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Voltaire
Voltaire
 
[vɔl'tɛːr], eigentlich François Marie Arouet [aru̯'ɛ], französischer Schriftsteller und Philosoph, * Paris 21. 11. 1694, ✝ ebenda 30. 5. 1778; Sohn eines wohlhabenden Notars, erhielt eine humanistische Ausbildung im Jesuitenkolleg Louis-le-Grand und gewann zugleich Zugang zu freigeistigen Zirkeln, die ihm das oppositionelle Gedankengut der Frühaufklärung vermittelten. Spottverse auf den Regenten Philippe II. von Orléans, die Voltaire zugeschrieben wurden, brachten ihm 1717 eine elfmonatige Haft in der Bastille ein. Schon seine erste Tragödie, »Œdipe« (Uraufführung 1718, gedruckt 1719; deutsch »Oedipus«), für die er zum ersten Mal sein Pseudonym verwendete, rief Bewunderung hervor; europäischen Ruhm erlangte er mit dem Epos »Henriade« (»La Ligue, ou Henry le Grand«, 1723; deutsch »Heldengesang auf Heinrich IV., König von Frankreich«), das den ersten Bourbonenkönig feiert. Als ihm infolge eines Ehrenhandels 1726 eine zweite Verhaftung drohte, floh er nach Großbritannien, wo er bis 1729 blieb. Er lernte dort die neue Naturwissenschaft I. Newtons kennen, studierte J. Lockes Philosophie des Commonsense, verkehrte mit Freigeistern und Deisten (u. a. Viscount Bolingbroke, A. Pope). Literarisches Ergebnis seiner Erfahrungen waren die »Letters concerning the English Nation« (1733; 1734 französisch als »Lettres philosophiques«; deutsch »Philosophische Briefe«), in denen er die politischen und geistigen Verhältnisse Großbritanniens den französischen Zuständen gegenüberstellt und v. a. Kritik an den Traditionen der katholischen Kirche übt. Die Schrift wurde sofort vom Pariser Parlament verboten und verbrannt, der Autor flüchtete auf das Schloss der gebildeten Marquise du Châtelet nach Cirey-sur-Blaise nahe der Grenze zum noch selbstständigen Lothringen. Dort arbeitete er (bis 1748) intensiv an seinem naturwissenschaftlich-mathematischen und historisch-politischen Weltbild. Gemeinsam mit der Marquise kommentierte er Newton, G. W. Leibniz und C. Wolff. Es entstanden u. a. seine »Éléments de la philosophie de Newton« (1738), mit denen er Newtons Kosmologie auf dem Kontinent verbreitete und mit dessen auf Experiment und Beobachtung gestützter Naturwissenschaft er gegen den Cartesianismus wirkte. Im »Traité de métaphysique« (1734; deutsch »Abhandlung zur Metaphysik«) begründete er seine deistische Position: Aus Vernunftgründen müsse aus der Gesetzmäßigkeit und Ordnung des Kosmos auf Gott als höchste Intelligenz geschlossen werden. Von den Tragödien dieser Zeit ist »Mahomet« (1742, deutsch von Goethe) wegen der darin enthaltenen Religionskritik bemerkenswert.
 
Obwohl sein Ruhm auch zu einer Annäherung an die Hofgesellschaft führte (1745 Ernennung zum Historiographen Frankreichs, 1746 Aufnahme in die Académie française), nahm er nach dem Tod der Marquise du Châtelet (1749) die Einladung Friedrichs II., des Großen, nach Potsdam an, wo er u. a. den Ruf des Hofes als Stätte aufgeklärter Geistigkeit festigen sollte. Er arbeitete dort am Projekt einer Universalgeschichte, an den Beiträgen für Diderots »Encyclopédie« sowie an den ersten Artikeln des »Dictionnaire philosophique portatif« (1764; deutsch »Philosophisches Wörterbuch«), Zusammenfassung und polemischer Höhepunkt seines antiklerikalen Denkens. Eine gescheiterte Finanzspekulation und eine Fehde mit dem Akademiepräsidenten P. L. M. de Maupertuis führten zum Zerwürfnis mit Friedrich dem Großen, mit dem er dennoch bis an sein Lebensende im Briefwechsel stand. 1753 verließ er Potsdam und ließ sich nach einer Zeit unsteten Reisens 1755 im Gebiet von Genf nieder; nach Schwierigkeiten mit der kalvinistischen Stadtregierung erwarb er 1758 Dorf und Schloss Ferney in der Nähe des Genfer Sees (heute Ferney-Voltaire, Département Ain). Durch auch skrupellose Geschäfte reich und unabhängig geworden, lebte Voltaire als Grundherr, ließ Land kultivieren, Sümpfe trockenlegen, siedelte im Dorf eine Uhrenindustrie an, die rasch aufblühte; er trat für die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Erleichterung der Lebensbedingungen der Bauern ein. Vor allem aber setzte er sein literarisches Werk fort, zum Teil begleitet von Prozessen und persönlichen Fehden (so mit J.-J. Rousseau); er verfasste Theaterstücke, Lehrgedichte, Dialoge, Streitschriften und führte eine ausgedehnte Korrespondenz mit Persönlichkeiten aus ganz Europa. Seinen Ruhm und seine gefürchtete brillante Kunst der Argumentation setzte er auch ein, um Opfer absolutistischer Willkürjustiz rehabilitieren zu lassen, am spektakulärsten im Fall des J. Calas; die aus Anlass des Justizmordes an dem Kaufmann entstandene Kampfschrift »Traité sur la tolérance« (1763; deutsch »Abhandlung über die Religionsduldung«) reicht über den konkreten Fall weit hinaus und plädiert vehement für Religionsfreiheit und gegen religiösen Fanatismus.
 
Bedeutendes leistete Voltaire als Historiker. Die umfassenden Werke (darunter »Le siècle de Louis XIV«, 2 Bände, 1751; deutsch »Die Zeiten Ludwigs XIV.«; »Histoire de l'empire de Russie sous Pierre-Le-Grand«, 2 Teile, 1759-63; deutsch »Geschichte des russischen Reiches unter der Regierung Peters des Großen«) sind Beispiele einer im Wesentlichen kritischen Methode und wegweisend für die moderne säkularisierte Geschichtsschreibung. Wie bei Montesquieu werden ökonomische, politische, soziale und kulturelle Erscheinungen als Zusammenhang betrachtet. Mit seinem »Essai sur les mœurs et l'esprit des nations, depuis Charlemagne jusqu'à nos jours« (7 Bände, 1756; deutsch u. a. als »Über den Geist und die Sitten der Nationen«) setzt Voltaire der theologischen Universalgeschichte J. Bossuets die »Geschichtsphilosophie« (als Begriff erstmals bei Voltaire) entgegen. Er fordert, sich durch Quellenprüfung und -kritik der Glaubwürdigkeit von Zeugnissen und der Exaktheit von Fakten zu vergewissern, und deutet Weltgeschichte als eine fortschreitende Vervollkommnung der Vernunft.
 
Voltaires Tragödien sind nach klassizistischen Regeln gebaut, passen aber die überlieferten Stoffe aufklärerischem Gedankengut an. Zu den lebendigsten literarischen Zeugnissen des 18. Jahrhunderts gehören die Erzählungen, von Voltaire selbst »philosophische Romane« genannt, die voll Witz und Satire zum Teil märchenhafte Geschichten erzählen (»Le Micromégas«, 1752, deutsch »Mikromegas«; »L'ingénu« (1767; deutsch u. a. als »Der Freimütige«). Am bekanntesten wurde »Candide ou l'optimisme« (1759; deutsch u. a. als »Candide oder der Optimismus«), wo er die leibnizsche These von »dieser Welt als der besten aller möglichen« ironisch umkehrt.
 
Im Februar 1778 reiste Voltaire zur Uraufführung seiner Tragödie »Irène« nach Paris und wurde dort enthusiastisch gefeiert. Als er kurz darauf starb, wurde ihm ein christliches Begräbnis verweigert und sein Leichnam auf einen Dorffriedhof bei Troyes gebracht. 1791 wurde er von den Revolutionären nach Paris zurückgeholt und im Panthéon beigesetzt.
 
Voltaire beherrschte alle Literaturgattungen seiner Zeit souverän. Ohne ein eigenes philosophisches System zu entwickeln, setzte er, dem jeweiligen Anliegen angepasst, seine glänzende Stilkunst ein, um den Ideen der Aufklärung mustergültig Ausdruck zu verleihen.
 
Weitere Werke: Tragödien: Zaïre (Uraufführung 1732, Buchausgabe 1733; deutsch Zayre); Mérope (1744; deutsch Merope); L'orphelin de la Chine (1755; deutsch Der Waise in China).
 
Erzählungen: Zadig ou La destinée (1748, anonym erschienen 1747 unter dem Titel Memnon. Histoire orientale; deutsch Zadig); La Princesse de Babylone (1768; deutsch Die Prinzessin von Babylon).
 
Epen: Poème sur le désastre de Lisbonne (1756); La Pucelle d'Orléans (1762; deutsch Das Mädchen von Orleans).
 
Biographie: Histoire de Charles XII, roi de Suède (1731; deutsch Geschichte Karls XII., König von Schweden).
 
Questions sur l'Encyclopédie, 9 Bände (1770-72).
 
Ausgaben: Œuvres, herausgegeben von M. Beuchot, 70 Bände und 2 Registerbände (1829-40); Œuvres complètes, herausgegeben von L. Moland, 52 Bände (Neuausgabe 1877-85, Nachdruck 1967); Lettres inédites aux Tronchin, herausgegeben von G. Gagnebin, 3 Bände (1950); Correspondence, herausgegeben von T. Besterman, 107 Bände (1953-65); The complete works, herausgegeben von demselben u. a., auf zahlreiche Bände berechnet (1968 folgende).
 
Sämtliche Romane und Erzählungen, übersetzt von I. Lehmann u. a. (Neuausgabe 1988).
 
Literatur:
 
G. Bengesco: V. Bibliographie de ses œuvres, 4 Bde. (Paris 1882-90, Nachdr. Nendeln 1977-79);
 G. Bengesco: Table de la bibliographie de V. (Genf 1953, Nachdr. Nendeln 1979);
 H. A. Korff: V. im literar. Dtl. des 18. Jh., 2 Bde. (1917);
 J. H. Brumfitt: V. historian (London 1958, Nachdr. ebd. 1970);
 I. O. Wade: The intellectual development of V. (Princeton, N. J., 1969);
 
V. u. Dtl. Quellen u. Unterss. zur Rezeption der frz. Aufklärung, hg. v. P. Brockmeier u. a. (1979);
 A. J. Ayer: V. Eine intellektuelle Biogr. (a. d. Engl., Neuausg. 1994);
 G. Holmsten: V. (44.-45. Tsd. 1994);
 R. Pomeau: V. et son temps, 2 Bde. (Neuausg. Paris 1995);
 P. Lepape: V. oder die Geburt der Intellektuellen im Zeitalter der Aufklärung (a. d. Frz., 1996).
 

Universal-Lexikon. 2012.