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Hildegard von Bingen
I
Hildegard von Bingen
 
Eine faszinierende Frau des 12. Jahrhunderts
 
Eine Ordensfrau bewegt ihre Zeit. Die Schriften Hildegards von Bingen sind Gelehrten Anlass zum Disput, ihre Briefe Königen, Bischöfen und Päpsten Mahnung in ihren Ämtern, ihre Predigten einfachen Menschen Stärkung und Trost im Glauben. Das Werk der Ordensfrau Hildegard von Bingen faszinierte die Menschen des 12. Jahrhunderts und es fasziniert die Menschen heute erneut. Ein Grund dafür ist wohl, dass sich Hildegard und ihr Werk in kein Schema pressen lassen. Hildegard von Bingen, die als Visionärin in einer beeindruckenden Gottesbeziehung lebte, eröffnete den Menschen des 12. Jahrhunderts eine neue, bis dahin nicht gekannte Sichtweise auf sich selbst, die Welt und den christlichen Glauben und wirkt mit ihrem Werk bis in die Gegenwart hinein. Dieses ist auch heutigen Menschen Hilfe, einen Zugang zu Gott und Orientierung im Glauben zu finden.
 
 Die Biografie der Hildegard von Bingen
 
Ordensfrau und Klostergründerin
 
Hildegard von Bingen wurde im Jahr 1098 in Bermersheim bei Alzey in Rheinhessen geboren. Sie war das zehnte Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim. Im Alter von acht Jahren kam Hildegard zur geistlichen Erziehung in die Obhut der Jutta von Spanheim im Benediktinerinnenkloster Disibodenberg (am Zusammenfluss von Nahe und Glan), dessen Wurzeln als klösterlicher Ort bis ins 7. Jh. zurückreichen. Hier legte sie dann zwischen 1112 und 1115 die Ordensgelübde ab.
 
Als Jutta von Spanheim im Jahr 1136 starb, wurde Hildegard ihre Nachfolgerin als Vorsteherin des Disibodenberger Konvents. In den Jahren 1147 bis 1150 gründete und errichtete sie ein eigenes Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen am Rhein (1858 Abriss der Klosterruine bei Bahnbauarbeiten), dem im Jahr 1165 die Gründung eines Tochterklosters in Eibingen (heute zu Rüdesheim am Rhein) folgte.
 
Visionärin und Prophetin
 
Die visionäre Begabung der Hildegard von Bingen war bereits in ihren Kinderjahren ausgeprägt, doch erst im Alter von 42 Jahren begann sie, die empfangenen Visionen in lateinischer Sprache niederzuschreiben. Sie bilden den Wesenskern ihres Werkes. Hildegard sah das Schreiben als Auftrag Gottes an und wusste sich als Schriftstellerin von Gott in das Amt einer Prophetin berufen. Kirchliche Bestätigung fand ihr Sehertum auf der Trierer Synode 1147/1148 - unter anderem auf Fürsprache von Bernhard von Clairvaux hin -, nachdem die zu diesem Zeitpunkt vorliegenden Teile ihres Erstlingswerkes »Scivias« geprüft worden waren.
 
Ihren prophetischen Auftrag leitete Hildegard aus der älteren prophetischen Literatur ab, wobei sie Aussagen von Paulus, Augustinus und Gregor dem Großen auf ihr eigenes Werk bezog. Ihre Position als Mensch beschrieb Hildegard von Bingen als die einer Frau, die krank, ungelehrt und schwach ist und nur durch die Kraft Gottes die Fähigkeit und damit auch die Verpflichtung erhielt, lehrend tätig zu sein. Sie sah sich und ihre Welt in einer Endzeitsituation, in der gerade die Frau in der Nachfolge Marias dazu verpflichtet sei, Gottes Willen zur Rettung vor der Bedrohung durch den Antichristen zu verkünden, dies zumal viele Priester und Bischöfe hierin versagten. So mahnte Hildegard von Bingen ihre Leser und Hörer, zurückzukehren zum authentischen Christentum, wie es die Apostel und Kirchenväter gelehrt haben. Sich selbst als deren Stimme in ihrer Gegenwart verstehend, wurde sie zur Sprecherin eines Theologen-Prophetentums, das andere aus dem Dunkel zu Weisheit und Vollkommenheit bringen will.
 
Neben ihrem schriftstellerischen Werk unternahm Hildegard zahlreiche Predigtreisen und verfasste über 300 Briefe. Sie starb am 17. September 1179 im Kloster Rupertsberg. Ihr außergewöhnliches Charisma, verbunden mit Berichten über durch sie erfolgte wunderbare Heilungen, trugen ihr schon bald nach ihrem Tod den Ruf der Heiligkeit ein. In der katholischen Kirche wird Hildegard als Heilige verehrt (Tag: 17. September); das im Jahr 1227 in Mainz eingeleitete förmliche Heiligsprechungsverfahren wurde allerdings nie zum Abschluss geführt.
 
 Das Werk der Hildegard von Bingen
 
Die Visionstrilogie
 
Hildegard von Bingens Hauptwerk ist die große Visionstrilogie »Scivias«, »Liber vitae meritorum« und »Liber divinorum operum«. Sie zeigt darin das Wirken der Dreifaltigkeit bei der Erschaffung des Kosmos, in der Planung der Heilsgeschichte und der Erneuerung des Menschen. Für diese Trilogie brauchte Hildegard von Bingen bis zur Fertigstellung etwa 25 Jahre.
 
»Scivias« (1141 bis 1151)
 
Das Werk »Scivias« (deutsch »Wisse die Wege«) entstand in den Jahren 1141 bis 1151. Es ist unterteilt in drei Bücher, in denen in insgesamt 26 Visionen die Heilsgeschichte abgehandelt wird. In Buch eins liegt der Schwerpunkt auf der Darstellung der Ordnungsprinzipien des Kosmos, Buch zwei widmet sich hauptsächlich dem Wirken Christi als Erlöser, Buch drei zeigt den Aufbau eines Gottesreiches vom Anfang bis zum Ende der Welt. Die drei Bücher stellen somit die Dreifaltigkeit dar, bestehend aus Gott dem Schöpfer, Christus dem Erlöser und dem Heiligen Geist, der das Heilsreich erbaut.
 
»Liber vitae meritorum« (1158 bis 1163)
 
Das Werk »Liber vitae meritorum« (deutsch »Buch der Lebensverdienste«) entstand im Zeitraum der Jahre 1158 bis 1163. Es besteht aus sechs Büchern. In fünf der sechs Kapitel treten dämonenartige, die verschiedenen Laster verkörpernde Gestalten auf, die Reden halten, gegen die dann die jeweiligen, in ihrer Darstellung körperlosen Tugenden das Wort erheben. Dieser kosmische und zugleich heilsgeschichtliche Kampf spielt sich ab vor Christus, der die Tugenden anführt.
 
»Liber divinorum operum« (1163 bis 1173)
 
Hildegard von Bingens wichtigstes Werk ist »Liber divinorum operum« (deutsch »Buch der göttlichen Werke«), das zwischen den Jahren 1163 und 1173 entstand. Es besteht aus drei Hauptteilen, in denen Hildegard von Bingen den natürlichen Kosmos, die ethische Wirklichkeit und die Heilsgeschichte darstellt. In ihrer Darstellung benutzt sie Ideenbilder, die dem inspirierten Propheten zur Deutung zugänglich sind. Dieses Werk ist hauptsächlich eine Schrift über den Heiligen Geist, die aber in den einzelnen Büchern auch die Dreifaltigkeit abbildet.
 
Weitere wichtige Schriften
 
Hildegard schuf auch verschiedene andere Schriften von ähnlicher Qualität wie die Trilogie. So das Singspiel »Ordo Virtutum«, 77 geistliche Gesänge, eine Evangelienauslegung, eine Geheimschrift sowie eine Geheimsprache und ein umfangreiches medizinisch-naturwissenschaftliches Werk (»Physica« und »Causae et curae«). Ferner sind von ihr über 300 Briefe überliefert. Allerdings ist fraglich, inwieweit die ihr zugeschriebene Musik oder auch ihre medizinischen Ratschläge (wie etwa das Heilen mit Edelsteinen) tatsächlich auf sie zurückgehen. Hildegard von Bingen begab sich außerdem auf ausgedehnte Predigtreisen, ungewöhnlich für eine Frau im 12. Jahrhundert. Sie reiste nach Köln, Metz, Würzburg und Bamberg. An etwa 15 weiteren Orten ist ihr Auftreten belegt.
 
 Das Erbe der Hildegard von Bingen und seine Pflege
 
Das Jahr 1998 war für die Verehrer Hildegards von Bingen und die Hildegard-Forscher in aller Welt ein besonderes Jahr. Das 900-jährige Geburtsjubiläum gab den Anlass für zahlreiche Gedenkveranstaltungen, wissenschaftliche Kolloquien und die Veröffentlichung einer Vielzahl fachlicher und populärer Publikationen.. Zum Abschluss des Hildegard-Jahres wurde an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität die Deutsche Hildegard-von-Bingen-Gesellschaft zur Erforschung und Verbreitung des Gedankenguts der Seherin gegründet.
 
Innerhalb der heutigen Alltagskultur ist die »Hildegard-Medizin« zu einem festen Begriff geworden. Sie ist als besonderer Zweig der alternativen Medizin anerkannt, erfährt in ihrer Herauslösung einzelner Teile des hildegardschen Werks aus ihrem Gesamtzusammenhang jedoch auch Kritik. Einen regelrechten Boom haben in allerjüngster Zeit so genannte »Hildegard-Kochbücher« erlebt, deren Leitideen sich ebenfalls auf bestimmte Gedanken Hildegards von Bingen berufen.
II
Hildegard von Bịngen,
 
Mystikerin, * 1098, ✝ Kloster Rupertsberg (bei Bingen am Rhein) 17. 9. 1179; trat als Benediktinerin ins Kloster Disibodenberg an der Nahe ein; gründete zwischen 1147 und 1150 das Kloster Rupertsberg, 1165 ein Filialkloster in Eibingen (heute zu Rüdesheim am Rhein); setzte sich durch Predigtreisen und einen ausgedehnten Briefwechsel für die Reform des kirchlichen Lebens ein, das sie durch zahlreiche Missstände bedroht sah. Hildegard hatte bereits in ihrer Kindheit Visionen, die sie ab 1141, einem von ihr empfundenen göttlichen Auftrag gemäß, in lateinischer Sprache niederschrieb. Als Hauptwerk entstand so die mystische Glaubenslehre »Scivias« (deutsch »Wisse die Wege«), in der Hildegard in stark prophetischer Sprache eine eigene Theologie und Anthropologie entwickelte. Das Original ist seit 1945 verschollen, eine illuminierte Kopie befindet sich in der Benediktinerinnenabtei Eibingen. Daneben entstanden homiletisch-exegetische und historische Abhandlungen, 70 selbst vertonte geistliche Lieder, außerdem naturkundliche Bücher wie das in zwei Teilen überlieferte Werk »Liber subtilitatum diversarum naturarum creaturarum« (etwa 1150-60), die wichtigste Quelle naturkundlicher Kenntnisse des frühen Mittelalters in Mitteleuropa. - Heilige (Tag: 17. 9.).
 
Ausgaben: Lieder. Nach den Handschriften. Lateinisch und deutsch, herausgegeben von P. Barth u. a. (1969); Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste, herausgegeben von H. Schipperges (1972); Heilkunde, herausgegeben von demselben (31974); Naturkunde, herausgegeben von P. Riethe (31980); Wisse die Wege, herausgegeben von M. Böckeler (71981).
 
Literatur:
 
W. Lauter: H.-Bibliogr., 2 Bde. (1970-84);
 G. Hertzka: Das Wunder der H.-Medizin (41984);
 G. Lautenschläger: H. v. B. Die theolog. Grundlegung ihrer Ethik u. Spiritualität (1993);
 C. Feldmann: H. v. B. Nonne u. Genie (Neuausg. 1995);
 T. Schäfer: Visionen. Leben, Werk u. Musik der H. v. B. (1996, mit CD).

Universal-Lexikon. 2012.