Klavier.
Da in der populären Musik der Einsatz bzw. die Funktion des Instruments unabhängig von der äußeren Gestalt ist, wird hier Klavier als Oberbegriff für Pianino und Flügel verwendet — allerdings nur bezogen auf das akustische Klavier, nicht auf das elektrisch verstärkte oder das auf elektronischer Tonerzeugung basierende E-Piano bzw. Digitalpiano.
Man kann das Klavier als das für die Entwicklung und Verbreitung der populären Musik wichtigste Musikinstrument bezeichnen. Lange Zeit galt es als das Hausmusikinstrument schlechthin, auf dem Schlager, Lieder und Tänze von musizierenden Laien nachgespielt wurden. Als Bestandteil der Rhythmusgruppe, aber auch als Solo- und Begleitinstrument war es in der Tanzmusik und im Jazz von nachhaltiger Bedeutung, wie eine Reihe von Stilrichtungen und herausragende Musikerpersönlichkeiten belegen. Letztlich diente und dient es vielen Komponisten und Arrangeuren als »Arbeitsmittel«.
Im 19. Jahrhundert entstand in Anlehnung an Klavierwerke von Schubert, Chopin, Liszt, Mendelssohn Bartholdy u. a. eine Vielzahl von Salon- und Charakterstücken für das »Pianoforte«, oft sentimental und pseudovirtuos, zunehmend im künstlerischen Anspruch verflachend. Beispiele dafür sind »Das Gebet einer Jungfrau« (Thekla Badarzewska-Baranowska, 1834-1861) und »Die Petersburger Schlittenfahrt« (Richard Eilenburg, 1848-1925). Dazu kam eine Flut von Bearbeitungen und Transkriptionen von Musik aller Art — vom Militärmarsch bis zum Sinfoniesatz, in leichtem Schwierigkeitsgrad, zwei- oder vierhändig. In der Traditionslinie dieser europäischen Salonmusik für Klavier liegt auch der Ragtime, die erste komponierte und schriftlich überlieferte Musikform der Afroamerikaner mit Scott Joplin (1868-1917) als Hauptvertreter.
Das Klavier gehört zu den temperierten Instrumenten (temperierte Stimmung). Es bietet den Vorteil eines fast großorchestralen Klangs und eines außerordentlich breiten Tonumfangs. Mit dem Anschlag kann der Ton bezüglich Lautstärke und Artikulation erheblich modifiziert werden. Der Nachteil besteht darin, dass der Klavierton nach dem Anschlag relativ schnell verklingt; rasche Tonwiederholungen (Repetitionen) oder Tremolo sind beliebte »Hilfsmittel« dagegen (Blue Ending). Die stabilen Tonhöhen lassen keine Zwischenstufen (Blue Notes, Dirty Tones), »echte« (wirklich lückenlose) Glissandi oder andere Tonmanipulationen zu. Deshalb ist das Klavier eigentlich ein für den Jazz ungeeignetes Instrument, und es bedurfte etlicher »Ersatzlösungen« (z. B. Cluster anstelle von Blue Notes ) bzw. eigenständiger stilistischer Entwicklungen (Piano-Stile), um das Klavier in den Jazz zu integrieren.
Im Laufe der verschiedenen Jazzstile vollzog sich ein deutlicher Funktionswandel im Gebrauch des Klaviers. Zunächst diente es primär als Harmonie- und Rhythmusinstrument, die Taktzeiten mit Akkorden markierend (linke Hand analog Bass und Großer Trommel, rechte Hand analog Banjo oder Gitarre). Doch schon im Swing verlor sich dieser vordergründig perkussive Charakter und das Melodiespiel gewann an Bedeutung, bis es schließlich im modernen Jazz dominierte. Dabei entstanden verschiedene Techniken und Spielweisen, z. B. Stridepiano (Willie Smith, 1897-1973), die von dem Bigband-Satz übernommenen Block-Chords (Milton Buckner, 1915-1977), der Trumpet-Piano-Style (Earl Hines, 1905-1983) u. a. Besondere Erwähnung verdienen die solistischen Jazzklavierstile, beginnend mit den Barrelhouse-Pianisten (Honky-Tonk) und den Vertretern des New-Orleans-Pianos, vor allem Jelly Roll Morton (1885-1941), der sich um eine pianistische Synthese von Ragtime und Blues bemühte. In Harlem waren es insbesondere James P. Johnson (1891-1955) und Fats Waller (1904-1943), die mit ihrem Klavierspiel nachfolgende Generationen beeinflussten. Chicago wurde zum Zentrum des aus der instrumentalen Blues-Begleitung hervorgegangenen Boogie-Woogie (Jimmy Yancey, 1894-1951; Clarence »Pine Top« Smith, 1904-1929; CowCow Davenport, 1894-1955; Meade »Lux« Lewis, 1905-1964). Dem traditionellen Jazz verbunden waren ferner Art Tatum (1909-1956), der durch sein sparsames, exakt platziertes Spiel berühmt gewordene Count Basie (1904-1984), Teddy Wilson (1912-1986) und Duke Ellington (1899-1974). Im modernen Jazz zeigte sich noch stärker die Individualität einzelner Solisten, so z. B. bei dem technisch brillanten Oscar Peterson (* 1925), dem für seine kontrapunktische, kammermusikalische Spielweise berühmten Lennie Tristano (1919-1978), dem durch seine melodieverschleppende rechte Hand unverkennbaren Errol Garner (1921-1977), dem um eine Synthese von artifizieller und populärer Musik bemühten Dave Brubeck (* 1920); weiterhin bei Thelonious Monk (1920-1982), John Lewis (1920-2001), Horace Silver (* 1928), Bill Evans (1929-1980), Cecil Taylor (* 1933), McCoy Tyner (* 1938) sowie bei den wohl erfolgreichsten Pianisten der Siebzigerjahre Keith Jarrett (* 1945), Chick Corea (* 1941) und Herbie Hancock (* 1940).
Das Klavier ist neben der Gitarre das beliebteste Begleitinstrument für Gesang in Kabarett, Varieté und anderen Bühnenformen populärer Musik. Während der Stummfilmzeit (Filmmusik) illustrierten Pianisten das Bildgeschehen. Vor dem Einsatz des elektronischen Instrumentariums war das Klavier (oft in Koppelung mit dem Akkordeon) das bevorzugte Instrument der Alleinunterhalter. In den kleinen Besetzungen, besonders in der Barmusik, bildete das Klavier melodisches, harmonisches und oft auch rhythmisches Zentrum (Piano-Direktion). Unzählig sind die Produktionen, in denen das Klavier als Soloinstrument fungiert, wobei sich der Bogen von großorchestralen Formen (George Gershwin, 1898-1937, »Rhapsody in Blue«, 1924; Richard Addinsell, 1904-1971, »Warschauer Konzert«, 1942) bis zu intimen, nostalgischen Stücken, vertreten durch den erfolgreichen Franzosen Richard Clayderman (* 1954), spannt.
Während im Rock 'n' Roll das Klavier mit charakteristischen Figuren zum Klangbild gehört, z. B. repräsentiert von Fats Domino (* 1928) mit seiner Rhythm-and-Blues-Spielweise oder dem exzentrischen Jerry Lee Lewis (* 1935), wurde es im Rock der Sechziger- und Siebzigerjahre durch die »Elektrifizierung« zurückgedrängt. Keith Emerson (* 1944) und Elton John (* 1947) nutzten dennoch (oder gerade wieder) den unnachahmbaren Klang des »akustischen« Klaviers. Der Einsatz des Klaviers im Ensemble der anderen Keyboardinstrumente findet sich bei Rick Wakeman (* 1949) auf seiner LP »The Six Wives of Henry VIII« (1973).
Universal-Lexikon. 2012.