Wolfram von Ẹschenbach,
mittelhochdeutscher Dichter, * um 1170/80, ✝ um 1220; neben Gottfried von Strassburg und Hartmann von Aue der bedeutendste Vertreter der mittelhochdeutschen höfischen Epik. Obwohl Wolfram in seinem Werk eine Vielzahl von persönlichen und historischen Anspielungen macht, sind nur einige Anhaltspunkte der Biographie gesichert: das fränkische, südöstlich von Ansbach gelegene Wolframs-Eschenbach gilt als seine Heimat; er war wohl Laie und Ritter, wahrscheinlich wenig begütert und - wie die meisten zeitgenössischen Verfasser epischer Dichtung - auf die Unterstützung von Gönnern angewiesen; die Vertrautheit mit der Geographie Frankens, Bayerns, Schwabens und der Steiermark lässt auf seine Reisen schließen. Er nennt den Grafen von Wertheim seinen Herrn und schrieb das fünfte Buch des »Parzival« nach allgemeiner Vermutung auf der Burg Wildenberg bei Amorbach (Munsalvaesche), dem Sitz der Freiherren von Durne. Er weilte auch am Thüringer Hof des bedeutendsten Mäzens mittelhochdeutscher Dichtung, des Landgrafen Hermann I., auf dessen Veranlassung der Willehalm entstand. - Wolfram war in erster Linie Epiker, doch sind unter den neun überlieferten Liedern gerade die fünf Tagelieder Wolframs für die Etablierung dieser Form des Minnesangs in der deutschen Literaturgeschichte von großer Bedeutung. Als sein Hauptwerk gilt der Parzival, das einzige vollendete seiner Epen (etwa 1200-10); der »Willehalm«, ein höfischer Roman aus dem Stoffbereich der französischen Heldendichtung, fällt in die Zeit zwischen 1210 und 1222. Die Titurelfragmente (Titurel) sind wahrscheinlich nach 1217 entstanden. Im Unterschied zur üblichen Form des höfischen Epos, den vierhebigen Reimpaaren, schuf Wolfram hier feierlich wirkende Strophen aus vier Langzeilen (Titurelstrophe).
Wolfram ist unter allen mittelhochdeutschen Dichtern der selbstständigste und eigenwilligste. Ursprünglichkeit des Denkens und schöpferische Originalität zeichnen ihn aus. Die seine Zeit bewegende Frage, wie die Bewältigung der Welt in Einklang mit dem Heil der Seele zu bringen sei, gestaltet er in seinen Romanen mit tiefer, jedoch im engeren Sinn theologisch nicht gebundener Frömmigkeit. Ungewöhnlich für seine Zeit ist das Hervortreten des selbstbewussten künstlerischen Ichs und die subjektive Erzählweise, in der sich Ernst mit Humor verbindet. Seine Sprache, die v. a. bairische und fränkische Züge aufweist (es finden sich auch mitteldeutsche Formen), ist reich an Hintersinnigkeit, Wortschöpfungen, Lehnwortgut aus dem französischen höfischen Vokabular sowie oft schwer verständlichen Bildern und Formulierungen. Gottfried von Strassburg bezeichnete ihn deshalb im »Tristan« als »vinder wilder mære«, der der Deutung bedürfe, während ihn zahlreiche andere Zeitgenossen (z. B. Wirnt von Grafenberg) bereits als den größten Laiendichter (»Laie« im Unterschied zu »clericus«, Geistlicher) rühmten. Die damit verknüpfte Frage seiner Bildung war literaturhistorisch lange Zeit umstritten, ausgehend von Wolframs Aussage im »Parzival«, er könne keinen Buchstaben lesen (115, 27-30) und vom »Willehalm«-Prolog, in dem Wolfram behauptet, aus Büchern nichts gelernt zu haben (2, 19-22). Tatsächlich äußert sich hierin jedoch eine Eindeutschung eines typischen Demutstopos der lateinischen geistlichen Dichtung; Wolfram hatte reiche Kenntnisse der Theologie, der Naturwissenschaften und der Medizin, er kannte wohl u. a. Honorius Augustodunensis (»Imago mundi«, 12. Jahrhundert), Solinus (»Collectanea rerum memorabilium«, 3. Jahrhundert n. Chr.), den »Physiologus«, den »Lucidarius«, Edelsteinbücher u. a. fachliterarische beziehungsweise enzyklopädische Schriften sowie zahlreiche zeitgenössische dichterische Werke; erwähnt sind bei ihm u. a. Heinrich von Veldeke, Hartmann von Aue, Walther von der Vogelweide, Neidhart und das »Nibelungenlied«. Sicher kannte er Gottfried von Strassburg, ließ ihn aber wegen der »Dichterfehde« unerwähnt. Chrétien de Troyes' »Perceval« (um 1180) diente ihm als hauptsächliche Vorlage zum »Parzival«.
Die (literarische) Rezeption Wolframs war bedeutend: Der »Parzival« ist das am besten überlieferte poetische Werk des deutschen Mittelalters. Wolfram beeinflusste u. a. Wirnt von Grafenberg, Heinrich von dem Türlin, den Stricker, den Verfasser der »Kudrun«, etliche Dietrichepen, die Legendenepik (z. B. Reinbot von Durne), die Geschichtsdichtung (z. B. Ottokar von Steiermark, 13./14. Jahrhundert), den »Helmbrecht« von Wernher dem Gartenaere, den Minnesang des Tannhäusers sowie die Spruchdichter Regenbogen und Frauenlob. Der »Willehalm« wurde Mitte des 13. Jahrhunderts von Ulrich von Türheim sowie von Ulrich von dem Türlin weitergedichtet. Albrecht (von Scharfenberg?) setzte in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts den »Titurel« im »Jüngeren Titurel« fort. Auch die Dichtung um Lohengrin griff auf Wolfram zurück. Im Wartburgkrieg (um 1260) erscheint Wolfram als literarische Gestalt und Sieger des Sängerwettstreits, bei den Meistersingern zählte er zu den »zwölf alten Meistern«. 1477 wurde der »Parzival« bei J. Mentelin in Straßburg gedruckt, danach allerdings ging das Interesse an Wolfram mehr und mehr zurück. Erst J. J. Bodmer erinnerte 1753 wieder an den Dichter durch seine Hexameterfassung und seine editorischen Bemühungen um altdeutsche Texte; sein Schüler Christoph Heinrich Müller (* 1740, ✝ 1807) ließ 1784 den ersten Textdruck folgen. Im selben Jahr erschien in Kassel die erste »Willehalm«-Ausgabe von Wilhelm Johann Christian Casparson (* 1727, ✝ 1802), die »Titurel«-Fragmente veröffentlichte erstmals 1810 Bernhard Joseph Docen (* 1782, ✝ 1828). Bis heute grundlegend blieb die kritische Werkausgabe durch K. Lachmann (1833), dessen diesbezügliche Forschungen zugleich auch den Beginn der modernen Wolfram-Forschung markieren.
Ausgaben: Wolfram von Eschenbach, herausgegeben von K. Lachmann (61926, Nachdruck 1988); Wolfram von Eschenbach, herausgegeben von W. Deinert u. a., 5 Teile (5-71961-65); Titurel, herausgegeben von J. Heinzle (1973); Willehalm, herausgegeben von demselben (1991); Parzival, übersetzt von D. Kühn, 2 Bände (1994).
J. Bumke: Die W. v. E.-Forschung seit 1945 (1970);
W.-Studien, hg. v. der W. v. E.-Gesellschaft, Bd. 1 ff. (1970 ff.).
Gesamtdarstellungen, Einzelprobleme und Rezeption: W. v. E., hg. v. H. Rupp (1966);
G. Bonath: Unterss. zur Überlieferung des »Parzival« W.s v. E., 2 Bde. (1970-71);
H. Ragotzky: Studien zur W.-Rezeption (1971);
P. Wapnewski: Die Lyrik W.s v. E. (1972);
B. Schirok: Parzivalrezeption im MA. (1982);
M. Eikelmann: Denkformen im Minnesang (1988);
W. Schröder: W. v. E. Spuren, Werke, Wirkungen, 2 Bde. (1989);
J. Bumke: W. v. E. (71997);
Universal-Lexikon. 2012.