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Massenkultur
Mạs|sen|kul|tur, die:
Alltagskultur.

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Massenkultur,
 
Begriff der sozial- und kulturwissenschaftlichen Sphäre, der sich einerseits auf die Tradition der Kulturkritik (»Massengesellschaft«), andererseits auf die sozialen Konsequenzen und Begleiterscheinungen des technischen Fortschritts der Kommunikationsmöglichkeiten (»Massenmedien«, »Massenkommunikation«) bezieht. Wie diese Bedeutungsfelder war der Begriff selbst starken Schwankungen in Bewertung und Bedeutungsbereich unterworfen. »Konjunkturen« hatte er in der Zwischenkriegszeit, in den 1950er-Jahren, in den Jahren nach 1968 und in den 1990er-Jahren, wobei er in den jeweils aktuellen Diskussionen mit unterschiedlichen Akzenten benutzt wurde. Der Häufigkeit des Gebrauchs entspricht eine inhaltliche Unschärfe, die nicht zuletzt dadurch zustande kommt, dass die beiden Wortbestandteile unterschiedlichen Traditionen entstammen und unterschiedliche Bewertungen erfahren haben. »Kultur« gehört gerade in der deutschen Tradition zu den hoch bewerteten Begriffen in der Selbstdefinition eines Menschen beziehungsweise einer Gruppe oder Gesellschaft; »Masse« verweist - mit Ausnahme der sozialistisch-kommunistisch geprägten Idee von den »revolutionären Massen« und ihren entsprechenden kulturellen Bedürfnissen - auf die gesellschafts- und modernitätskritische Tradition der deutschen Kulturkritik seit dem 19. Jahrhundert. In der Folge wurde Massenkultur vornehmlich mit dem »Gesamt der westlichen Industrienationen als massengesellschaftlich organisierte Trivialkultur« (H.-G. Soeffner) verstanden und abgewertet.
 
In einem weiten Sinn dient der Begriff zunächst zur Bezeichnung der von den modernen Industriegesellschaften hervorgebrachten beziehungsweise geprägten Kultur auf der Ebene des Alltags. Sie ist gebunden an deren Marktmechanismen und egalitäre, partizipatorische Tendenzen, die technisch verbesserten beziehungsweise innovatorisch erweiterten Kommunikationsmöglichkeiten und an die Konsumangebote. In einem engen Sinn bezeichnet Massenkultur die durch die Massenmedien und die Werbung geprägte beziehungsweise geschaffene Kultur, wobei Kultur hier enger als Bezeichnung für die durch Medien und Konsumindustrie hergestellten Kulturprodukte gefasst werden kann oder auch die mit diesen Kulturgütern verbundenen Verhaltensorientierungen (Freizeitmuster, Mode, Sprachcodes) ansprechen soll. Auf einer mittleren Ebene wird Massenkultur schließlich als Ausdruck einer durch die Industriegesellschaften hervorgebrachten beziehungsweise geförderten Angleichung der Lebensverhältnisse und Wertorientierungen breiter Bevölkerungsteile verstanden.
 
 Deutungsmuster
 
Konservative Kritiker der Massenkultur wiesen im Anschluss an F. Nietzsche, der als Erster seine Kritik der Moderne auf der Basis einer Kritik der Massenkultur begründet hatte, zunächst v. a. auf die in ihr zum Ausdruck kommenden Nivellierungen hin (H. de Man, E. Morin), während marxistisch beeinflusste Kritiker Massenkultur als Ausdruck gesellschaftlicher Entfremdungs- und Ausbeutungsabsichten deuteten (W. F. Haug). Liberale Kritiker (E. Shils) und im Besonderen semiotisch beziehungsweise poststrukturalistisch orientierte Beobachter (R. Barthes, U. Eco) haben dagegen schon früh auf die innovatorischen, unterhaltenden und spielerischen, ja partizipatorische Elemente der Massenkultur sowie auf das darin zum Ausdruck kommende Orientierungs- und Artikulationsinteresse von Individuen, Gruppen und Bevölkerungsmehrheiten hingewiesen. Eine eigenständige Theorie der Massenkultur hat ihren Ursprung im Umfeld der Frankfurter Schule beziehungsweise der kritischen Theorie; diese stellte einerseits den entfremdeten, instrumentalisierten und auf die Steigerung von Konsum angelegten Charakter der Massenkultur heraus (M. Horkheimer, T. W. Adorno, H. Marcuse), sprach zugleich aber die ihr zugrunde liegenden, mit der Industriegesellschaft verbundenen, wenn auch von ihr nicht realisierten Freiheits- und Selbstverwirklichungspotenziale an (E. Bloch, L. Löwenthal).
 
Solche, analytische und kritische Perspektiven verbindenden Zugänge erlangten in dem Maße mehr Bedeutung, in dem im Laufe des 20. Jahrhunderts ehemals niedrig bewertete beziehungsweise nicht anerkannte Medien und künstlerische Bereiche wie Fotografie, Werbekunst und Design, Comics und Karikaturen, Radio, Film und Fernsehen, Jazz und Popmusik ernsthaft beobachtete Objekte der Kunstkritik und der politisch-gesellschaftlichen Reflexion (S. Kracauer, P. F. Bourdieu) wurden; der Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Jahren nach 1968 trug dazu erheblich bei.
 
Postmoderne Ansätze der Gesellschaftsanalyse beziehungsweise Kulturtheorie sehen in der Massenkultur den Präzedenzfall einer medial erzeugten Wirklichkeit, in der sich die bisher getrennten Sphären »hoher«, »niedriger« und auf einer mittleren Ebene angesiedelter »Unterhaltungs«-Kultur mischen, relativieren und damit zu Neugruppierungen Anlass und Raum geben. Soziologisch wird Massenkultur entweder als Ebene und Ausdruck der Alltagsorientierung von Menschen in fortgeschrittenen Industriegesellschaften und/oder als Resultat und Symbol gesellschaftlicher Differenzierungs- und neu einsetzender Integrations- beziehungsweise Stereotypisierungsprozesse verstanden.
 
 Geschichte
 
Löwenthal sieht Massenkultur als Erscheinungsform der bürgerlichen Kultur selbst, da sie in ihrer individualistischen Orientierung ebenso wie in ihrer Ausrichtung auf Konsum und in ihrer egalisierenden Tendenz deren Grundlagen teile; er setzt daher ihren Beginn ebenso wie den Beginn einer reflexiven Bezugnahme mit den Anfängen bürgerlicher Gesellschaftsordnung und Sozialtheorie beziehungsweise Kulturanthropologie bei M. de Montaigne und B. Pascal gleich. Spätestens mit den Beobachtungen A. de Tocquevilles über die amerikanische Demokratie zu Anfang des 19. Jahrhunderts seien die Existenz und die Funktionen einer »Kultur der Zerstreuung« bereits augenfällig geworden; diese habe dann im Zuge der Entwicklung moderner Industriegesellschaften seit dem 19. Jahrhundert und der besonderen Entwicklung der Massenmedien im 20. Jahrhundert ihren unaufhaltsamen Siegeszug angetreten. Tatsächlich lassen sich in der Geschichte der Massenkultur zwei Entwicklungsstränge isolieren: Der erste betrifft die Entwicklung der Medien zu Massenkommunikationsmitteln, womit die Formierung der Gesellschaft zu einem zwar weiterhin aus Einzelnen (G. Anders: »Masseneremiten«) bestehenden, nun aber zentral ansprechbaren, ja manipulierbaren Publikum verbunden ist; mit diesem Zug zur Uniformierung der Gesellschaft korrespondieren gesellschaftlichen Entwicklungen wie Urbanisierung, Massenkonsum und politische Partizipation, die Auflösung traditioneller Bindungen und Rollenmuster sowie nicht zuletzt die Ausweitung von Bildungschancen und ein Abschleifen entsprechender Bildungsgefälle. Der zweite Entwicklungsstrang umfasst die Herausbildung der modernen Industriegesellschaften, die mit dem Modell gesellschaftlicher Integration über den Arbeitsmarkt, der zeitweisen Herstellung von Massenwohlstand, über neue Rollen- und Familienmuster, über erweiterte Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten und wachsende Mobilität die Voraussetzung zur Individualisierung von Lebenssituationen und zur Auflösung traditioneller Kulturvorstellungen schufen. Erste Ansätze zur theoretischen Erschließung des Phänomens der Massenkultur finden sich außer bei Nietzsche so schon in den Anfängen der Sozialforschung, etwa in T. B. Veblens Theorie der »leisure class« (1899) oder in G. Simmels »Reflexionen über die Bedeutung der Großstädte für das Geistesleben« (1903). Sie beziehen sich darauf, dass in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften bereits vor dem Ersten Weltkrieg neue soziale Gruppierungen, neue Vergesellschaftungsformen (z. B. Großstädte) mit neuartigen Verhaltensstilen und kulturellen Orientierungen in Erscheinung traten.
 
Diese Umstrukturierung der Lebensformen und gesellschaftlichen Gruppen, bedingt durch die Entstehung neuer Schichten mit einer eigenen, weitgehend traditionslosen Kultur, setzte sich in der Zwischenkriegszeit fort und trat v. a. mit dem Phänomen der »Angestellten« und ihren kulturellen Orientierungen (Freizeit, Sport, Automobile, Film und Radio) zutage (Kracauer, 1930). Aus der Sicht des konservativen (Kultur-)Bürgertums ebenso wie aus der Sicht der traditionsorientierten Arbeiter(klasse) und ihrer Theoretiker wurde Massenkultur dabei mit Misstrauen beziehungsweise Abwehr bedacht; es blieb einzelnen Schriftstellern und Künstlern vorbehalten, sich mit den Orientierungen des neuen Publikums und den innovatorischen Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu beschäftigen (W. Benjamins »Hörmodelle«, B. Brechts »Radiotheorie«). Entsprechend verarbeitete der Roman (z. B. A. Döblin: »Berlin. Alexanderplatz«, 1929) die Erfahrungen der Werbesprache, während sich die europäische Avantgarde nicht nur mit Fotografie und Film beschäftigte, sondern auch theoretisch daran ging, die Vorrangstellung der bürgerlichen Kultur und ihres »klassisch« orientierten Kanons zu zerstören.
 
Die Erfahrung des Faschismus und seine bewusst auf die Beeinflussung der »Massen« ausgerichtete Indienstnahme kultureller Muster und des technischen Fortschritts (»Volksempfänger«, »Volkswagen«, »Wochenschau«) führte zunächst zu einem Schock, der die Vorbehalte gegenüber der Massenkultur sowohl aus konservativ elitärer als auch aus marxistischer und liberaler Sicht zu bestätigen schien. In Reaktion auf diese Entwicklung und vergleichbare Erscheinungen im stalinistischen Machtbereich erwuchsen in den USA eigenständige Ansätze zur Massenkommunikationsforschung und die Analyse der Massenkultur aus dem Umfeld der kritischen Theorie. Dabei gingen hier Faschismusanalyse und Kritik der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft eine Verbindung ein, die auch noch die Kritik der Massenkultur nach 1945 und erneut nach 1968 bestimmen sollte. Massenkultur wurde hier v. a. als Medium der Manipulation, der Erzeugung und Befriedigung von Scheinbedürfnissen und als Regressionsmöglichkeit derjenigen Bevölkerungsschichten gesehen, denen die Ausbildung von Selbstbewusstsein und Individualität gesellschaftlich verwehrt beziehungsweise vorenthalten werde. Entsprechend schwer tat sich auch die liberale Kritik nach 1945, namentlich als sich weltweit der Siegeszug des Fernsehens und die Attraktivität des Tonfilms abzeichneten. Gerade durch diese beiden Medien sowie in den 1960er-Jahren durch die Popmusik wurde Massenkultur zu einem globalen Phänomen, an dem nicht nur konservative, sondern auch linksliberale und kommunistische Kritiker Anstoß nahmen. Traten in der US-amerikanische Kritik der Massenkultur der 1950er-Jahre v. a. rückwärts gewandte Idealisierungen in Erscheinung, so trug die Kritik der Massenkultur in Europa vielfach deutlich antiamerikanische Züge, die sich erst im Laufe der (»postmodernen«) 1980er-Jahre und der programmatisch verkündeten Einebnung des Unterschieds von Massenkultur und Hochkultur auflösten.
 
 Perspektiven
 
Für die gegenwärtige Konjunktur der Massenkultur sind zwei gegensätzliche Tendenzen verantwortlich: Zum einen hat die globale Vernetzung der Medien, die partiell mit einer Angleichung von Lebensstilen einhergeht, zu einer faktischen Universalität der Massenkultur geführt (»Soapoperas«; TV- und Musikstars), zum anderen sind ehemals niedrig bewertete Teilgebiete der Massenkultur (Jazz, Comics, Werbung, Design) deutlich aufgewertet worden, sodass ihre Kenntnis und das Interesse an ihnen selbst als Bestandteil kulturellen Kapitals (Bourdieu) angesehen werden können. Hinzu kommen Hinweise darauf, dass sich Massenkultur und Hochkultur keineswegs ausschließen, dass in der »Erlebnisgesellschaft« (G. Schulze) vielmehr ein selektiver Umgang in beiden Bereichen - noch diversifiziert durch unterschiedliche Generations- und Rollenmuster sowie Milieus - den Entwicklungen einer zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung von Lebenslagen und Lebensläufen Rechnung trägt. So scheint Massenkultur vom Gegenstand kritischer Auseinandersetzung zu einem Feld geworden zu sein, auf dem - wie vormals im Bereich der Hochkultur - die grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Auseinandersetzungen stattfinden, gerade auch dann, wenn erneut antimoderne (nationalistische, fundamentalistische) Positionen gegen eine Massenkultur westlicher Provenienz politisch formuliert beziehungsweise formiert werden.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Erlebnisgesellschaft · Kultur · Manipulation · Masse · Massenmedien · Postmoderne
 
Literatur:
 
Mass culture. The popular arts in America, hg. v. B. Rosenberg u. D. Manning White (Neuausg. New York 1964);
 E. Morin: Der Geist der Zeit. Versuch über die M. (a. d. Frz., 1965);
 
Culture for the millions? Mass media in modern society, hg. v. N. Jacobs (Neuausg. Boston, Mass., 1971);
 
Visuelle Kommunikation. Beitrr. zur Kritik der Bewußtseinsindustrie, hg. v. H. K. Ehmer (61975);
 M. Horkheimer: Kritische Theorie. Eine Dokumentation (Neuausg. 1977);
 A. Swingewood: The myth of mass culture (Atlantic Highlands, N. J., 1977);
 
Literary taste, culture and mass communication, hg. v. P. Davison u. a., Bd. 1 (Cambridge 1978);
 W.-F. Haug: Warenästhetik kapitalist. M., Bd. 1 (1980, m. n. e.);
 D. Riesman u. a.: Die einsame Masse (a. d. Amerikan., 124.-126. Tsd. 1982);
 R. Ridless: Ideology and art. Theories of mass culture from Walter Benjamin to Umberto Eco (1984);
 G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde. (4-71985-86, Nachdr. 1994-95);
 B. Henlein: »M.« in der Kritischen Theorie (1985);
 S. Moscovici: Das Zeitalter der Massen (a. d. Frz., Neuausg. 1986);
 
L. May: Screening out the past. The birth of mass culture and the motion picture industry (Neudr. Chicaco, Ill., 1987);
 Daniel Miller: Material culture and mass consumption (Oxford 1987, Nachdr. ebd. 1994);
 
Kultur u. Alltag, hg. v. H.-G. Soeffner (1988);
 L. Löwenthal: Schriften, Bd. 1: Lit. u. M. (1990);
 M. Featherstone: Consumer culture and postmodernism (London 1991, Nachdr. ebd. 1996);
 
Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, hg. v. S. Müller-Doohm u. K. Neumann-Braun (1991);
 
Kulturinszenierungen, hg. v. dens. (1995);
 
Modernity and mass culture, hg. v. J. Naremore u. P. Brantlinger (Bloomington, Ind., 1991);
 P. Willis: Jugend-Stile. Zur Ästhetik der gemeinsamen Kultur (a. d. Engl., 1991);
 
Zw. Angstmetapher u. Terminus. Theorien der M. seit Nietzsche, hg. v. N. Krenzlin (1992);
 
Transkulturelle Kommunikation u. Weltgesellschaft, hg. v. H. Reimann (1992);
 T. Veblen: Theorie der feinen Leute (a. d. Amerikan., Neuausg. 8.-9. Tsd. 1993);
 U. Eco: Apokalyptiker u. Integrierte. Zur krit. Kritik der M. (a. d. Ital., Neuausg. 14.-15. Tsd. 1994);
 M. Horkheimer u. T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Neuausg. 32.-36. Tsd. 1994);
 S. Kracauer: Das Ornament der Masse (61994);
 M. McLuhan: Die mag. Kanäle. Understanding Media (a. d. Engl., Neuausg. 1994);
 F. Dröge u. Michael Müller: Die Macht der Schönheit. Avantgarde u. Faschismus oder die Geburt der M. (1995);
 R. Barthes: Mythen des Alltags (a. d. Frz., Neuausg. 1996);
 W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner techn. Reproduzierbarkeit (221996);
 P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftl. Urteilskraft (a. d. Frz., 81996);
 R. Heinze-Prause u. T. Heinze: Kulturwiss. Hermeneutik. Fallrekonstruktionen der Kunst-, Medien- u. M. (1996);
 G. Marcus: Lipstick traces. Von Dada bis Punk - eine geheime Kulturgesch. des 20. Jh. (a. d. Amerikan., 1996);
 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart (61996).

Universal-Lexikon. 2012.