So|zi|al|po|li|tik 〈f.; -; unz.〉 Gesamtheit der politischen Maßnahmen zur Wahrung der sozialen Gerechtigkeit
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So|zi|al|po|li|tik, die:
Planung u. Durchführung staatlicher Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Bevölkerung; Gesellschaftspolitik.
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Sozialpolitik,
Bezeichnung für institutionelle, politisch-prozessuale und inhaltliche Aspekte des sozialen (d. h. zweckhaft auf das Tun und Lassen anderer bezogenen) Handelns, das darauf gerichtet (oder daran beteiligt) ist, Konflikte über die Verteilung begehrter Güter und Werte in den Bereichen Arbeit und Soziales mit Anspruch auf gesamtgesellschaftliche Verbindlichkeit zu regeln, entweder durch öffentliche Sozialleistungen oder in Gestalt (überwiegend gesetzlich geregelter) Leistungen von Wohlfahrtsverbänden, Arbeitgebern oder privaten Haushalten.
Zu den weithin anerkannten Zielen der Sozialpolitik im weiteren Sinn gehören in den Industrieländern besonders Wahrung und Mehrung von Sicherheit und (Chancen-)Gleichheit durch Eingriffe in die Verteilung von Lebenschancen v. a. in den Bereichen Einkommen, Gesundheit, Wohnung und Bildung. Insbesondere in der Sozialpolitik Deutschlands kommen Kooperation und institutionalisierte Konfliktregelung durch Gestaltung des kollektiven Arbeitsrechts hinzu. Die neuzeitliche Sozialpolitik hat ihren Ursprung im 19. und 20. Jahrhundert: Sie ist eine Reaktion auf Probleme, die sich durch Industrialisierung, Urbanisierung und Demokratisierung ergeben. (soziale Frage)
Die Sozialpolitik im engeren Sinn hingegen wird verstanden als die Politik der sozialen Sicherung gegen das Risiko des Einkommensausfalls oder unplanmäßiger Kostenbelastungen im Allgemeinen oder gegen die Risiken v. a. infolge von Alter, Arbeitslosigkeit, Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit, Unfall, Krankheit, Mutterschaft und Überlastungen familiärer Netze im Besonderen. Die Sozialpolitik im engeren Sinn blendet die politische Rahmensetzung im kollektiven Arbeitsrecht sowie den Arbeitsschutz aus und erfasst in der Regel auch nicht die Wohnungs-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik.
Umfang und Verständnis der Sozialpolitik
Nach Angaben des Internationalen Arbeitsamts (IAA) wurden in den entwickelten westlichen Ländern 1989 18,3 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) für öffentliche Sozialleistungen (im Sinne der enger definierten Sozialpolitik) ausgegeben. Legt man die breiter definierte Sozialpolitik im Sinne der gesamten Sozialausgaben nach OECD-Berechnungen zugrunde, so betragen die Sozialleistungsquoten (öffentliche Sozialausgaben zu Sozialprodukt) im Durchschnitt der westlichen Industrieländer 24,1 % des BIP. Bezogen auf die Sozialleistungsquote halten die nordischen Länder die Spitzenpositionen, deutlich vor den Beneluxstaaten, der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Die niedrigsten Sozialleistungsquoten hatten (1992) Japan (12,4 %), Portugal und die USA (15,6 %), Australien (16,4 %) und die Schweiz (20,6 %). In der Schweiz ist die staatliche Sozialpolitik mit der betrieblichen und der privaten Sozialpolitik besonders eng vernetzt, woraus sich (im Unterschied zum »Wohlfahrtsstaat«) eine »Wohlfahrtsgesellschaft« auf hohem Niveau entwickelt hat. In osteuropäischen Ländern lagen die Sozialleistungsquoten gemäß IAA Ende der 80er-Jahre rd. ein Fünftel unter den durchschnittlichen Sozialausgabenquoten der westlichen Staaten, in Lateinamerika schwankten sie 1989 zwischen 1 und 16 %, und in Entwicklungsländern betrugen sie zu diesem Zeitpunkt in der Regel weniger als 7 % des Sozialproduktes. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch unter dem Gesichtspunkt von Wählerstimmen ist die Sozialpolitik in den meisten westlichen Industrieländern ein Machtfaktor ersten Ranges geworden, wie auch Untersuchungen der ökonomischen Theorie der Politik (politische Ökonomie) zeigten. In Staaten mit ausgebautem Netz sozialer Sicherung bestreiten rd. ein Drittel aller Wahlberechtigten ihren Lebensunterhalt vorrangig aus Sozialleistungen oder aus Entgelt für Beschäftigung im Sozialsektor.
Die Sozialpolitik wird seit Anbeginn kontrovers beurteilt. Ihre Grundlegung im Deutschen Reich von 1871 galt ihren Konstrukteuren als »Zuckerbrot« des monarch. Staates für die Arbeiter - zum Ausgleich für die »Peitsche« in Gestalt des Sozialistengesetzes. Andere sehen in der Sozialpolitik den Einbau eines sozialistischen Prinzips in die Marktwirtschaft. Der Sozialpolitik wird v. a. von der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und liberalen Denkern vorgehalten, sie setze Gleichheit an die Stelle von Prosperität und Zuteilung an die Stelle von Erwerbschancen; sie vermindere wegen der Kostenbelastung durch Sozialabgaben den Anreiz zu investieren sowie das Volumen der Arbeitsnachfrage, sie untergrabe die Bereitschaft zu sparen, reduziere aufgrund der Bereitstellung alternativer Einkommen (Sozialleistungen) den Zwang und den Anreiz zu arbeiten und unterminiere die Wettbewerbsfähigkeit einzelner Branchen - im Extremfall der Wirtschaft insgesamt - gerade im Wettbewerb mit Nationen mit geringem Sozialstaatsniveau. Dieser Überlastungsthese steht die These v. a. von Vertretern international vergleichender Sozialpolitikforschung entgegen, dass Sozialpolitik als betriebliche und gesamtwirtschaftliche Produktivkraft (Modernisierungszwang), konfliktdämpfende Institution und politisches Integrationsinstrument wirken kann. Überdies wird den Belegen, die für die Überlastungsthese angeführt werden - z. B. abnehmende wirtschaftspolitische Dynamik und Zunahme der Schattenwirtschaft - entgegengehalten, dass Staaten mit schwächer entwickelter Sozialpolitik keineswegs durchweg wirtschaftspolitisch erfolgreicher sind und dass ein ausgebauter Sozialstaat in der Regel ein höheres Maß an sozialem Frieden hervorbringt. Trotz kontroverser Beurteilung ist in den westlichen Industrieländern nach dem Zweiten Weltkrieg eine beachtliche Bereitschaft zum Konsens in der Sozialpolitik bei den politischen Großorganisationen (Verbänden und Parteien) zu verzeichnen. In politischer Hinsicht zählen v. a. sozialreformerisch orientierte Parteien, besonders Links- und Mitte-links-Parteien (v. a. sozialdemokratischen Parteien) und Mitte-rechts-Parteien (v. a. christdemokratische Parteien), in der Regel zu den Hauptstützen des Ausbaus und der Aufrechterhaltung umfangreicher sozialpolitischer Systeme. In Perioden wirtschaftlicher Krisen und angespannter Staatsfinanzen jedoch verfahren Mitte-rechts-Parteien in der Sozialpolitik tendenziell restriktiver als Mitte-links- oder Linksparteien.
Internationaler Vergleich
Obwohl Sozialpolitik mittlerweile ein Strukturmerkmal aller westlicher Industrieländer ist (wofür sich in der vergleichenden sozialwissenschaftlichen Forschung der Begriff »Wohlfahrtsstaaten« eingebürgert hat), unterscheiden sich diese Staaten nach Sozialleistungsniveau, Struktur der sozialen Sicherung und Gestaltung der Arbeitsordnung erheblich. Besonders hoch entwickelt, differenziert und von Mitbestimmung stark geprägt sind z. B. die von den Tarifparteien selbst organisierte Kooperation und die gesetzgeberische Gestaltung des kollektiven Arbeitsrechts in Deutschland und Österreich. In der Sozialpolitik im engeren Sinn lassen sich die Unterschiede zwischen den Staaten u. a. an der Dominanz des sozialen Sicherungsprinzips (»Staatsbürgerversorgung«, »Sozialversicherung«, »Fürsorge«) festmachen. Die neuere vergleichende Forschung unterscheidet die folgenden drei Typen oder »Regime« der Sozialpolitik in westlichen Ländern: 1) Das »sozialdemokratische Regime« (exemplarisch Schweden bis Ende der 1980er-Jahre) zeichnet sich aus durch primär staatliche Organisation der Sozialpolitik, umfassende Staatsbürgerversorgung mit hohem Leistungsniveau, Steuerfinanzierung, hohen Umverteilungsgehalt, Betonung sozialer Gleichheit und Minimierung von Statusunterschieden; seine politische Basis besteht v. a. aus einer in Gesellschaft und Staat lange Zeit dominierenden Sozialdemokratie und starken sozialreformerisch orientierten Gewerkschaften. 2) Im »konservativen (beziehungsweise zentristischen) Regime« der Sozialpolitik (charakteristisch für Deutschland, Österreich und mit größeren Einschränkungen für die Schweiz) gibt es neben der staatlichen auch verbandsmäßige, betriebliche und private Netze der Sozialpolitik; dominierendes Sicherungsprinzip ist die beitragsfinanzierte Sozialversicherung mit Ergänzungen durch Systeme auf der Basis von Versorgungs- und Fürsorgeprinzipien und in der Schweiz besonders durch eine starke betriebliche und private Vorsorgekomponente. Der Umverteilungsgehalt ist hier entschieden geringer, die Reproduktion von Statusunterschieden, wie sie aus dem Erwerbsleben erwachsen, jedoch stark. Die politische Basis dieses »Regimes« besteht in der Regel aus der dominierenden Position von Mitte- oder Mitte-rechts-Parteien in Staat und Gesellschaft, die in hartem Wettbewerb mit einer sozialdemokratischen Partei stehen. 3) Das »liberale Regime« schließlich (Beispiele: USA und die Sozialpolitik der meisten Industrieländer vor dem Zweiten Weltkrieg) ist durch lückenhafte staatliche Netze der sozialen Sicherung, großen Stellenwert nichtstaatlicher Träger, sozial selektive Sicherung nach Fürsorgeprinzip (dort aber mit erheblichem Umverteilungsgehalt), niedrige Sozialleistungen und Sozialleistungsquoten sowie insgesamt durch ein hohes Armutsrisiko charakterisiert. Die politische Basis des »liberalen Regimes« der Sozialpolitik ist eine Gesellschaft, in der marktorientierte Kräfte dominieren und in der sozialreformerischen Mitte- oder Linksparteien und Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft schwach sind.
Sofern in Entwicklungsländern und in den sich industrialisierenden Ländern (»Schwellenländer«) überhaupt in nennenswertem Umfang Sozialpolitik betrieben wird, bietet sie nur sehr lückenhaften Schutz; üblicherweise gilt dieser nur für wenige Risiken und in der Regel nur für Arbeitnehmergruppen in wirtschaftlich oder politisch strategischen Sektoren (z. B. Militär).
Internationale Sozialpolitik
Im Zuge der Internationalisierung der Wirtschaft und der Herausbildung internationaler und supranationaler Organisationen hat sich eine internationale Sozialpolitik entwickelt, wenngleich mit erheblicher Verzögerung und geringem Leistungsvermögen relativ zu den durch weltweite Interdependenzen gegebenen Problemen, wie z. B. Unterschiede zwischen armen und reichen Ländern und daraus folgenden Süd-Nord- und Ost-West-Migrationen. Sie basiert auf 1) der Aufnahme sozialpolitischer Thematik durch internationale und supranationale Organisationen (z. B. Art. 55 der UN-Charta von 1945, die Satzung des Europarates von 1949 und sozialpolitischen Verpflichtungen in den Verträgen der EG) und 2) dem sozialpolitischen Einwirken internationaler und supranationaler Organisationen auf Mitgliedsstaaten, wie z. B. die sozialpolitischen Verpflichtungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der UNO (1948), des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der UNO (1966) sowie die Sozialpolitik des Europarates auf der Basis der Europäischen Sozialcharta (1961) und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, die von den Staats- und Regierungschefs der EG-Staaten 1989 angenommen wurde.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Arbeitslosenversicherung · Armut · betriebliche Altersversorgung · Einkommensverteilung · Krankenversicherung · Pflegebedürftigkeit · Rentenversicherung · Selbsthilfe · Sozialhilfe · Sozialstaat · Sozialversicherung · Unfallversicherung
Growth to limits. The Western European welfare states since World War II, hg. v. P. Flora, auf 4 Bde. ber. (Berlin 1986 ff.);
B. Molitor: Theorie der S., 2 Bde. (1987-88);
Hb. S., hg. v. B. von Maydell u. a. (1988);
A. Murswieck: S. in den USA. Eine Einf. (1988);
Manfred G. Schmidt: S. Histor. Entwicklung u. internat. Vergleich (1988);
S. u. soziale Lage in der Bundesrep. Dtl., Beitrr. v. G. Bäcker u. a., 2 Bde. (21989);
Der wirtschaftl. Wert der S., hg. v. G. Vobruba (1989);
V. Hentschel: Gesch. der dt. S. (1880-1980). Soziale Sicherung u. kollektives Arbeitsrecht (Neudr. 1991);
Staatslex., hg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 5 (Neuausg. 1995);
H. Lampert: Lb. der S. (41996);
Josef Schmid: Wohlfahrtsstaaten im Vergleich (1996);
K. van Kersbergen: Social capitalism. A study of Christian democracy and the welfare state (Neudr. London 1997);
Übersicht über das Sozialrecht, hg. v. Bundesministerium für Arbeit u. Sozialordnung, Referat Öffentlichkeitsarbeit (41997);
M. Bellermann: S. Eine Einf.. .. (31998);
Ökonom. Theorie der S., hg. v. E. Knappe (1998).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Sozialpolitik: Grundlagen
Sozialpolitik: Soziale Sicherung
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So|zi|al|po|li|tik, die: Planung u. Durchführung staatlicher Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Verhältnisse der Bevölkerung; Gesellschaftspolitik.
Universal-Lexikon. 2012.