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Ver|trei|bung 〈f. 20〉 das Vertreiben ● die \Vertreibung aus dem Paradies, aus einem Land
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Ver|trei|bung, die; -, -en:
das ↑ Vertreiben (1 a); das Vertriebenwerden:
die V. der Hugenotten aus Frankreich.
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Vertreibung,
die mit Drohung und/oder Gewalt bewirkte Ausweisung oder Zwangsumsiedlung von Personen oder Personengruppen (v. a. von Minderheiten) aus den Heimatgebieten, in der Regel über die Grenzen des vertreibenden Staates hinweg, aber auch innerhalb von Staatsterritorien wie im Falle von »ethnischen Säuberungen« in Vielvölkerstaaten. Die begrifflichen Grenzen zur Deportation oder Verschleppung sind fließend, weil bei beiden Vorgängen eine Zwangsumsiedlung stattfindet. Die Deportation erfolgt in der Regel innerhalb eines Herrschaftsbereichs (z. B. in der Sowjetunion unter Stalin), kann aber auch Grenzen überschreiten, wenn sie z. B. durch Besatzungstruppen zur Rekrutierung von Zwangsarbeitern durchgeführt wird.
Die Vertreibung eigener Staatsangehöriger verstößt gegen fundamentale Menschenrechte (v. a. dann, wenn sie mit dem Entzug von Staatsbürgerrechten verbunden ist), die grenzüberschreitende Vertreibung gegen das Völkerrecht, die Vertreibung der Zivilbevölkerung aus einem besetzten Gebiet, wenn sie nicht aus militärischen Gründen nur vorübergehend erfolgt, gegen Art. 49 des Genfer Abkommens vom 12. 8. 1949 (Genfer Vereinbarungen ).
In Deutschland wird Vertreibung häufig mit der Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches, östlich der Oder-Neiße-Linie, aus Polen, der Tschechoslowakei und Südosteuropa im Gefolge des Zweiten Weltkriegs (1945-47/48) assoziiert. Sie erfolgte mit Duldung der Siegermächte, aber im Gegensatz zu Art. 13 des Potsdamer Abkommens vom 2. 8. 1945 nicht in »geordneter und humaner Weise« (Vertriebene; bisher angegebene Opferzahlen von neuerer Forschung stark relativiert). Diese Vertreibung muss aber als Teilgeschehen der Weltgeschichte und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, der rund 50 Mio. Menschen aus ihren Heimatgebieten vertrieb und damit die bisher größte Vertreibung in der Weltgeschichte auslöste, begriffen werden.
Die ältesten historischen und literarischen Quellen berichten von Vertreibungen, beginnend mit der biblischen Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies. Die »Odyssee« Homers wurde zu einer literarischen Metapher. Das jüdische »Volk Gottes auf Wanderschaft« bildet geradezu den Archetypus für Vertreibung und Flucht, angefangen vom babylonischen Zwangsexil über die Zerstreuung im ganzen Römischen Reich, die Massenausweisung aus Spanien (1492), die Judenverfolgungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit im Heiligen Römischen Reich, die Vertreibung durch Pogrome in Russland (19. Jahrhundert) bis hin zum Holocaust (1933-45), der wiederum die Vorgeschichte zur Vertreibung der Palästinenser aus Israel bildete (1948/49; Nahostkonflikt).
Aussiedlung, Flucht, Verschleppung und Vertreibung gibt es in der Menschheitsgeschichte, seit sich soziale Gruppen in Gesellschaften organisierten, Herrschaftssysteme aufbauten und zerstörten, Kriege miteinander führten und fremde Territorien eroberten. Absolute Herrschaftsansprüche unter verschiedenen ideologischen Vorzeichen, religiöse Intoleranz, Kriege und Konkurrenzkämpfe um sich verringernde Ressourcen (Land, Wasser, Energie, Rohstoffe) waren immer begleitet von der Vertreibung konkurrierender Gruppen. Einheits- und Homogenitätsideologien bedrohten das Bleiberecht von ethnisch-kulturellen Minderheiten.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren durch Vertreibungen ausgelöste Massenzwangswanderungen noch schwerpunktmäßig auf Europa beziehungsweise Randeuropa konzentriert. Hier wurde der Nationalismus zur Sprengkraft von künstlich arrondierten Vielvölkerreichen wie der Donaumonarchie und dem Osmanischen Reich. Im Namen des Nationalstaates fand eine »nationale Flurbereinigung« durch Vertreibung von ethnischen Minderheiten statt. Die Pariser Vorortverträge (1919/20) führten den Begriff der »Umsiedlung« in das Völkerrecht ein. Richtungweisend war v. a. der Frieden von Lausanne (1923), der das Instrument der Zwangsumsiedlung vertraglich sanktionierte. Dieser blieb völkerrechtlich ebenso umstritten wie Art. 13 des Potsdamer Abkommens (1945), weil die Vertreibung von Minderheiten gegen völkerrechtliche Grundsätze verstößt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (1945) verlagerte sich der Schwerpunkt von Flucht und Vertreibung in die im Zuge der Entkolonialisierung entstehende Dritte Welt, bis der Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens in Europa eine neue Welle auslöste (1991-95). Zu den Hypotheken des Kolonialismus gehörten die Teilung von Staaten (z. B. Britisch-Indien, Pakistan, Palästina, Vietnam), zahlreiche Grenzkonflikte, Sezessionskriege und ethnische Konflikte innerhalb künstlich geschaffener Staatsgebilde, in deren Folge Millionen von Menschen aus ihren Heimatgebieten vertrieben wurden und weiterhin vertrieben werden. Linke und rechte Diktaturen entledigten sich in allen Weltregionen durch Repression und Vertreibung unliebsamer Opposition. Die zahlreichen Bürgerkriege in Afrika, Asien und Zentralamerika, die in Zeiten des Kalten Krieges durch externe Einmischung internationalisiert und durch Waffenlieferungen verschärft wurden, haben nicht nur eine wachsende Zahl von Flüchtlingen über Staatsgrenzen hinweg hervorgebracht, sondern mindestens ebenso viele Menschen durch Vertreibung aus den Heimatgebieten zu Vertriebenen (Displaced Persons) in den eigenen Staaten gemacht. Mit Hunger- und Umweltkatastrophen zeichnen sich neue Ursachen ab, die mehr Menschen inner- und zwischenstaatlich und sogar interkontinental vertreiben, als es bisher Kriege, ethnische Konflikte oder Diktaturen getan haben.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Deutsche · Flüchtlinge · Migration
L. Kühnhardt: Die Flüchtlingsfrage als Weltordnungsproblem (Wien 1984);
Vertreibung u. Exil, hg. v. T. Stammen (1987);
W. Trautmann: Tod u. Gewalt. Die V. als völkerrechtl., polit., eth., soziales u. geschichtl. Problem (1989);
F. Nuscheler: Internat. Migration - Flucht u. Asyl (1995).
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Ver|trei|bung, die; -, -en: 1. das Vertreiben (1 a): Die V. der Hugenotten aus Frankreich (Fraenkel, Staat 154). 2. (Kaufmannsspr. selten) ↑Vertrieb (1).
Universal-Lexikon. 2012.