intellektuellen und Dissidentenkreisen getragen. In Bulgarien hatte der Philosoph S. Schelew schon 1967 eine Analyse des totalitären Staates verfasst, die zunächst als Manuskript illegal verbreitet wurde, seit 1970 unter dem weniger verfänglichen Titel »Der Faschismus« im Samisdat und 1982 legal erschien, aber sofort der Zensur unterworfen wurde. Mit ihrer Kernthese der totalen Vereinnahmung der Bevölkerung in der organisierten Gesellschaft faschistischer und kommunistischer Prägung erlangte sie große Bedeutung für die Entwicklung freien Denkens (die Publikation einer 1986 vorbereiteten Übersetzung ins Chinesische wurde in China verhindert). Die verstärkte staatliche Zwangsbulgarisierung der Minderheit der Pomaken (ab den 70er-Jahren) beziehungsweise Bulgarotürken (ab 1982) führte v. a. ab Frühjahr 1989 zum Massenexodus in die Türkei (bis zur Schließung der Grenzen durch die Türkei am 17. 8. 1989; vom 20. 5. bis bis 27. 5. schwere Unruhen in den Siedlungsgebieten der Bulgarotürken). Im November 1988 begründeten Blaga Dimitrowa, Schelew u. a. den »Diskussionsklub zur Unterstützung für Glasnost und Perestroika in Bulgarien«, der sich als eine der ersten demokratischen Oppositionsgruppen im Land etablierte; eine unabhängige Umweltgruppe »Öko-Glasnost« (bulgarisch »Eko-Glasnost«) entstand. Nachdem am 11. 2. 1989 Künstler und Intellektuelle die erste unabhängige Gewerkschaft (Podkrepa Unabhängige Arbeiterkonföderation) gegründet hatten, kam es am 2. 11. zur Bildung eines Helsinki-Komitees. Am 7. 12. 1989, nach dem durch Massenproteste erzwungenen Rücktritt T. Schiwkows (10.-17. 11.), initiierten verschiedene unabhängige Gruppen die Gründung eines oppositionellen Dachverbandes (»Union Demokratischer Kräfte«, Abkürzung UDK; »Urzelle« war »Eko-Glasnost«); nach den Wahlen vom 13. 10. 1991 wurde die UDK Regierungspartei (bis Dezember 1994).
In Rumänien, dem Ostblockland mit der ab den 70er-Jahren krassesten Missachtung beziehungsweise Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte, waren besonders die Minderheiten der Rumäniendeutschen und Rumänienungarn sich steigernder Diskriminierung sowie nationaler Unterdrückung unterworfen. Höhepunkt wurde im Frühjahr 1988 die forcierte Zwangsassimilierung nach dem »Dorfsystematisierungsplan« (im Februar 1983 als Plan der Schaffung neuer Siedlungen um »städtische Agrarindustrie-Komplexe« bekannt gegeben; erste Überlegungen zur Zerstörung von etwa 7 000 der 13 000 Dörfer in ihren Siedlungsgebieten gab es schon 1967 und 1971). Während die Rumäniendeutschen häufig die Abwanderung nach Deutschland (oft per Freikauf durch die Bundesrepublik Deutschland) als einzigen Ausweg sahen, forderte im Untergrund eine Dissidentengruppe um die Samisdat-Zeitschrift »Kontrapunkte« (1981-83) gesicherte Rechte für die Rumänienungarn; sie wurde verfolgt und aufgelöst. Ab Mitte der 80er-Jahre, unter dem Eindruck der Politik Gorbatschows, kritisierten einige Schriftsteller offen das neostalinistische Regime, u. a. Herta Müller, R. Wagner und M. Dinescu. Am 15. 11. 1987 kam es zu einer ersten Demonstration von Studenten und Arbeitern in Kronstadt (1988 am Jahrestag Demonstrationen von Menschenrechtsorganisationen in West- und Osteuropa). Am 13. 3. 1989 wurde ein offener Brief ehemaliger führender KP-Politiker zur Verletzung der Menschenrechte bekannt (nach der deutlichen Rüge der UN-Menschenrechtsorganisation am 9. 3.). Ab 1986 war der Rumänienungar L. Tökés als Pfarrer der reformierten Kirche in Temesvar engagiert gegen die Zerstörungen der Dörfer und für die Wahrung der Menschenrechte eingetreten; seine am 15. 12. 1989 geplante Verhaftung wurde trotz des Verrats seiner eigenen Kirche zum Signal gewaltfreien Widerstandes. Eine Demonstration von Rumänienungarn, -deutschen sowie Rumänen gegen seine Zwangsdeportation führte zum Ausbruch von Bürgeraufständen gegen das Ceauşescu-Regime (ab 16. 12. in Temesvar, ab 17. 12. in Arad; dann in vielen anderen Städten Streiks und Demonstrationen, am 21./22. 12. Volksaufstand in Bukarest). Diese Aufstände mündeten trotz ihres zunächst blutigen Verlaufs schließlich, nach dem Übertritt von Teilen der Armee auf die Seite der Bevölkerung, in den Sturz N. Ceauşescus (22. 12.) und seine Hinrichtung (25. 12.). Die Wiederherstellung der Bürgerrechte wurde v. a. von der - bald oppositionellen - wieder gegründeten »Nationalen Bauernpartei« (gegründet 1867, verboten 1947, wieder gegründet 26. 12. 1989; v. a. C. Coposu) und der »National-Liberalen Partei« (gegründet 1876, verboten 1948, wieder gegründet 31. 12.) eingefordert. Wegen der »unvollendeten Revolution« traten 1990 unter dem Vorwurf, von Ceauşescu reglementierte Angehörige der ehemaligen Nomenklatura hätten die Ergebnisse des Dezemberaufstandes »gestohlen«, neue Oppositionsgruppen in Erscheinung (u. a. »Bürgerallianz«, »Gesellschaft von Temesvar«), die sich alle später in dem Wahlbündnis »Demokratische Konvention« zusammenschlossen. Massendemonstrationen, v. a. im Juni/Juli 1990, führten wiederholt zu Verhaftungen von Bürgerrechtlern.
Die Bürgerbewegung in China, die mit der militärischen Niederschlagung von antimaoistischen Massendemonstrationen in Peking (29. 3.-5. 4. 1976) sowie in anderen Städten und anschließenden Repressalien gegen viele Beteiligte (Verhaftung Tausender, Durchführung von Schauprozessen) einen schweren Schlag erlitt, lebte während einer kurzen innenpolitischen Lockerung 1978/79 erneut auf, als der Kreis um den Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping die Ereignisse von 1976 zur »revolutionären Volksbewegung« aufwertete und damit erneut den Anstoß für basisdemokratische Bestrebungen gab (ab November 1978 zahlreiche regimekritische Manifestationen von Intellektuellen und Arbeitern v. a. auf Wandzeitungen an der Pekinger »Mauer der Demokratie«, im Januar 1979 unter Führung der Arbeiterin Fu Yuehua [* 1945] Demonstration von Bauern für die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, Gründung von Bürgerrechtsgruppen wie dem »Schwurbund für Bürgerrechte« und der »Allianz für Bürgerrechte«, Herausgabe eigener Zeitschriften). Im Frühjahr 1979 setzte die KP-Führung dieser rasch um sich greifenden Bewegung ein Ende. Im April 1979 verhaftete man mehrere Dissidenten, darunter Wei Jingsheng (* 1950) der in Anlehnung an den 1978 offiziell verkündeten Kurs der »Vier Modernisierungen« (in Industrie, Landwirtschaft, Militär und Wissenschaft) eine »Fünfte Modernisierung«, die Demokratisierung Chinas, gefordert hatte und zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde (im September 1993 vorzeitig entlassen, am 1. 4. 1994 erneut in Polizeigewahrsam genommen und im Dezember 1995 - wegen angeblicher »Verschwörung zum Sturz der Regierung« - zu weiteren 14 Jahren Gefängnis verurteilt, seit 1997 im Exil). Als es zur Jahreswende 1986/87 in 22 chinesischen Städten zu Studentenprotesten kam, deren führender Kopf der Astrophysiker Fang Lizhi (* 1936) war, machte die KP-Führung dafür die »bürgerliche Liberalisierung« verantwortlich und richtete im Januar 1987 per Staatsratsbeschluss eine zentrale Behörde für die Überprüfung der Linientreue des Presse- und Publikationswesens ein. Ihren Höhepunkt erreichte die chinesische Bürgerbewegung mit der von Studenten ausgelösten, bald aber auch von anderen Bevölkerungsteilen mitgetragenen Demokratiebewegung von 1989. Die kurz nach dem Tod Hu Yaobangs am 17. 4. 1989 in Peking beginnenden studentischen Proteste entwickelten sich bald zu Massendemonstrationen (Mitte Mai etwa eine Mio. Teilnehmer) für Freiheit und Demokratie auf dem »Tiananmen-Platz« (»Platz des Himmlischen Friedens«) und griffen auch auf zahlreiche andere Großstädte über, wurden aber, nachdem sich die orthodoxen Kräfte in der KP-Führung gegenüber dem auf Vermittlung bedachten Generalsekretär der Partei Zhao Ziyang durchgesetzt hatten, in der Nacht vom 3. zum 4. 6. 1989 in einer blutigen Militäraktion gewaltsam beendet, die zahlreiche Todesopfer forderte. Das Massaker in Peking löste in anderen Großstädten (u. a. in Shanghai, Nanking, Wuhan, Changchun) Bevölkerungsproteste aus, die ebenfalls mit Waffengewalt unterdrückt wurden. Die nachfolgende »Säuberungswelle« (Verhaftung Zehntausender Menschen, Verhängung zahlreicher Todesurteile) schwächte die Bürgerbewegung in erheblichem Maße; soweit ihre Aktivisten sich der staatlichen Verfolgung entziehen konnten, mussten sie in den Untergrund gehen oder ins Ausland fliehen, wo verschiedene, allerdings uneinige chinesische Exil- und Oppositionsgruppen tätig sind (v. a. die 1983 in New York gegründete »Chinese Alliance for Democracy«). Zu den neben Wei Jingsheng bekanntesten chinesischen Dissidenten zählen Chen Ziming und Wang Dan, die beide zu den Führern der Demokratiebewegung von 1989 gehörten und nach - zeitweiliger Freilassung - 1995 erneut inhaftiert wurden. Die Führung der Volksrepublik China ging seit Ende der 80er-Jahre stets mit drakonischen Strafen selbst gegen kleinste Aktivitäten der Bürgerrechtler und Dissidenten und verbot sogar die spirituelle Bewegung Falun Gong; eine Bürgerbewegung auf breiterer Basis konnte sich deshalb seit dieser Zeit nicht mehr entwickeln.
Polit. Kultur, Nationalitäten u. Dissidenten in der Sowjetunion, hg. v. G. Bunner u. H. Herlemann: (1982);
J. Holzer: Solidarität. Die Gesch. einer freien Gewerkschaft in Polen (a. d. Poln., 1985);
R. Medvedev: On Soviet dissident. Interviews with Piero Ostellino, hg. v. G. Saunders (a. d. Ital., Neuausg. New York 1985);
Die Rolle oppositioneller Gruppen am Vorabend der Demokratisierung in Polen u. Ungarn (1987 bis 1989), hg. v. A. Smolar u. P. Kende (1989);
U. Thaysen: Der Runde Tisch oder wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie (1990);
Von der Illegalität ins Parlament. Werdegang u. Konzepte der neuen B.en, hg. v. H. Müller-Enbergs u. a. (21992);
D. Beyrau: Intelligenz u. Dissens. Die russ. Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985 (1993);
Freunde u. Feinde. Friedensgebete in Leipzig zw. 1981 u. dem 9. Oktober 1989. Dokumentation, hg. v. C. Dietrich u. U. Schwabe (1994);
Die Entzauberung des Politischen. Was ist aus den politisch alternativen Gruppen der DDR geworden?, Beitrr. v. H. Findeis u. a. (1994);
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Universal-Lexikon. 2012.