Akademik

Rassismus
Ras|sịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. Rassenhass
2. Unterdrückung von Menschen anderer Rasse

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Ras|sịs|mus, der; -:
1. (meist ideologischen Charakter tragende, zur Rechtfertigung von Rassendiskriminierung, Kolonialismus o. Ä. entwickelte) Lehre, Theorie, nach der Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen hinsichtlich ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit anderen von Natur aus über- bzw. unterlegen sein sollen.
2. dem Rassismus (1) entsprechende Einstellung, Denk- u. Handlungsweise gegenüber Menschen bzw. Bevölkerungsgruppen mit bestimmten biologischen Merkmalen:
aufgrund von R. (Rassendiskriminierung) benachteiligt werden.

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Rassịsmus
 
der, -, Begriff aus der politischen und sozialen Sprache des 20. Jahrhunderts, der aber auch - nicht unumstritten - zur Bezeichnung bestimmter Erscheinungen von Diskriminierung in früherer Zeit herangezogen wird. Im engeren Sinn kennzeichnet Rassismus die im 19. Jahrhundert ausformulierten Ideologien der Rassenunterschiede und deren unterschiedliche Bewertung natürlich-biologischer Unterschiede von Menschen aus einer distanzierenden, kritischen Perspektive. Seine aktuelle Bedeutung bezieht der Begriff aus der Tatsache, dass die in diesen Ideologien formulierten Vorstellungen bis in die Gegenwart in unterschiedlichen Bezugssystemen und Handlungsfeldern (Fremdenfeindlichkeit, Nationalsozialismus, Antisemitismus, Apartheid, neue Rechte) anzutreffen sind und so immer noch eine scheinbare Legitimation für die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer biologischen Verschiedenheiten darstellen. Der Begriff ist heute gegenüber der damit angesprochenen Praxis und Legitimierung von Ungleichbehandlung, Ausschließung und gegebenenfalls Vernichtung von Menschen kritisch formuliert und zielt auf die Mobilisierung von Gegenpositionen, die sich ihrerseits sowohl auf wissenschaftliche Begründungen als auch auf die Orientierung an Menschenrechten und Aufklärung beziehen.
 
Vor diesem Hintergrund bezeichnet der Begriff Rassismus sowohl Einstellungen (Vorstellungen, Gefühle, Vorurteile) als auch Handlungen, die die Verachtung, Benachteiligung, Ausgrenzung und Unterdrückung bis hin zur physischen Vernichtung von Menschen dadurch legitimieren beziehungsweise in die Tat umsetzen, dass sie eine mehr oder minder willkürliche Auswahl körperlicher Merkmale zu »Rassenmerkmalen« zusammenstellen und diese wertend klassifizieren. Diese Klassifikationen können zur Grundlage und Legitimation vorhandener oder geforderter Ungleichbehandlung (etwa durch Gesetze) herangezogen werden. Durch ihre Verabsolutierung werden unterschiedliche Macht- und Lebenschancen einzelner Menschen oder ganzer Gruppen als Ausdruck natürlicher Ungleichheit interpretiert und gerechtfertigt. Dem angestrebten Ziel, kulturelle, soziale, ökonomische oder politische Über- beziehungsweise Unterordnungsverhältnisse zu schaffen, dienen v. a. institutionelle und gesetzliche Diskriminierungsformen wie die Verteilung des Wahlrechts z. B. nach der Hautfarbe sowie die Beschneidung von Grund- und Menschenrechten (Recht auf freie Wahl des Berufs, des Ehepartners oder des Wohngebiets) auf eben dieser Grundlage.
 
Rassismus setzt einerseits die mit der europäischen Neuzeit verbundenen und im 19. Jahrhundert zu einem scheinbar objektiven wissenschaftlichen Anspruch verdichteten »Rassenforschungen« voraus. Andererseits gibt es in vielen Gesellschaften einen Rassismus im Alltag ohne »wissenschaftlichem« Bezug, der zunächst darin besteht, Menschen, die anders aussehen oder deren von einer »Norm« abweichende Eigenschaften ihrer »Natur« zugeschrieben werden, als Angehörige einer anderen »Rasse« aufzufassen und diese dann geringer zu schätzen als die jeweils eigene Bezugsgruppe. Insbesondere die Hautfarbe wird als unterscheidendes Kriterium herangezogen, obwohl daraus weder genetisch noch kulturell Rückschlüsse auf die »Natur« oder den »Charakter« eines Menschen gezogen werden können. Während das Phänomen, Menschen einer anderen Rasse zuzuordnen und abzuwerten, rassistischen Vorstellungen zufolge »natürliches« menschlicher Verhalten ausdrückt, ist die Wahrnehmung der als fremd aufgefassten Eigenschaften und Verhaltensweisen selbst kulturell bestimmt und wird in der Sozialisation vermittelt. Emotional verstärkend bei der Ausbildung rassistischer Einstellungen wirken sexuelle Vorstellungen und Fantasien in ihrer Widersprüchlichkeit von Begehren und Angst, ebenso eigene soziale Ängste und Aggressionen.
 
 Verwendung des Begriffs
 
Die Bezeichnung Rassismus trat zunächst in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den 1930er-Jahren auf (z. B. M. Hirschfeld). Sie ersetzte den zuvor u. a. im Bereich der Völkerpsychologie und der Soziologie (L. Gumplowicz) gebrauchten Begriff »Rassenhass« und diente in der Folgezeit v. a. der Mobilisierung von Kritik und Gegenwehr gegenüber der besonders mit rassischen Argumenten begründeten Diskriminierungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten. Ausgehend von der Beurteilung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems als »totale Herrschaft« (Hannah Arendt) wurde Rassismus auch als Baustein der seit dem 19. Jahrhundert entstehenden totalitären Ideologien aufgefasst. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand der Begriff weltweite Verbreitung, besonders durch die UNESCO, die den Rassismus ächtete. Die umfassende kritische Aufarbeitung des nationalsozialistischen Terrors und das Aufkommen antikolonialer Freiheitsbestrebungen v. a. in Afrika und Asien sowie die Bürgerrechtsbewegung in den USA, die in den 1960er-Jahren Öffentlichkeit, Bildungssystem und Behörden im Kampf gegen den Rassismus mobilisieren konnte, verstärkten die Aufmerksamkeit gegenüber dem Rassismus. In den 80er-Jahren trat die an den Menschenrechten orientierte Kritik an der Apartheidpolitik in der Republik Südafrika und an der Rassendiskriminierung in anderen Ländern (z. B. in Brasilien) in den Vordergrund. Aber auch die Ausgrenzung und Benachteiligung von Einwanderern, Arbeitsmigranten und anderen Minoritäten in den westlichen Industrieländern (besonders in den USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich und Deutschland) wird unter dem Stichwort Rassismus geführt, ebenso der nach dem Zerfall des Sowjetimperiums in Mittel- und Osteuropa erneut in Erscheinung tretende Antisemitismus.
 
Angesichts der vielfältigen Bezugsmöglichkeiten und der damit gegebenen Gefahr einer »Überdehnung« des Begriffs, der dann zur Bezeichnung jeglicher Art von Diskriminierung oder zur Kennzeichnung aller Arten »weißen«, eurozentrischen Handelns benutzt werden kann, scheint es sinnvoll, den Inhalt des Begriffs Rassismus historisch und sachlich an den Begriff der »Rasse« und seine scheinwissenschaftlichen Konstruktionen zu binden (die allerdings selbst historischen Wandlungen unterliegen und unterschiedlich interpretiert werden müssen). So lässt sich der Rassismus auch als Ideologie von anderen Formen der Aus- und Abgrenzung unterscheiden: Während sich der Fremdenhass auf Menschen von »anderswo« bezieht und Ausländerhass im genauen Sinn an die Modellvorstellung von Nationalstaaten gebunden ist, sind Rassismus und seine Interventionsmuster historisch und systematisch an die Entwicklung, die Begrenztheit und die zerstörerischen Folgen der Rassenvorstellungen der europäischen Gesellschafts- und Wissenschaftsgeschichte gebunden.
 
 Die soziale Funktion des Rassismus
 
Eine Ursache für die starke Verbreitung von Rassismus liegt sicherlich darin, dass er die komplizierten und nur teilweise durchschaubaren Prozesse menschlicher Wahrnehmung und der Einschätzung anderer Menschen unter der Bedingung gesellschaftlicher Interessenkonkurrenz auf die vereinfachende Gleichsetzung einiger gut sichtbarer äußerlicher Merkmale mit komplexen moralischen und psychologischen sowie mit politischen, sozialen, kulturellen und geschichtsphilosophischen Vorstellungen und Werturteilen reduziert. Dabei kann er beliebig an traditionell vorhandene Vorurteile etwa der Völkerpsychologie (Völkertafeln der frühen Neuzeit) anknüpfen, die auch heute noch im Alltagsbewusstsein vorhanden sind und - unter Umständen propagandistisch oder medial geweckt oder verstärkt - Wahrnehmungen und Bewertungen steuern beziehungsweise interpretieren. Insbesondere wenn früher erlernte oder tradierte Orientierungsmuster fragwürdig oder unbrauchbar geworden sind, ermöglicht Rassismus eine eindeutige, wenn auch falsche Orientierung und entbindet den Einzelnen so von der Notwendigkeit, sich weiter um Information und Aufklärung zu bemühen. Daher tritt Rassismus verstärkt in sozialen Krisen auf, v. a. bei Gruppen, die von sozialem Abstieg bedroht oder in ihrem Aufstiegsstreben »fremder« Konkurrenz ausgesetzt sind; auch unvorhergesehene neue gesellschaftliche Erfahrungen oder Aufgabenstellungen begünstigen Rassismus. Da gerade Einwanderer und politische Flüchtlinge häufig hoch motiviert und leistungsfähig sind, greifen die durch diese Konkurrenz von der Gefahr eines Statusentzugs betroffenen sozialen Gruppen auf gleichsam vorkulturelle, also »natürliche« Unterscheidungen zurück. In dieser Hinsicht stellt die Ausbildung des modernen Antisemitismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts den Modellfall für die Funktion des Rassismus in modernen Gesellschaften dar. Nach T. W. Adorno u. a. ist die Neigung zum Rassismus bei Menschen ausgeprägter, die autoritär erzogen wurden und/oder die keine ausgeprägte und zugleich lernfähige Persönlichkeitsstruktur besitzen (»Ichschwäche«). Gerade in Krisenlagen ist es daher von Bedeutung, ob und in welcher Weise rassistische Lösungsmuster von den in einer Gesellschaft tonangebenden Eliten (Bildungseliten, Politiker, Meinungsführer, Medien) vertreten werden.
 
 Rassenbegriff und Ideologie des Rassismus
 
In der frühen Neuzeit bezeichnet der Begriff »Rasse« zumeist eher eine soziale als eine ethnische Differenzierung; so bedeutet im Frankreich des 16. Jahrhunderts Rasse zumeist »edle Abstammung« und spiegelt so v. a. den Versuch, sich im Sinne einer aristrokratischen Selbstdefinition gegenüber anderen, als schlechter bewerteten Gruppen durch die Berufung auf »naturgegebene« Unterschiede abzugrenzen. Der im Rahmen der Naturwissenschaften im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte Rassenbegriff stellt, ebenso wie noch die gegenwärtigen »neutralisierenden« Rettungsversuche des Begriffs im Bereich der Humanwissenschaften (Rassenforschung, Bevölkerungswissenschaft, Humangenetik), immer auch ein Ausblenden der mit der Wortgeschichte schon verbundenen sozial abwertenden Bedeutung dar, sodass dem Begriff selbst bereits eine ideologische Komponente eignet. Eine auf die spätere Rassendiskussion vorausweisende Ausnahme für jene Zeit stellt die im Spanien der Reconquista und der Gegenreformation v. a. gegenüber konvertierten Juden vertretene Forderung nach der »Reinheit des Blutes« dar, die sofort auch zu innergesellschaftlichen Feindbestimmungen herangezogen wurde. Im Anschluss hieran sind für die Entstehung des Rassenbegriffs in Europa und die sich in diesem Zusammenhang ausprägende spezifische Ideologie des modernen Rassismus vier Entwicklungslinien heranzuziehen:
 
1) Die Entdeckungsfahrten zu Beginn der Neuzeit haben eine bis heute global wirksame Struktur der ökonomischen, politischen und sozialen Ungleichheit hervorgebracht, in deren Rahmen sich Rassismus als eine Struktur der kulturellen und individuellen Missachtung darstellt. Neben Fragen etwa danach, ob und wie die neuen Informationen über die »entdeckten« Kontinente und ihre Einwohner in die bisherigen Wissenssysteme vom Menschen und seiner (heils-)geschichtlichen Entwicklung einzufügen seien, bestimmten v. a. ökonomischen und politischen Interessen das Verhältnis der Europäer zu anderen Menschen, wie z. B. die Verbreitung der Sklaverei zeigt. In diesem Zusammenhang tauchte auch die Frage auf, ob es sich bei den Bewohnern der »entdeckten« Kontinente um Menschen in einem europäisch-christlichen Sinn handele. Ein erster Versuch (1666), die Menschenarten zu klassifizieren - noch ohne den Begriff der Rasse zu benutzen und noch ganz in einer religiösen Weltdeutung befangen -, teilte die Menschheit in Anlehnung an das Alte Testament in Japhetiten (Weiße), Semiten (Gelbe) und Hamiten (Schwarze) ein (Georgius Hornius, * 1620, ✝ 1670). Den Begriff der Rasse wendete erstmals 1684 der Arzt und Reisende François Bernier (* 1620, ✝ 1688) auf den Menschen an und sagte sich damit ausdrücklich von der biblischen Tradition und Autorität los. Weitere Klassifikationen, so die von G. W. Leibniz und C. von Linnés »Systema naturae« (1735), ordnen den Menschen ebenfalls in die Natur ein und versuchen mit dem Begriff der Rasse entsprechende Untergruppen zu bestimmen. Charakteristisch für diese Diskussion ist die noch selbstvertändliche Annahme, dass alle Menschengruppen Anteil an einer gemeinsamen Gattung Mensch haben. Damit wurden die antiken und mittelalterlichen Vorstellungen (z. B. Menschen ohne Kopf, Menschen mit Hundezähnen) aus der wissenschaftlichen Erörterung ausgeschieden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich so trotz der bereits in vollem Gange befindliche Versklavung, Ausrottung und Ausbeutung ganzer Völker noch keine deutlich wertende umfassende Hierarchisierung der verschiedenen Menschengruppen durchgesetzt. U. anderen war dafür die Leitvorstellung der biblischen Schöpfungsgeschichte ausschlaggebend, nach der alle Menschen Kinder des Urelternpaars Adam und Eva sein mussten.
 
2) Innerhalb der sich seit dem 18. Jahrhundert wissenschaftlich ausbildenden Anthropologie beschrieb und klassifizierte Linné die Erscheinungsformen der Menschen, die er in den späteren Auflagen der »Systema naturae« um Hinweise zum Sozialverhalten, zur Arbeitsgesinnung und zur moralischen Qualität der verschiedenen Menschengruppen ergänzte. Im Rahmen einer säkularisierten Weltauffassung, in der sowohl der Bezug auf die Bibel als auch die damit herausgehobene Stellung des Menschen in der Schöpfung an Geltung verloren, ging es nun in zunehmend »naturalistischer« Orientierung (Arendt) darum, eine innerweltliche, »naturgemäße« Typologie der Menschen aufzustellen. Damit begann im engeren Sinn die Formierungsphase des Rassismus. Vor dem Hintergrund der globalen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse wurden nun im Rückgriff auf die Fortschrittsvorstellungen der Aufklärung, die geschichtliche und evolutionäre Sichtweise eines J.-B. de Lamarck und die romantische Geschichts- und Kulturphilosophie europäisch »weiße« Deutungsmuster zur Messlatte weltgeschichtlicher und völkerkundlicher Betrachtungen. Christoph Meiners (* 1747, ✝ 1810) ordnete als Erster die Weltgeschichte nach rassischen Kriterien, indem er die Überlegenheit der »tatarischen oder kaukasischen« Stämme zu begründen suchte (1785). Dagegen spielte der Begriff »Rasse« bei den Weimarer Klassikern, namentlich bei dem an fremden Kulturen interessierten J. G. Herder, keine Rolle. Führte von der Aufklärung bezüglich der Gleichheit der Menschen auch ein Weg zur Sklavenbefreiung und zum Antikolonialismus (z. B. in der Négritude) sowie zu den im 20. Jahrhundert nachhaltig wirksam gewordenen Forschungsrichtungen des Kulturrelativismus (F. Boas) und der Kulturökologie (Michael Harris, * 1936), so wurde Meiners' Konzeption - in der erstmals sprachwissenschaftliche Bezeichnungen für die Kennzeichnung von Rassen herangezogen und die Begriffe »Kelten« und »Slawen« gebraucht wurden - grundlegend für das Selbstverständnis der Europäer des 19. Jahrhunderts, die Führungselite der Menschheit zu sein.
 
3) Eigentliche Voraussetzung für die Formierung des Rassismus als Ideologie bildet jedoch der Wissenschaftsglaube des 19. Jahrhunderts Hier setzte zunächst der Fortschritt der Naturwissenschaften, v. a. der Physik und Biologie, den Rahmen, innerhalb dessen auch die Geistes- und Kulturwissenschaften ihr Selbstverständnis ausprägten. Ziel war es, einen nach »Gesetzen« verlaufenden Zusammenhang von Welt-, Natur- und Menschheitsgeschichte aufzuzeigen. Dabei spielten C. Darwins Untersuchungen über die Entstehung der Arten und über die Abstammung des Menschen eine entscheidende Rolle, da sie den Anreiz boten, das Modell der Evolution und des Kampfes ums Überleben auf die Gesellschaft zu übertragen. Dieser Ansatz wurde von H. Spencer, H. Taine und anderen Sozialdarwinisten weiterverfolgt, indem sie den mit ausdrücklichem Verweis auf die Naturwissenschaften beglaubigten Begriff der »Rasse« zur Interpretation historischer, kultureller und sozialer Sachverhalte und Erscheinungen nutzten und damit Rassismus zu einer Leitvorstellung für die Erklärung und Legitimierung von Ungleichheit auf einer vermeintlich naturwissenschaftlichen Grundlage machten. Begleitet wurde dieser Prozess von einem Aufschwung nationaler Bestrebungen. Hier besteht in der Forschung keine Einigkeit, ob der Rassismus als Konkurrent und Feind des Nationalstaatsdenkens (Arendt) oder als eine bereits darin angelegte Weiterentwicklung (Jürgen Micksch, Wolf D. Bukow) aufzufassen ist. Von nachhaltiger Bedeutung war in diesem Zusammenhang die Übertragung sprachwissenschaftlicher Begriffe wie »arisch« und »semitisch« auf angenommene, aber nicht nachgewiesene soziale Gruppen und »nationale« Kollektive.
 
4) Die gesellschaftlichen Entwicklungen zur Moderne: Urbanisierung, Industrialisierung, Mobilisierung, Entfremdung und Traditionsverlust, aber auch Demokratisierung, die in der Ideologie der Zeit u. a. als »Vermassung« wahrgenommen wurden, sollten mit dem Rückgriff auf aristrokratische Sichtweisen kultureller Differenzierung abgewehrt werden; diese konnten nun, »wissenschaftlich« angereichert, selbst als Produkte fortgeschrittener Erkenntnis angeboten werden. Vor dem Hintergrund eines das 19. Jahrhunderts noch durchziehenden Kampfes zwischen bürgerlicher und aristrokratischer Orientierung besaß der Rassismus mit seiner nunmehr auf scheinbar biologischen Gesichtspunkten beruhenden Wertschätzung des Blutes und der erblichen Ausstattung für weitere Kreise besondere Attraktivität, zumal für jene, die sich an Modellen gesellschaftlicher Eliten orientierten beziehungsweise um ihre »nationale« Zugehörigkeit und Anerkennung kämpfen mussten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verbanden sich popularisierte Elemente der Kulturkritik F. Nietzsches, v. a. die Vorstellung eines »Willens zur Macht« und seine Forderung nach Züchtung einer »Herrenrasse«, mit der kulturpessimistischen Zeitdiagnose J. A. de Gobineaus, dessen »Essai sur l'inégalité des races humaines« (4 Bände, 1853-55; deutsch »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen«) als die eigentliche Programmschrift des modernen Rassismus gelten kann. Von einer Bürgerrasse und einer Rasse der Aristokratie ausgehend, sah Gobineau den Niedergang der Kulturgeschichte in der Mischung der auch sozial differenzierten Rassen begründet. Sein Geschichtsbild bot damit die für das anbrechende Zeitalter des Imperialismus passende Ideologie zur Rechtfertigung weltweiter Aggressionen. Für den Rassismus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde schließlich die Adaption der Ideen Gobineaus im antisemitischen Ariermythos durch den in Deutschland lebenden englischen Publizisten H. S. Chamberlain ausschlaggebend, der u. a. direkt auf die antisemitischen Vorstellungen Hitlers wirkte. Auch der in England um die Jahrhundertwende begründeten »Rassenkunde«, den Vorstellungen von »Rassenhygiene« und den »eugenischen« Forschungen lagen rassistische Vorstellungen zugrunde, die dann zur Grundlage staatlichen und individuellen Handelns beziehungsweise Verbrechens wurden. Seine aggressivste Steigerung erreichte dieser Rassismus im Nationalsozialismus, der u. a. in der rassistischen (antisemitischen) Propaganda ein Erklärungsmodell für die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg fand und zugleich an ältere Vorstellungen einer Kolonisierung des »slawischen« Ostens durch ein »arisches« Herrenvolk unter Gesichtspunkten des Rassismus anknüpfte. Wie wenig stringent freilich eine rassische Zuordnung von Menschen überhaupt ist, zeigt sich an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegenüber Sinti und Roma, die dem rassistischen Diskurs zufolge eigentlich als Arier hätten betrachtet werden müssen. Die sichtbaren Resultate einer Vernichtungspolitik, in der mit äußerster Konsequenz Forderungen des Rassismus in die Tat umgesetzt wurden - für die weltweit die Begriffe Holocaust und Auschwitz stehen -, haben den Rassismus nach 1945 nicht nur im deutschen und europäischen Rahmen, sondern auch in außereuropäischen, kolonialen, dann postkolonialen Zusammenhängen diskreditiert. Dies hat allerdings weder rassistische Einstellungen und rassistische Übergriffe verschwinden lassen, noch sind dadurch die Auseinandersetzungen um die Bedeutung des Rassismus bei bestimmten Maßnahmen und Forschungen (z. B. Eugenik, Bevölkerungslehre, Soziobiologie) beendet worden.
 
Neben der historischen Kritik an Sklaverei, Völkermord, Vertreibung und den vielfältigen Formen von Diskriminierung sowie der politisch-moralischen Ächtung des Rassismus in der UNO-Erklärung der Menschenrechte vom 10. 12. 1948 - die die Grundlage der antirassistischen Aktivitäten der UNESCO bilden - steht heute auch die Verwendung des Begriffs »Rasse« in der Wissenschaft selbst zur Diskussion. Denn trotz vielfältiger Versuche ist es nicht gelungen, den Begriff »auf einen wissenschaftlichen exakten, auf objektive Kriterien gestützten Inhalt festzulegen« (J. Delbrück). Unter dem Eindruck umfassender Kritik und sozialer Ächtung des biologischen Rassismus hat sich seit den 1970er-Jahren im wissenschaftlichen und publizistischen Bereich ein »neuer Rassismus« ausgebildet, der nun nicht mehr erbbiologische, sondern verhaltensbiologische Argumente ins Feld führt, etwa der Art, Menschen reagierten »von Natur aus« fremdenfeindlich, oder jede Kultur habe ein »natürliches« Bedürfnis, ihre eigenen Vorstellungen zu realisieren und »fremde« Verhaltensweisen zurückzuweisen. Unter Verwendung demographischer Argumente (Warnungen vor einer »Überfremdung«, Hinweis auf begrenzte Lebensräume) wird eine scheinbar naturwissenschaftliche Begrifflichkeit in den Dienst einer neorassistischen Argumentation gestellt. Für diesen »differenzialistisch-kulturalistischen Rassismus« (Pierre-André Taguieff) gilt der prinzipiell gegen jeden Rassismus zutreffende Einwand so unterschiedlicher Autoren wie A. Gehlen, M. Harris und E. Cassirer, dass es einen Menschen »von Natur aus« gar nicht gibt, dass vielmehr seine besondere Stellung darin liegt, dass er seine »Natur« - durch Kultur und Gesellschaft vermittelt - selbst hervorbringt und dass sich hierin alle Menschen gleich sind. Die Zurückführung der Vielfalt menschlichen Sozialverhaltens auf festliegende und eindeutig bewertbare Gruppeneigenschaften, von denen aus dann bestimmte »Rassen« oder homogene Kulturen erfasst und bewertet werden könnten, wird der komplexen Natur des Menschen als Kulturwesen nicht gerecht. Als zentrale Dimensionen einer Immunisierung gegen Rassismus - etwa im Rahmen antirassistischer Erziehung - gelten positive Erfahrungen individueller und kollektiver Vielfalt und Vielgestaltigkeit und ein diese begleitendes, aus Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung gewonnenes Selbstbewusstsein.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Antisemitismus · Apartheid · Arier · Bürgerrechtsbewegung · Diskriminierung · Eugenik · Fremdenfeindlichkeit · Imperialismus · Nationalismus · neue Rechte · Nürnberger Gesetze · Rassentheorien · Sexismus · Sklaverei
 
Literatur:
 
C. Guillaumin: L'idéologie raciste. Genèse et langage actuel (Den Haag 1972);
 UNESCO: Declaration on Race and Racial Prejudice, in: UNESCO's Standard Setting Instruments, Suppl. 1 (ebd. 1982);
 W. Conze u. A. Sommer: Rasse, in: Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. 5 (1984);
 L. Poliakov u. a.: Über den R. 16 Kapitel zur Anatomie, Gesch. u. Deutung des Rassenwahns (a. d. Frz., Neuausg. 1985);
 P.-A. Taguieff: La force du préjugé. Essai sur le racisme et ses doubles (Paris 1988);
 É. Balibar: Gibt es einen neuen R.?, in: Das Argument, Jg. 31 (1989);
 J. Micksch: Kulturelle Vielfalt statt nat. Einfalt. Eine Strategie gegen Nationalismus u. R. (1989);
 
Theorien über R. Eine Tübinger Veranstaltungsreihe, hg. v. O. Autrata u. a. (2. Tsd. 1989);
 T. A. van Dijk: R. heute. Der Diskurs der Elite u. seine Funktion für die Reproduktion des R. (21991);
 I. Geiss: Gesch. des R. (Neuausg. 1991);
 R. Miles: R. Einf. in die Gesch. u. Theorie eines Begriffs (a. d. Engl., 1991);
 
R. u. Migration in Europa, bearb. v. A. Kalpaka u. N. Räthzel (1992);
 
Projekthandbuch: Gewalt u. R., Beitrr. v. R.-E. Posselt u. K. Schumacher (1993);
 D. Claussen: Was heißt R.? (1994);
 H. Arendt: Elemente u. Ursprünge totaler Herrschaft (a. d. Engl., Neuausg. 14.-17. Tsd. 1995);
 
Histor. R.-Forschung. Ideologen, Täter, Opfer, hg. v. B. Danckwortt u. a. (1995);
 L. u. F. Cavalli-Sforza: Verschieden u. doch gleich. Ein Genetiker entzieht dem R. die Grundlage (a. d. Ital., Neuausg. 1996);
 G. L. Mosse: Die Gesch. des R. in Europa (a. d. Amerikan., 13.-14. Tsd. 1996);
 
R. u. Fremdenfeindlichkeit in Europa, hg. vom Inst. für sozialpädagog. Forschung Mainz (1997).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Antisemitismus: Ein Deutungsversuch
 

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Ras|sịs|mus, der; -: 1. (meist ideologischen Charakter tragende, zur Rechtfertigung von Rassendiskriminierung, Kolonialismus o. Ä. entwickelte) Lehre, Theorie, nach der bestimmte Menschentypen od. auch Völker hinsichtlich ihrer kulturellen Leistungsfähigkeit anderen von Natur aus überlegen sein sollen. 2. dem ↑Rassismus (1) entsprechende Einstellung, Denk- u. Handlungsweise gegenüber Menschen [bestimmter] anderer Rassen (3) od. auch Völker: der offene R. der weißen Regierung, der Nazis; der weiße, schwarze R. (der Rassismus der Weißen, Schwarzen); aufgrund von R. (Rassendiskriminierung) benachteiligt werden.

Universal-Lexikon. 2012.