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deutsche Frage
deutsche Frage,
 
Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge der Befreiungskriege aufgekommenes politisches Schlagwort, das die Forderung nach einer nationalen Gesamtordnung in Deutschland beziehungsweise der bis 1806 im Heiligen Römischen Reich verbundenen deutschen Territorien umschreibt. In der deutschen Frage überlagern sich konstant historisch-politische Fragestellungen (die nach der Einheit der deutschen Nation) und dynamisch wechselnde politisch-kulturelle Komponenten (Suche nach dem eigenen Selbstverständnis der Deutschen). So ist die deutsche Frage schon im 19. Jahrhundert nicht nur eine Frage der territorialen und nationalen Organisation der Deutschen in der Mitte Europas (»europäisches Gleichgewicht«), sondern sie verweist zugleich immer auf die Frage nach der politischen, verfassungsrechtlicher und gesellschaftlicher Ordnung Deutschlands. Integrations- und Organisationsschwierigkeiten der Deutschen, Standortsuche und unklare Ortsbestimmungen sind auch auf die Lage in der Mitte Europas zurückzuführen. Fehlende natürliche Grenzen machten Deutschland zu einem offenen Land der Mitte. Der späte Prozess der Staatsgründung (1871) sowie die Konflikte und Brüche, die Deutschland v. a. im 20. Jahrhundert in einen ständigen Verkleinerungs- und Teilungsprozess verwickelten, und die historischen Einschnitte haben eine eindeutige, in sich ruhende und allseits zustimmungsfähige Selbstbeschreibung der Deutschen häufig verhindert.
 
 Die deutsche Frage 1815-1945
 
Die auf dem Wiener Kongress 1815 getroffene Lösung des losen Zusammenschlusses der deutschen Einzelstaaten im Deutschen Bund (1815-66) widersprach den in den Befreiungskriegen erwachsenen Hoffnungen der Bürger. Ebenso befremdete der Verzicht auf deutsche, aber nicht zum Reich gerechnete Gebiete (z. B. Ost- und Westpreußen) sowie der Einschluss der v. a. zu Österreich gehörenden fremdnationalen Gebiete.
 
In der Märzrevolution von 1848 brach sich der Unmut u. a. mit der Forderung nach nationaler Einheit in einem konstitutionellen, demokratischen und monarch. Staat Bahn. Zugleich setzte, besonders in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, die Auseinandersetzung um die »großdeutsche« Lösung, d. h. den staatlichen Zusammenschluss möglichst aller geschlossen in Mitteleuropa siedelnden Deutschen, und um die »kleindeutsche« Lösung, die Beschränkung auf das engere Deutschland (ohne Österreich mit seinen fremdnationalen Teilen) unter der Führung Preußens ein. Das Scheitern der Revolution verstärkte den Dualismus zwischen Preußen und Österreich und trieb auf eine kriegerische Auseinandersetzung zu, v. a. als Preußen, realpolitisch orientiert, sich durch die Zollvereinsbestrebungen nicht nur zum Vorreiter einer wirtschaftlichen Einigung Deutschlands, sondern auch zum Führer einer kleindeutschen Einigungspolitik aufschwang und durch die Einbeziehung der süddeutschen Staaten in die Interessensphäre Österreichs eindrang. Mit dem Deutschen Krieg von 1866 legte Preußen den Grundstein für die nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 vollzogene Schaffung des Deutschen Reiches unter O. von Bismarck. Dieses bot, unter Ausschluss Österreichs, zwar die staatliche Einheit, blieb als Nationalstaat zunächst jedoch hinter den Erwartungen zurück.
 
Nach der Niederlage des Deutschen Reiches und dem staatlichen Zusammenbruch Österreich-Ungarns im Oktober/November 1918 stellte sich die deutsche Frage hinsichtlich eines Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Unter Bruch des Versailler Vertrags (1919) und Nichtbeachtung des Vertrags von Saint-Germain-en-Laye (1919, Österreich, Geschichte) führte das nationalsozialistische Deutschland den Anschluss auf gewalttätige Weise im März 1938 durch. Mit ihrem Sieg über Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-45) hob die Anti-Hitler-Koalition die Einverleibung Österreichs im Sommer 1945 wieder auf.
 
 Die Teilung Deutschlands 1945-89
 
Während des Zweiten Weltkrieges beriet die Anti-Hitler-Koalition darüber, die deutsche Frage im Vollzug der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches durch die »Zerstückelung« der deutschen Nation ein für alle Mal zu erledigen (u. a. »Morgenthau-Plan« vom September 1944). Nach Kriegsende rückten die Siegermächte von solchen Plänen ab. Spätestens seit 1947 erlangte die deutsche Frage im ausbrechenden Ost-West-Konflikt eine internationale Schlüsselstellung.
 
Konkret traf die mit der Deutschlandplanung 1943 betraute European Advisory Commission die entscheidenden Festlegungen über Deutschland bereits in ihren Londoner Protokollen von September beziehungsweise November 1944; unter Einbeziehung Frankreichs hat sie diese nach der militärischen Kapitulation der deutschen Wehrmacht (7. und 8./9. 5. 1945) in den Festlegungen der »Berliner Viermächteerklärung« vom 5. 6. 1945 über das Kontrollverfahren in Deutschland und die dortigen Besatzungszonen wiederholt. Danach wurde Deutschland zunächst in drei, später unter Einbeziehung Frankreichs in vier Besatzungszonen eingeteilt (Viermächtestatus); in Berlin wurden zusätzlich vier Sektoren geschaffen und der gemeinsamen Besatzungshoheit der vier Mächte unterstellt (Berlinfrage). »Deutschland als Ganzes« bedeutete für die Alliierten das Deutschland in den Grenzen vom 31. 12. 1937 (Deutsches Reich). Über die Auslegung und Durchführung des Potsdamer Abkommens vom 2. 8. 1945 bestanden, wie sich bald zeigte, zwischen den Westmächten und der UdSSR kontroverse Vorstellungen. Die Spaltung Deutschlands war somit nicht das Ergebnis der Einigkeit der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges über einen Teilungsplan, sondern das Ergebnis der Uneinigkeit über ein gemeinsames, für alle verbindliches Konzept für die Zukunft Deutschlands; die Teilung begann praktisch zu dem Zeitpunkt, an dem die Siegermächte von den Teilungsplänen Abstand nahmen. Ausgangspunkt der Teilung war das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Ordnungssysteme in Deutschland: der westlichen Demokratien und des totalitären Kommunismus stalinistischer Prägung. Während die sowjetischen Besatzungsbehörden in der SBZ eine tief greifende Umstrukturierung nach dem Vorbild des sowjetischen Herrschaftsmodells einleiteten, wurde in den westlichen Besatzungszonen, die zur Erhaltung der wirtschaftlichen Einheit zusammengefasst wurden (Bildung der Bizone am 1. 1. 1947, der Trizone am 8. 4. 1949), mit dem Aufbau einer freiheitlich-demokratischen Ordnung begonnen. Nach der Annahme des »Grundgesetzes« (GG) durch den Parlamentarischen Rat am 8. 5. 1949 (in Kraft getreten am 24. 5. 1949) und den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag (am 14. 8. 1949) konstituierte sich die BRD. In der SBZ nahm der 3. Deutsche Volkskongress am 30. 5. 1949 die Verfassung einer »deutschen demokratischen Republik« an und wählte einen »Deutschen Volksrat«, der sich am 7. 10. 1949 zur provisorischen Volkskammer erklärte (Gründung der DDR; deutsche Geschichte); die erste Volkskammer der DDR wurde am 15. 10. 1950 auf der Grundlage von Einheitslisten »gewählt«. Die deutsche Teilung war vollzogen. Nun war die Wiederherstellung der deutschen Einheit endgültig zum Zentralproblem der deutschen Frage geworden. Im Zusammenhang damit erlangte auch die nationale Frage (Selbstverständnis der Deutschen als Nation) in beiden deutschen Staaten grundlegende Bedeutung. Mit dem Übergang zur neuen Deutschland- beziehungsweise Ostpolitik (ab 1966/69) wurde die Frage nach der Identität der Deutschen und nach dem Fortbestehen der einheitlichen deutschen Nation (Art. 116 GG) seit den 70er-Jahren heftiger und zum Teil sehr kontrovers diskutiert (in der DDR Zweistaatentheorie, in West-Deutschland Vertreter einer Zweinationenthese). Dennoch blieb in der bundesdeutschen Politik und der Mehrheit der deutschen Bevölkerung ein gesamtdeutsches Nationalbewusstsein und das Festhalten am Ziel der Wiedervereinigung, wenn auch nicht immer deutlich artikuliert, letztendlich vorherrschend und aktualisierbar, offensichlich - wie sich 1989 zeigen sollte - am stärksten in der Bevölkerung der DDR.
 
 Die Überwindung der deutschen Teilung (1989/90)
 
Wie alle Bundesregierungen vor ihr trotz aller öffentlichen Diskussion strikt ausgehend vom Wiedervereinigungsgebot des GG (Präambel), konnte die Bundesregierung unter H. Kohl (ab 1982) mit dem unbeirrten Festhalten an einer einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit der Politik der »Abgrenzung« unter Staats- und Parteichef E. Honecker in der DDR, bei allen Bemühungen um Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen, um Ausbau des innerdeutschen Handels und um spürbare menschliche Erleichterungen wie Abbau des Grenzregimes oder Reiseerleichterungen, wirkungsvoll begegnen. Beeinflusst von den internationalen stark beachteten politischen Reformbestrebungen M. S. Gorbatschows in der UdSSR sowie seiner weit reichenden Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsvorschläge schwächte sich der Ost-West-Konflikt ab 1987 immer mehr ab und schuf ein zunehmend günstigeres internationales Klima, das dann bis 1990 auch die Lösung der deutschen Frage ermöglichte. Trotz der Verschärfung restriktiver Maßnahmen durch die DDR-Regierung kam es, begleitet von allgemein sinkender innerer Akzeptanz des SED-Regimes seitens der Bevölkerung durch wachsende Erkenntnis der Systemdefizite, in den 1980er-Jahren zu einem zunehmenden Abwanderungsdruck in der DDR (steigende Zahl von Ausreiseantragstellern; trotz Ausbau der Sperranlagen unverminderte Zahl von Flüchtlingen über die innerdeutsche Grenze). Die verstärkt Öffentlichkeit suchende Bürgerrechtsbewegung machte auf die Defizite, besonders die fehlende Meinungs- und Reisefreiheit, immer deutlicher aufmerksam. Zeitgleich mit der im Sommer und Herbst 1989 stark anschwellenden Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über Ungarn beziehungsweise die deutschen Botschaften in Prag und Warschau entwickelte sich in der DDR aus der Bürgerrechtsbewegung eine breite Bürgerbewegung; sie führte zur zunehmenden Demontage der Partei- und Staatsmacht wie des mit beiden verbundenen MfS-Überwachungssystems. Am 9. 11. 1989 kam es zur Öffnung der Berliner Mauer und im November/Dezember 1989 zur nationaldemokratischen Richtungsänderung der Demonstrationsbewegung. Gestützt auf eine für die Vereinigung zunehmend positive Stimmung, ergriff Bundeskanzler H. Kohl die Initiative, politisch zur Wiedervereinigung überzuleiten. Im Verlauf von Frühjahr und Sommer 1990 nutzte die Bundesregierung die Chancen, die deutsche Teilung zu überwinden: u. a. über die Wirtschafts- und Währungsunion ab 1. 7. 1990 sowie durch Abschluss des Einigungsvertrags vom 31. 8. 1990, in Kraft gesetzt durch die Zustimmung beider deutschen Parlamente am 23. 9. 1990. Die volle Souveränität Gesamtdeutschlands wurde auch mit demZwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. 9. 1990 und dem Deutsch-Polnischen Grenzvertrag vom 14. 11. 1990 sowie der »Suspendierungserklärung« der Alliierten vom 1. 10. 1990 über den Verzicht auf noch bestehende Rechte in Bezug auf Berlin und Deutschland festgeschrieben. Seit dem 3. 10. 1990 existiert Deutschland nunmehr als einheitlicher Nationalstaat in gesicherten und anerkannten Grenzen. Seitdem spitzte sich die Frage nach dem Selbstverständnis der Deutschen als Nation zu auf das Problem der inneren (Aus-)Gestaltung der deutschen Einheit sowie der Neudefinition des außenpolitischen Gewichts des wieder vereinigten Deutschlands in Europa und in der Welt.
 
Literatur:
 
Dokumentation zur Deutschlandfrage, bearb. v. H. von Siegler, 10 Bde. u. Register-Bd. (1961-79);
 
Texte zur Dtl.-Politik, hg. vom Bundesministerium für Innerdt. Beziehungen, Reihe 1, 12 Bde. u. Register-Bd. (1-21968-80),
 
Reihe 2 (1975 ff.);
 
Die d. F. aus der heutigen Sicht des Auslandes, hg. v. H. Horn u. S. Mampel (1987);
 M. Stürmer: D. F. u. europ. Integration (1988);
 W. Loth: Ost-West-Konflikt u. d. F. (1989);
 A. Hillgruber: Dt. Gesch. 1945-1986. Die »d. F.« in der Weltpolitik (71989);
 
Die Dtl.-Frage vom 17. Juni 1953 bis zu den Genfer Viermächtekonferenzen von 1955, hg. v. D. Blumenwitz u. a. (1990);
 
Dt. Bund u. d. F. 1815-1866, hg. v. H. Rumpler (1990);
 
Die USA u. die d. F. 1945-90, hg. v. W.-U. Friedrich (1991);
 M. Ludwig: Polen u. die d. F. (21991);
 W. Weidenfeld u. K. R. Korte: Die Deutschen - Profil einer Nation (21992);
 
Vom schwierigen Zusammenwachsen der Deutschen. Nat. Identität u. Nationalismus im 19. u. 20. Jh., hg. v. B. J. Wendt (1992);
 W. D. Gruner: Dtl. mitten in Europa. Aspekte u. Perspektiven der d. F. in Gesch. u. Gegenwart (1992);
 W. D. Gruner: Die d. F. in Europa 1800-1990. Ein Problem der europ. Gesch. (1993);
 
Kurze Chronik der d. F. Mit den drei Verträgen zur Einigung Dtl.s, hg. v. G. Diemer u. E. Kuhrt (41994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
deutsche Einheit: Der Fall der Berliner Mauer und der Weg zur Einheit
 

Universal-Lexikon. 2012.