Janis Joplin
Leben auf der Überholspur
Janis Joplin ging als »Queen of Rock« in die Annalen ein und widerlegte als Erste in dem von Männern dominierten Rockbusiness die weit verbreitete Ansicht, Frauen seien nur als Backgroundsängerinnen oder Groupies einsetzbar. Ihr Leben auf der Überholspur ist dem Schicksal ihres Zeitgenossen Jim Morrison nicht unähnlich. Auch sie wollte als Künstlerin und Bluessängerin ernst genommen und nicht als Hippie-Ikone abgestempelt werden. Wie dieser reagierte sie aggressiv und provokant obszön auf die ihr scheinheilig erscheinenden moralischen Normen der schweigenden Mehrheit und flüchtete in Drogen, als sie erkannte, dass sie zur Galionsfigur einer Jugendrevolte geworden war, der sie sich eigentlich längst entwachsen fühlte. Und wie der Sänger der »Doors« erlebte sie drogenbedingt den Erfolg ihres meistverkauften Albums nicht mehr.
Rebellische Jugend: Flucht nach San Francisco
Janis Joplin wurde am 19. Januar 1943 in Port Arthur, Texas, als Kind wohlhabender Eltern geboren. Sie wuchs in einer intakten Familie mit zwei Geschwistern auf und zeigte schon früh vielseitiges künstlerisches Talent. Akne und Babyspeck machten ihr in der Pubertät zu schaffen, zur Außenseiterin wurde sie jedoch hauptsächlich dadurch, dass ihr die Werte und Vorurteile der konservativen texanischen Gesellschaft fremd blieben. Sie konnte nichts anfangen mit Pat Boone, Dick Clark und all den anderen Teenageridolen der frühen 60er-Jahre und beschäftigte sich stattdessen intensiv mit Bluesinterpreten wie ihrem großen Vorbild Bessie Smith und den Poeten der Beatgeneration wie Jack Kerouac und William Burroughs. Janis Joplin war nicht besonders attraktiv und kleidete sich obendrein betont unfeminin. Sie galt als Intellektuelle und - weil ihr der übliche Rassismus fremd war - als »Niggerlover«. Viel mehr konnte eine Frau in den Augen der White Anglo-Saxon Protestants (WASP) nicht falsch machen. Im letzten Jahr an der Highschool schloss sie sich einer Clique von Beatniks an, mit der sie erste Alkoholexzesse erlebte und Ausflüge in die Jazz- und Bluesspelunken von New Orleans unternahm. Ihr Verhältnis zum Elternhaus war schon mehr als problematisch, als sie 1962 mit dem Studium der Kunstwissenschaften an der Universität von Austin, Texas, begann. Auch hier wurde sie sofort als Freak abgestempelt. Obwohl erste Auftritte in den Folk- und Bluesklubs der Stadt, bei denen sie sich selbst mit der akustischen Gitarre begleitete, relativ erfolgreich verliefen, hatte sie die Nase voll von Austin und Texas, nachdem sie 1963 im Rahmen einer Semesterfeier zum »hässlichsten Mann der Universität« gekürt wurde. Sie brach ihr Studium ab, beschloss Sängerin zu werden und ging nach San Francisco, wo sie sich mit Soloauftritten mühsam über Wasser hielt. Ihr Drogenkonsum nahm dabei derart erschreckende Ausmaße an, dass sie sich vorübergehend wieder in den Schoß der Familie flüchtete. Als jedoch Chet Helms, einer ihrer Freunde aus San Francisco und Manager der Rockgruppe »Big Brother and the Holding Company«, Anfang 1966 eine Sängerin für die Band suchte, verließ sie Port Arthur für immer und stieg bei einer der Musikkommunen ein, die neben den Gruppen »Jefferson Airplane«, »The Grateful Dead« und »Quicksilver Messenger Service« den frühen San-Francisco-Sound prägten.
Debüt: »Big brother and the holding company«
Die Fusion von Rock, Blues, Folk und psychedelischen Elementen war damals revolutionär, und die auf der Bühne förmlich explodierende Janis Joplin wurde mit ihrer drei Oktaven umfassenden Stimme in kürzester Zeit zu einer der Attraktionen in den Hippie-Hochburgen Fillmore West und Avalon Ballroom. Im August 1966 entstand die schlicht »Big brother and the holding company« benannte Debüt-LP. Dass diese in den meisten Rocklexika unterbewertet wird, liegt vornehmlich daran, dass die wenigsten sie je gehört haben. Im Gegensatz zu den Erstlingswerken der Konkurrenz erschien das Album beim lokalen, kleinen Label »Mainstream«, dessen Vertriebsmöglichkeiten sehr begrenzt waren. Es enthält nicht nur Joplin-Klassiker wie »Down on me«, »Call on me« und »Bye bye baby«, sondern mit »Women is losers« auch eine der ersten Hymnen des Feminismus und braucht sich nach allgemeiner Einschätzung vor »Jefferson Airplane takes off« oder »Grateful Dead I« nicht zu verstecken. Nachdem Janis Joplin im Juni 1967 beim Monterey-Popfestival selbst Otis Redding »die Schau gestohlen hatte«, übernahm Bob Dylans Manager Albert Grossman die Geschäfte der Band, kaufte sie aus dem Vertrag mit Mainstream heraus und versteigerte sie gegen ein jedem Mitglied garantiertes Jahreseinkommen von 100 000 Dollar an CBS/Columbia. Das 1968 erschienene Album »Cheap thrills« wurde zum internationalen Durchbruch für Janis Joplin, die mit fokussierender Dynamik die anderen Mitglieder der Band allmählich zu Statisten zu degradieren drohte. Hier stand eindeutig die Sängerin im Vordergrund, die von einschmeichelndem Gurren ansatzlos in wildes Fauchen verfallen konnte und strapazierten Jazzklassikern wie »Summertime« oder Rhythm-and-Blues-Standards wie »Piece of my heart« und »Ball and chain« neues Leben einhauchte. Die LP, deren Cover den Underground-Comiczeichner Robert Crumb berühmt machte, erreichte Platz 1 der Charts, und Janis Joplin wurde schlagartig zum Superstar der »progressiven« Musik, die Ende der 60er-Jahre den Beatboom ablöste. Revolutionär an »Cheap thrills« war jedoch nicht nur die später nie mehr erreichte aggressive Stimmakrobatik. Die selbstbewusste Forderung nach Sex in »I need a man to love« oder die unverblümten Bekenntnisse zu Alkohol- und Drogenkonsum in Titeln wie »Turtle Blues« waren Themen, mit denen sich seit Mae West keine weiße Frau mehr derart offensiv in Szene gesetzt hatte, und Janis Joplin wurde berüchtigt für ihren Männerverschleiß und die Flasche »Southern Comfort«, die ihre einzige feste Beziehung zu sein schien.
Einsam auf dem Gipfel
Tourneestress, heimlicher Heroinkonsum und das überlebensgroße Image, das Janis, aber nicht die Band, nun besaß, führten mit Unterstützung von Grossman zur nicht sonderlich freundlichen Trennung von Joplin und Big Brother. Der Manager stellte auf Gehaltsbasis eine mit hochkarätigen Studiomusikern besetzte Truppe zusammen, die den Namen »Kozmic Blues Band« verpasst bekam. Obwohl die einzelnen Musiker am Instrument versierter waren als ihre Vorgänger, fand die Band zum Stil ihrer Chefin wenig Bindung, und der Wegfall der früheren demokratischen und familiären Atmosphäre machte sich bemerkbar. Janis Joplin hatte keine Erfahrung darin, eine Band zu leiten, wollte aber auch niemand anderen diese Position einnehmen lassen. Bei den Aufnahmen zur LP »I got dem ol' kozmic blues again, mama« (1969) wurde versucht, das merkwürdig emotionslose Spiel durch den Einsatz von Bläsern aufzuwerten. Das Ergebnis war ein passables, stark am Soul orientiertes Album mit wenigen Höhepunkten und, im Vergleich zu »Cheap thrills«, erstaunlich moderaten, nachdenklichen Aussagen bis hin zum gottesfürchtigen Gospel. Obwohl die Platte mit »Try (just a little bit harder)« und dem introvertierten »Little girl blue« nur zwei überdurchschnittliche Titel bot, verkaufte sie sich gut und erreichte schon aufgrund der mittlerweile erkämpften Spitzenposition in der ersten Liga der amerikanischen Rockacts Platz fünf der amerikanischen LP-Charts. Das relativ geschäftsmäßige Verhältnis zu ihrer neuen Band war im Studio zwar kreativitätshemmend, aber erträglich. Auf Tourneen dagegen schmerzte der Mangel an vertrauten Freunden viel mehr, und die impulsive Spontaneität des einstigen Energiebündels wich zunehmend aufgesetzt wirkender Bühnenroutine. Als auch Prestigegigs wie der Auftritt beim Woodstock-Festival vergleichsweise steif und unbefriedigend verliefen, waren die Tage der Kozmic Blues Band gezählt. Janis Joplins berühmtes Lamento: »Auf der Bühne habe ich Sex mit 25 000 Menschen, danach gehe ich allein nach Hause« war zwar nur Futter für die Presse, denn an Bettgefährten beiderlei Geschlechts herrschte so wenig Mangel wie an Alkohol, Amphetaminen und Heroin, trotzdem beschreibt diese Aussage die tatsächlich empfundene Vereinsamung und das Bedürfnis nach menschlicher Wärme eines ungewollt zur Ikone erhobenen öffentlichen Menschen wohl recht treffend.
Größter Erfolg und Ende
Nach dem Debakel mit ihrer alten Band achtete Janis Joplin bei der Zusammenstellung einer neuen darauf, dass die Musiker auch menschlich zu ihr passten. Die seit Frühling 1970 mit ihr probende »Full Tilt Boogie Band« konnte keine prominenten Namen vorweisen, entwickelte aber mit ihrer Frontfrau wieder die längst verloren geglaubte Spielfreude und Spontaneität der alten Tage. Joplin, die bisher noch keinen ihrer großen Erfolge selbst verfasst hatte und dadurch längst einen unterschwelligen Minderwertigkeitskomplex den anderen Stars der ausgehenden 60er-Jahre gegenüber entwickelt hatte, fühlte sich in der neuen Umgebung so wohl, dass sie quasi über Nacht mit den Eigenkompositionen »Move over« und »Mercedes Benz« gleich zwei Asse aus dem Ärmel schüttelte, als die Aufnahmen zum nächsten Album »Pearl« anstanden. Als Produzent wurde Paul Rothchild verpflichtet, der schon den ersten beiden Alben der »Doors« seinen Stempel aufgedrückt hatte. Zusammen mit ihm sichtete sie angeblich 3 000 Titel namhafter Songschreiber, um weiteres, zu ihr passendes Material herauszufiltern. In euphorischer Atmosphäre wurden Klassiker eingespielt wie »Get it while you can« (»Nimm, solange du was kriegen kannst«), ein Song, der inhaltlich dem »Das-tut-man-nicht«-Zeigefinger der Moralhüter wieder den Stinkefinger entgegensetzte, diesmal allerdings aus der Sicht der abgeklärten, erwachsenen Frau. Neben weiteren Glanzlichtern wie »Cry baby« oder »Half moon«, die eindrucksvoll die Wandlungsfähigkeit und Bandbreite ihrer außergewöhnlichen Stimme belegen und ganz nebenbei demonstrieren, zu welch dynamischer Einheit sie in kürzester Zeit mit ihren Musikern verschmolzen war, findet sich auf »Pearl« mit ihrer Interpretation von Kris Kristoffersons »Me and Bobby McGee« ihr wohl zu Recht berühmtester, weil bewegendster Song, der auch ihre einzige Nummer 1 in den Singlecharts werden sollte. Das Album stand kurz vor der Fertigstellung, als Janis Joplins Leiche in ihrem Zimmer im »Landmark Hotel« in Hollywood gefunden wurde. Es war der 5. Oktober 1970, der Tag, an dem sie »Buried alive in the Blues« (»Lebend begraben im Blues«) über die von der Band bereits eingespielte Instrumentalspur hätte singen sollen. Wie es zur Überdosierung von Heroin kam, ist bis heute ungeklärt. Nach übereinstimmenden Berichten ihrer engsten Vertrauten erlebte die 27-Jährige gerade die glücklichste, optimistischste Zeit ihres Lebens. Vielleicht kam ihr Freund Eric Burdon der Todesursache am nächsten mit der traurigen Einschätzung: »Janis starb an einer Überdosis Janis.« Dass ihre Biografie später als Vorlage für einen Film mit Bette Midler in der Hauptrolle herhalten musste, hätte Janis Joplin vermutlich wenig gestört. Der Titel »The rose« hätte ihr, die sich gern als Dorn im »gesunden Volkskörper« sah, wohl weniger zugesagt.
Universal-Lexikon. 2012.