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soziale Frage
I
soziale Frage,
 
schlagwortartige, im 19. Jahrhundert geprägte Bezeichnung im weiteren Sinn für tief greifende Strukturmängel der Gesellschaft, bei benachteiligten Schichten Ursache politischer Unzufriedenheit, auslösendes Element reformerischer oder revolutionärer Aktivitäten; im engeren Sinn die sozioökonomische Lage der Arbeiterschaft, die sich im 19. Jahrhundert im Zuge der industriellen Revolution herausbildete. Der Umbruch von der feudalen Agrargesellschaft zur kapitalistisch bestimmten Industriegesellschaft, die Auflösung der traditionellen patriarchalischen Ordnungen, die auch die soziale Sicherung durch Großfamilie und Grundherrn beendete, sowie der Niedergang der Agrar- und Zunftverfassung führten zu krassen sozialen Missständen. Die soziale Situation verschärfte sich durch Bevölkerungsexplosion und Landflucht, die das Angebot an Arbeitskräften vermehrten; dies wiederum drückte die Löhne und führte zur Ausnutzung der billigeren Frauen- und Kinderarbeit, sodass nur durch die Tätigkeit mehrerer Personen einer Familie das Existenzminimum erarbeitet werden konnte. Die Folge waren Armut, mangelhafte Wohnverhältnisse, fehlende Ausbildung sowie physische und psychische Schäden der Arbeiter. Das aufgeklärte, liberale Bürgertum sah sich durch die Entstehung des Proletariats in seinem Selbstverständnis infrage gestellt und engagierte sich, zumal nach dem Entstehen einer v. a. am Marxismus orientierten Arbeiterbewegung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, bei der Beseitigung von Missständen. Erste staatliche Maßnahmen gegen die Verelendung erfolgten Anfang des 19. Jahrhunderts in Großbritannien, ab 1839 in Preußen. Das bürgerliche Engagement fand seinen Ausdruck z. B. in der Organisierung von Genossenschaften. Der Kathedersozialismus forderte im Gegensatz zum strengen Wirtschaftsliberalismus das Eingreifen des Staates in die Wirtschaft, um Klassengegensätze zu mildern und den sozialen Frieden zu fördern. Beginnend mit der Sozialpolitik Bismarcks, die ursprünglich Staat und Gesellschaft gegen die Forderungen der Sozialdemokratie immunisieren sollte, der politischen Gleichberechtigung der Arbeiterschaft durch Beseitigung des Dreiklassenwahlrechts, später durch den Ausbau eines Systems der sozialen Sicherung und zunehmenden materiellen Wohlstand wurde die soziale Frage weitgehend gelöst; jedoch sind neue soziale Fragen zum Aufgabenfeld der Politik geworden (Sozialstaat).
 
Literatur:
 
Moderne dt. Sozialgesch., hg. v. H.-U. Wehler (51976, Nachdr. 1981);
 G. Brakelmann: Die s. F. des 19. Jh. (71981).
II
soziale Frage
 
Mit den durch die rasche Industrialisierung verursachten gesellschaftlichen Veränderungen, die ganze Bevölkerungsschichten aus ihren jahrhundertealten Lebenskreisen und -bindungen herausrissen, entwurzelten und in Not und Armut stürzten, entstand auch die soziale Frage. Sie stellte die Diskrepanz zwischen wirtschaftlichem Aufschwung einerseits und den krassen sozialen Missständen andererseits fest und führte zu Überlegungen und Initiativen, wie den Missständen am wirkungsvollsten und schnellsten begegnet werden könnte.
 
In der Phase der beginnenden Industrialisierung waren durch den gleichzeitigen Rückgang des Handwerks Tausende von Handwerksgesellen arbeitslos geworden. Sie strömten in die Fabriken und Industriestädte ebenso wie die besitzlosen Landarbeiter und verarmten Kleinbauern, mit denen zusammen sie das Industrieproletariat bildeten. Ein Teufelskreis war entstanden durch Bevölkerungsexplosion und Landflucht, die das Arbeitskräfteangebot vermehrten, was wiederum die Löhne drückte und zur Ausnutzung der billigeren Frauen- und Kinderarbeit führte. Nur die Tätigkeit mehrerer Personen konnte einer Familie das Existenzminimum sichern. Hinzu kam für die junge deutsche Industrie der ausländische, v. a. britische Konkurrenzdruck, dessen sich die Industriellen durch rigorosen Lohndruck zu erwehren suchten. Die Arbeitszeiten lagen zwischen 12 und 14 Stunden, oft noch darüber. Sicherheitsmaßnahmen am Arbeitsplatz waren völlig ungenügend, die Unfallhäufigkeit war groß. Die Folge dieser Verhältnisse waren Armut, fehlende Ausbildung, psychische und physische Schäden der Arbeiter aufgrund der mangelhaften Arbeits- und Wohnverhältnisse; die aus dem Boden schießenden, kasernenartigen Arbeiterwohnunterkünfte waren äußerst dürftig, ja menschenunwürdig.
 
Der Tod des Ernährers, Krankheit, Arbeitsunfähigkeit durch Unfall, kurzfristige Kündigung, Arbeitslosigkeit bei konjunkturellen Schwankungen waren Ereignisse, die die Existenz ganzer Familien bedrohten. Hinzu kamen der Verlust der sozialen Bindungen und die Umstellung auf die kapitalistische Produktionsweise.
 
Versuche, diesen unhaltbaren Zuständen wirkungsvoll zu begegnen, kamen zuerst von einzelnen Persönlichkeiten, vor allem aus den Kirchen. Es kam zur Bildung kirchlicher Organisationen und Hilfswerke. Nach und nach wurde auch das Verbot der Kinderarbeit durchgesetzt. Auch einzelne Unternehmer suchten in patriarchalischer Manier die Probleme zu lösen; sie hatten den Wunsch, in ihren Werken einen festen Stamm von Arbeitern zu beschäftigen und strebten eine Art Treueverhältnis an. Unterstützungskassen bei Krankheit und Invalidität wurden eingerichtet, hier und da entstanden Werkswohnungen, Konsumanstalten und Kantinen.
 
Allmählich erwachten auch in der Arbeiterschaft Kräfte und Initiativen, diesen Zuständen zu begegnen. Handwerkerbünde und Arbeitervereine wurden gegründet, um zunächst im regionalen Bereich Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu erzielen. Sie sind die Anfänge der Arbeiterbewegung.

Universal-Lexikon. 2012.