Li|te|ra|tur|so|zio|lo|gie 〈f.; -; unz.〉 Teilgebiet der Soziologie, das sich mit der Wechselwirkung von Literatur u. Gesellschaft befasst
* * *
Li|te|ra|tur|so|zio|lo|gie, die:
* * *
Literatursoziologie,
im Grenzbereich zwischen Soziologie, Literatur- und allgemeiner Kunstwissenschaft angesiedelte Wissenschaftsdisziplin, die sich zunächst mit den sozialen Rahmenbedingungen und mit der sozialen Bedeutung von Literatur beschäftigt, Literatur also als soziales Faktum versteht. Hierzu gehören die sozialen Bedeutungen von Lesen und Schreiben, die soziale Lage von Autoren und Publikum, Buchproduktion, Buchvertrieb, soziale Normen literarischer Kritik und Wertung, Zensur sowie die möglichen Beziehungen zwischen Literatur und Veränderungen im sozialen Bereich.
Literatursoziologie fragt im weitesten Sinne nach der Bedeutung sozialer Gegebenheiten (soziale Erfahrungen, Gesellschaftsbilder, Konfliktvorstellungen, Ideologie) in literarischen Gestaltungen, also auch danach, inwieweit Gestaltung, Kritik und/oder Veränderungen der Gesellschaft zu den Zielvorstellungen beziehungsweise Wirkungen literarischer Werke gehören (z. B. die Funktion und Geschichte der Ständeklausel für die Entwicklung des Dramas).
Die Entstehung der Literatursoziologie ist an die Ausdifferenzierung moderner Kulturwissenschaften seit dem 19. Jahrhundert gebunden und folgt in ihren »Grundströmungen« (H. N. Fügen) den Entwicklungslinien der modernen Sozialwissenschaften, nimmt aber ihrer Grenzlage entsprechend Anregungen und Modelle anderer Disziplinen (philosophische Ästhetik, Kommunikationswissenschaften, Ethnologie, Einzelphilologien, Komparatistik) auf. Ihre spezifischen Fragestellungen setzen ein mit der bürgerlichen Emanzipation im 18. Jahrhundert und dem damit zusammenhängenden Umbruch in der Literatur, ihrem gesellschaftlichen Gefüge und der Reflexion darüber.
Während in der philosophischen Ästhetik die Leitvorstellung einer »autonomen Kunst« und Literatur ausformuliert wurde (z. B. bei I. Kant), trat zugleich neben den bürgerlich-pragmatischen Anspruch, Literatur könne einen Beitrag zur Emanzipation des »Menschengeschlechts« (G. E. Lessing, Schiller) leisten, der zunächst idealistisch und geschichtsphilosophisch geprägte Ansatz, in der Literatur Seelenleben, Geschichte und Kultur der Völker zu erkennen (G. Vico, Voltaire, J. G. Herder).
Alle drei Ansprüche wirkten in der Folge dahingehend zusammen, eine gleichsam autonom verstandene »Institution Kunst« (P. Bürger) zu etablieren, deren Rückbezug, sowohl was die inneren Normen als auch was die Außenwirkung angeht, zur Aufgabenstellung einer Literatursoziologie wurde (A. de Bonald, A. Comte, J. M. Guyau, H. Taine), die selbst wieder zunächst den im 19. Jahrhundert vorherrschenden geistigen Strömungen verhaftet blieb. Fanden sich bei Schiller und v. a. bei den Romantikern (F. Schlegel, G. W. F. Hegel, F. W. J. Schelling) Versuche, Literatur als Ausdruck von Epochenerfahrungen zu sehen, so vertrat die marxsche Geschichtsphilosophie und Gesellschaftsanalyse den Ansatz, Literatur als Teil des ökonomisch determinierten »Überbaus« der jeweiligen Gesellschaftssysteme aufzufassen. Im Anschluss an Marx entwickelte sich Literatursoziologie als Analyse der in literarischen Form dargestellten Ideologien (F. Mehring, G. Lukács, C. Caudwell, A. Gramsci, E. Bloch, L. Goldmann), im Anschluss an É. Durkheim als Analyse symbolischer Repräsentation sozialer Kollektive. Erst die Ausprägungen spezifisch sozialwissenschaftlicher Forschungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg (G. Simmel, M. Weber, K. Mannheim) und die Entwicklung einer eigenständigen Kultursoziologie (E. Rothacker) führten in den 20er-Jahren zu einer Fülle an die Wissenssoziologie und Kulturdiskussion der Zeit anschließender Forschungen zur Literatursoziologie (E. Cassirer, A. Hauser, E. Panofsky, E. Auerbach, E. Kohn-Bramstedt). Zu nennen sind ferner die Untersuchungen zur Geschmackssoziologie von L. L. Schücking und die im marxistischen Sinne auf die Analyse von Klassenkulturen zielenden Darstellungen (G. W. Plechanow, Caudwell, L. Balet, Lukács, Gramsci).
Neben einer empirischen Literatursoziologie, die sich in Orientierung an empirische Sozialforschung und deren positivistischen Wissenschaftsbegriff um eine möglichst detaillierte, aber »wertungsfreie« Erforschung (A. Silbermann) des sozialen Handlungsfeldes Literatur und seiner Akteure bemüht, hat insbesondere die kritische Theorie nachhaltigen Einfluss ausgeübt. Sie betrachtet am literarischen Werk das Spannungsverhältnis aller Kunst zwischen ästhetischer Autonomie und sozialer Wirklichkeit; Kunstwerke erscheinen so als »Statthalter besserer Praxis«, wobei die Verstörungen moderner Kunst als letztmöglicher Ausdruck des Protests gegen die Verwerfungen industriell-kapitalistischer Gesellschaften gedeutet werden (T. W. Adorno, L. Löwenthal, S. Kracauer, W. Benjamin, H. Marcuse). Demgegenüber konnte die im Gefolge der Studentenbewegung erneut in Gang gekommene marxistisch-leninistisch ausgerichtete Literatursoziologie nur zeitbedingte Aufmerksamkeit erlangen. Dennoch war die neuere Diskussion um Literatursoziologie seit den 60er-Jahren als Impuls geeignet, Literatursoziologie als eigenständigen Zugang zu Literatur zu etablieren, was sich in zahlreichen Arbeiten und Sozialgeschichten der Literatur feststellen lässt, denen es nun weniger um die »Ableitung« der Literatur aus sozialen Verhältnissen geht als vielmehr darum, Wechselbeziehungen von literarischen und sozialen Entwicklungen zu erfassen. In der derzeitigen Literatursoziologie finden sich systemtheoretische neben marxistischen, psychoanalytische neben semiotisch-strukturalistischen Ansätzen, die sich in einzelnen Modellen auch wechselweise beeinflussen (M. Foucault, R. Barthes, P. Bourdieu, Julia Kristeva, H. U. Gumbrecht) und zum Teil Forschungsansätze älterer Art wieder aufnehmen.
L. L. Schücking: Soziologie der literar. Geschmacksbildung (31961);
Wege der L., hg. v. H. N. Fügen (21971);
A. Hauser: Kunst u. Gesellschaft (1973);
H. N. Fügen: Die Hauptrichtungen der L. u. ihre Methoden (61974);
J. Scharfschwerdt: Grundprobleme der L. (1977);
P. V. Zima: Kritik der L. (1978);
P. V. Zima: Textsoziologie. Eine krit. Einf. (1980);
Bd. 2: Das bürgerl. Bewußtsein in der Lit. (a. d. Engl., 1981);
A. Silbermann: Einf. in die L. (1981);
G. Lukács: Schriften zur L. (Neuausg. 1985);
Zur theoret. Grundlegung einer Sozialgesch. der Lit. Ein struktural-funktionaler Entwurf, hg. v. R. von Heydebrand u. a. (1988);
T. W. Adorno: Noten zur Lit. (Neuausg. 61994);
P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftl. Urteilskraft (Neuausg. 81996).
* * *
Li|te|ra|tur|so|zi|o|lo|gie, die: Wissenschaft von der Wechselwirkung zwischen ↑Literatur (2) u. Gesellschaft.
Universal-Lexikon. 2012.